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Es gelang mir kaum, das Lächeln zu verbergen, als ich Audra kurze Zeit später auf dem mit Laub bedeckten Bett meines Baumhauses ablegte. In ihrem Gesicht stand unverkennbar geschrieben, wie unangenehm es ihr war, sich von mir tragen zu lassen. Doch wir beide wussten, ihren Stolz schluckte sie noch aus einem ganz anderen Grund herunter. Vielleicht waren wir beide in ein Leben hinein geboren, in dem wir eine Rolle spielen mussten, die wir nicht waren.

Nachdem ich ihr halbherzig einige Stoffstreifen um den Knöchel gewickelt hatte, trat ich hinaus auf den angrenzenden Ausguck, der mich selbst in der Dämmerung bis zum Horizont blicken ließ. Dort nahm ich einen Eisenkessel von der Feuerstelle und überprüfte die Temperatur des Tees darin.

Zufrieden wandte ich mich um und hielt Audra kurz darauf eine dampfende Tasse vors Gesicht. Wie zuvor beobachtete sie auch jetzt jede meiner Bewegungen, als wäre sie in die Höhle des Löwen geraten. Doch selbst ein Blinder hätte von der unverhohlenen Neugier gewusst, die nach und nach das Misstrauen zurückdrängte.

,,Kräutertee. Der tut deinem Körper gut", erklärte ich. ,,Ich hoffe einfach mal, dir würden originellere Methoden einfallen, als mich mit Kräutergebräu zu vergiften."

,,Ich habe ihn vor ein paar Stunden selbst getrunken", erwiderte ich geduldig. ,,Außerdem lebe ich schon etwas länger hier und kenne mich ein bisschen mit Gewächsen aus."

Bedächtig legte sie die Hände um die Tasse, wobei ihre Finger – Odelles Finger – meine unauffällig berührten.

,,Und warum?" Sie nahm einen Schluck und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. ,,Ich meine, niemand lebt doch freiwillig im Wald."

Ich lächelte traurig. Meine Lippen schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben, als ich die nächsten Worte aussprach. "Mit der Zeit gewöhnt man sich dran. Mein Vater hat mir zudem nicht wirklich eine Wahl gelassen. Die Verbannung ist inzwischen..."

"...zehn Jahre her. Das haben mir Odelles Erinnerungen schon verraten. Nur sind mir die wirklichen Gründe immer ein Rätsel geblieben."

Mein Kiefer verspannte sich. In ihren Augen war ich zu unberechenbar, ein wildes Tier, das sie nicht kontrollieren konnten.

Es raschelte, als sie die Finger fest im Laub unter sich vergrub. Nicht nur du bist anders, hallte es in meinen Gedanken.

,,Erklär es mir. Wovor hat der Fürst solche Angst, dass er dafür seinen eigenen Sohn verstößt?"

Ich schluckte. Wie lange war es her, dass ich mich jemandem offenbart hatte, dass jemand in mir das Bedürfnis weckte, ihm meine Lebensgeschichte anzuvertrauen?

,,Man nennt mich Seelenbändiger. Ich erspüre die Seele jedes Menschen, der sich mir nähert und wenn ich ihn berühre... kann ich sie nach meinen Wünschen verändern. Es lässt sich kaum beschreiben, es ist, als würde man die Seiten eines Buches überschreiben, ohne dabei seinen eigentlichen Inhalt zu verändern." Ich verstummte, als Erkenntnis in Audras Blick trat.

,,Also, wann immer wir uns bis jetzt berührt haben, war ich ein offenes Buch für dich?" Blut stieg in ihre Wangen, was mich schmunzeln ließ.

,,Ja, so kann man es auch sagen. Außerdem offenbart mir jede Seele das Wesen ihres Besitzers. Odelle und du seid wie Feuer und Wasser."

Ihre Lider senkten sich erneut. ,,Dann hast du deine Schwester und deine Eltern das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen?"

,,Von Angesicht zu Angesicht ja. Manchmal erscheinen mir geisterhafte Versionen der Menschen, die an mich denken. Mehr ist mir von meiner Familie nicht geblieben."

,,Sind jetzt gerade irgendwelche Geister hier? Sie verdrehte den Kopf, als würde sie wirklich erwarten, andere Präsenzen unter der Decke schweben zu sehen."

,,Nein, das ist nach und nach weniger geworden. Früher als ich noch in der Stadt lebte, hat mich diese Gabe beinahe verrückt gemacht, bis ich irgendwann nicht mehr zwischen Vision und Wirklichkeit unterscheiden konnte. Für meinen Vater war das ein willkommener Grund, meine Verbannung zu rechtfertigen." Ein bitterer Geschmack stieg in mir hoch, als das wutverzerrte Gesicht des Fürsten vor mir erschien. Der Vater, den ich nie haben wollte. Ich hatte ihn lieben wollen, dass hatte ich jeden Tag aufs Neue versucht. Diese Liebe wurde nie erwidert. Wie auch, wenn meine Mutter die ihre wie auch die meines Vaters mit sich ins Grab genommen hatte? Aber In manchen Nächten lag ich wach und verfluchte mich selbst, dass ich so schwach war. Ich hatte mich mit dem Leben in den Wäldern angefreundet, doch was war mit Odelle? Litt sie noch unter der Unterdrückung unseres Vaters, ohne jeden Schutz, den ich ihr bieten konnte? Wo war sie jetzt, gefangen in dem Körper einer Fremden?

