1. Kapitel - von Klettern und geschlossenen Türen
Schwungvoll drehte sich der Beamte zu ihr um und bedeutete ihr, sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu setzen.
„So, miss, zuerst einmal, wollen Sie mir ihren Namen verraten?", fragte der Beamte, Charles Wright, sie.
Nach kurzem Schweigen gab sie auf. Es würde sowieso nichts bringen, ihm seien Frage nicht zu beantworten. Spätestens wenn ihre Mutter bei Entdeckung ihrer Abwesenheit durch ebendiese Tür der ‚bow street runner' gefegt kam, wusste er ich sowieso.
„Phoebe Wilton, sir.", antwortete sie höflich.
„Nun denn, miss Wilton, wollen Sie mir nicht verraten, was sie dazu veranlasst hat, in dieser dunklen Gasse beinahe von einem Serienmörder ermordet zu werden?", fragte er sie und sein linker Mundwinkel zuckte verräterisch. Phoebe hingegen fand seine Frage überhaupt nicht witzig und ballte ihre Hände unter dem Tisch zu Fäusten.
„Nun, sir, ich war auf dem Weg zum ‚schwarzen Raben', als ich ein seltsames Geräusch aus eben dieser Gasse vernahm. Die Neugierde brachte mich dazu, nachzuschauen, woher das Geräusch stammte. So bin ich dann auf die beiden Männer gestossen. Der Mörder war gerade im Begriff, den anderen zu erstechen. Er hat mich natürlich bemerkt, konnte laut seiner eigenen Aussage keine Zeugen gebrauchen und hatte bereits sein Messer gezückt. Aber dann sind ja Sie gekommen, nicht wahr, sir?, meinte sie immer noch erschüttert von den Vorfällen dieser Nacht und warf dem Beamten einen finsteren Blick zu, als dieser es wagte zu lachen.
„Was ist so lustig?", fragte sie giftig, als sie sein Lachen schliesslich nicht mehr aushielt, und schaute ihn auffordernd an. Sofort wurde er wieder ernst und richtete sich auf.
„Verzeihen Sie, aber nicht viele wären überhaupt in die Gasse getreten, aus der komische Geräusche drangen. Viele hätten Reissaus genommen, bevor man überhaupt auf drei hätte zählen können. Dieses Viertel Londons ist berühmt-berüchtigt für die ‚Geräusche' aus den Gassen.", meinte er und schon wieder zuckte sein Mundwinkel. Phoebe verdrehte genervt die Augen.
„Brauchen Sie noch etwas von mir?", fragte sie ungeduldig. „Falls nicht, so würde ich jetzt gerne nach Hause gehen und schlafen, das tun normale Menschen für gewöhnlich zu dieser Uhrzeit, sir.", meinte sie ein wenig schnippisch.
Charles Wright hatte seine Miene mittlerweile wieder im Griff und erhob sich in einer fliessenden Bewegung.
„Natürlich, miss. Gestatten Sie, Sie nach Hause zu geleiten?", fragte er, während er sich galant verbeugte und sie charmant anlächelte.
„Nein", war Phoebe's einsilbige Antwort, während sie bereits zur Tür lief. Bevor sie jedoch aus dem raum treten konnte, hatte Charles sie eingeholt und öffnete ihr zuvorkommend die Tür.
„Ich hatte mir schon gedacht, dass sie mir so antworten, aber eigentlich hatten Sie gar keine Wahl. Ich kann doch nicht zulassen, dass Sie ein zweites Mal in einen Serienmörder laufen, nicht wahr?", meinte er und zwinkerte ihr verschmitzt zu.
Phoebe schnaubte genervt, aber insgeheim war sie doch froh, dass er mitkam. So ungern sie es auch zugab, aber jetzt alleine nach Hause zu laufen, dabei wäre ihr überhaupt nicht wohl. Gespielt widerwillig hakte sie sich beim Beamten ein und zog ihre Mütze tiefer in ihr Gesicht. Zusammen traten sie auf die dunkle Strasse und eine Weile lang sagte keiner etwas. Charles sah sie abwartend an und sie starrte verwirrt zurück.