Gerade wollte ich den Mund öffnen, als Audra mir zuvorkam. ,,Deine Schwester ist schwanger, vielleicht solltest du das wissen."

Ein leichter Schwindel ergriff mich, als mir die Bedeutung hinter dieser Botschaft bewusstwurde.

,,Euer Vater ist rasend vor Wut geworden, als er es erfahren hat. Wahrscheinlich hatte er schon Heiratspläne für deine Schwester. Ich saß gerade im Garten, da ging er ohne Vorwarnung auf mich los. Ich habe noch nie jemanden so wütend erlebt, also bin ich geflohen."

Schulterzuckend hob sie die Arme und machte eine allumfassende Geste, als wollte sie sagen Und hier bin ich jetzt. Dieses geflüsterte Geständnis sorgte dafür, dass ich mich auf die Bettkante sinken ließ und in sie hineinhorchte. Nein, dort war keine zweite Seele in Odelles Körper, es musste also vor noch nicht allzu langer Zeit passiert sein.

,,Weißt du, wer der Vater ist?" Ihre zögerliche Stimme durchschnitt meine Gedanken.

Ich unterdrückte ein verächtliches Schnauben. ,,Nein, wenn du über Jahre abgeschnitten von der Außenwelt lebst, verlieren sich diese Beziehungen irgendwann." Ich klang verbittert, die Ruhe, die mich sonst Tag und Nacht begleitete, war verschwunden. Ich hasste meinen Vater, etwas, das ich ihm nie ins Gesicht gesagt hatte. Und nun rächte sich meine Schwäche. Wie viele Menschen sollten noch Leid durch diesen schrecklichen Menschen erfahren müssen?

Unwillkürlich fanden meine Finger die Kette an meinen Hals und fuhren die unebenen Konturen des Kreuzes daran nach. Würde meine Mutter bloß noch leben. Mit ihrem Tod schien alles Gute restlos aus meinem Vater gewichen zu sein.

,,Mein Vater war nicht immer so, musst du wissen, begann ich leise und hob den Blick. Audra forderte mich stumm auf, weiterzureden, ihre Augen groß und aufmerksam wie die eines Adlers. Als meine Mutter noch lebte, gab es diese Tage, an denen es sich anfühlte, als wären wir eine perfekte Familie. Selten zwar, aber es gab sie. Dann starb sie und außer dieser Kette ist mir nichts von ihr geblieben. Ich verstummte. Macht sollte nicht als Waffe verwendet werden, sie ist ein Geschenk, vergiss das nie. Worte, die meine Mutter im Sterben an mich gerichtete hatte und die sich jeden Tag aufs Neue als Wahrheit entpuppten. Seitdem lebt mein Vater nur noch für seinen Reichtum, egal woher das Geld kommt. Hauptsache es wird jedes Jahr mehr. Skrupellose Steuereintreibung hat es ihm dabei besonders angetan. Er ist ein Mann ohne Gewissen geworden."

Audra seufzte gedehnt und beinahe war ich mir sicher, dass sich das Leid in ihren Zügen auch auf meinem Gesicht spiegelte.

,,Dann scheinen unsere Väter einiges gemeinsam zu haben." Wie selbstverständlich streckte sie die Hand aus und berührte die Kette an meinem Hals. Sie betrachtete das Metall eingehend als könnte sich in ihm die Lösung aller Probleme verbergen. Erst als ihre Fingerspitzen meine nackte Haut berührten, klärte sich ihr Blick und sie wollte sich hastig zurückziehen. Einem plötzlichen Verlangen folgend, fing ich ihr Handgelenk ab und ließ meine Finger zwischen ihre gleiten. Sanft strich ich über ihre Knöchel, hielt den Blick jedoch gesenkt. Ihre Anwesenheit war wie ein Weckruf, der mich aufrüttelte. Ein Weckruf, der mich nach einem anderen Leben streben ließ.

,,Erzähl mir von deiner Familie", sagte ich leise.

Ihre Atmung beschleunigte sich. Sie schwieg lange, während ihr Blick nach draußen huschte, wo der Mond zwischen den Bäumen emporkletterte.

,,Seelenwandler. So nennen wir uns. Wir können den Körper anderer Menschen einnehmen und uns so in andere Leben schleichen. Die Informationen, die wir außerhalb unseres eigenen Körpers sammeln sind der Grund, warum meine Familie so mächtig ist."

,,Und der Fürst war das nächste Ziel?"

Sie nickte, schaute auf unsere verschränkten Hände hinab. ,,Odelle war das einfachste Ziel. Also musste ich mir nur noch ihr Verhalten einprägen und nachdem wir nahe genug an sie herankommen waren, um sie zu überwältigen, konnte ich durch eine Berührung in ihren Körper schlüpfen. Für die Zeit des Seelenwandels wird sie auf dem Anwesen meiner Familie festgehalten."

Aus ihren Worten sprach kein Triumph, kein Stolz. Es war das reine Pflichtgefühl, das sie zu diesen Taten bewegte.

Nun war ich es, der eine Hand hob und damit über ihre Wangenknochen fuhr.

,,Ist das das Leben, das du dir immer erträumt hast?" Ich kannte die Antwort, noch bevor die nächsten Worte ihre Lippen verließen.

,,Nein, genauso wenig wie das hier deines ist."

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