Schliesslich meinte Charles: „Nun, miss Wilton, Sie müssen mir schon verraten, wo unser Ziel liegt, sonst kann ich Sie ja wohl kaum sicher dort hingeleiten.", meinte er verschmitzt und ihr Kopf lief vor Scham rot an.
Das schaffe doch wieder einmal nur ich, dachte sie sich, während sie sich innerlich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlug.
„Charing Cross Road", murmelte sie schliesslich leise, aber Charles hatte trotzdem verstanden. Schweigend liefen sie durch die Gassen und Strassen Londons, während jeder seinen eigenen Gedanken nachhing.
„Was haben eigentlich Sie zu so später Stunde in dieser Gasse gemacht?", fragte Phoebe plötzlich in die Stille hinein und Charles sah sie überrascht an. Er räusperte sich.
„Ich bin der Kopf der ‚bow street runner'. Ich bin immer unterwegs.", meinte er und Phoebe sah ihn abwartend an.
„Eigentlich war es nur Zufall, dass ich diese Gasse genommen habe, normalerweise nehme ich immer eine Abkürzung.", fügte er nach einem kurzen Zögern an und wieder waren nur ihre Schritte auf dem Pflasterstein zu hören.
„Ich bin froh, dass Sie es getan haben.", meinte Phoebe plötzlich leise und blieb mitten auf der Strasse stehen.
„Ich bin Phoebe.", sagte sie und streckte Charles ihre Hand hin. Charles zögerte kurz, dann nahm er sie und antwortete, „Ich bin Charles."
Ein Lächeln schlich sich auf beide ihrer Gesichter und sie setzten ihren Weg schweigend fort.
Am Ziel angekommen huschte Phoebe sofort auf die Tür ihres Hauses zu und versuchte sie aufzustossen, aber sie war zu. Niet- und nagelfest zu.
„Verdammt, verdammt, verdammt!", fluchte sie leise und lief vor der Tür auf und ab.
„Damen fluchen nicht.", meinte Charles tadelnd, jedoch mit neckendem Unterton.
„Damen befinden sich auch nicht mitten in der Nacht vor geschlossenen Türen und dürfen die Nacht draussen verbringen.", feuerte Phoebe zurück.
Charles hob beschwichtigend die Hände. „Ist das dein Fenster dort oben?", fragte er plötzlich und deutete mit dem Finger auf ein Fenster im ersten Stock. Phoebe atmete erleichtert aus. Glücklicherweise hatte sie ihr Fenster aufgelassen. Jetzt war nur noch die Frage, wie sie dort hochkam.
„Steig auf meine Schultern", meinte Charles sofort, als er ihren nachdenklichen Blick sah und fügte bei ihrem entgeisterten Blick hinzu, „Anders kommst du nicht rein und ausserdem trägst du Hosen. Ich sehe schon nichts."
Bei seinem letzten Satz schmunzelte er und Phoebe bedachte ihn mit einem finsteren Blick, doch sie musste ihm Recht geben. Viele Möglichkeiten hatte sie nicht. Seufzend näherte sie sich ihm und stieg zögerlich auf seinen Rücken, während er noch ein paar Schritte auf die Hauswand zuging, sodass sie sich daran abstützen konnte. Als sie schliesslich völlig aufgerichtete auf seinen Schultern stand, konnte sie ihr Fensterbrett problemlos erreichen und schwang sich sofort hinein.
Einen Blick hinunterwerfend sah sie Charles immer noch untenstehen, den Kopf in den Nacken gelegt und zu ihr hochschauend.
„Schade, dass du keinen Rock getragen hast.", meinte er neckend und Phoebe starrte ihn mit einem Todesblick an.
Er hob jedoch nur zum Abschied die Hand und meinte: „Man sieht sich, Phoebe."
Ein wenig verdattert schaute sie ihm nach, bis er hinter der nächsten Häuserecke verschwunden war und liess sich dann völlig erschöpft in ihr Bett fallen.
Ein paar Begriffserklärungen.....
Bow street runner: eine Art Polizei, die von 1749-1839 in London existierte
Charing Cross Road: Strasse berühmt für Literatur und Bücher
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