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Es glich einem Wunder, dass meine Kräfte mich nicht vollends verlassen hatten, als ich wenig später eine zierliche Gestalt im Wasser treiben sah. Die Arme und Beine schwebten wie die losen Glieder einer Marionette neben ihrem Körper, während etwas Rotes an ihrer Stirn aufblitzte. Ich verbannte jeden Zweifel aus mir, dann stürzte ich mich kopfüber ins kühle Nass. Es schlug wie ein eisiger Käfig über mir zusammen und trotz der milden Temperaturen, schien das Wasser kaum von der Wärme der Sonne berührt worden zu sein.
Ich tat einige kräftige Armzüge, jeder Nerv, jeder Muskel in mir auf Gefahr getrimmt. Die Strömung zerrte an mir, doch erst als ein brauner Haarschopf vor mir auftauchte, verringerte ich meine Anstrengungen. Erneut tauchte ich unter, umschlang mit einem Arm die Hüfte des Mädchens und bettete ihren Körper so auf meiner Schulter, dass sie atmen konnte. Bitte sei am Leben, flehte ich still. Bei all der Hektik schaffte ich es nicht, mich auf ein Lebenszeichen ihrer Seele zu konzentrieren.
Nachdem ich die Wasseroberfläche wieder durchbrochen hatte, gab es kein Halten mehr. Mit letzter Energie hievte ich das Mädchen die Böschung hinauf und legte sie sanft auf die Wiese. Schwer atmend drehte ich sie, damit das Wasser aus ihrem Mund laufen konnte und legte zwei Finger seitlich an ihren Hals. Erleichtert stieß ich die Luft aus. Ein Puls, schwach, aber er war da. Vorsichtig strich ich ihr die schweren Haarsträhnen aus der Stirn. Meine Hand verharrte mitten in der Bewegung, als ich mein Spiegelbild in diesen großen, smaragdgrünen Augen erblickte. Augen, mit einer Intensität beschenkt, die nur einem Menschen gehören konnten: Meiner Schwester.
Im selben Moment blinzelten sie und eine Welle des Hustens brach über ihren Körper herein.
,,Odelle!" Ohne dass mein Innerstes zu realisieren schien, wen ich da vor mir hatte, half ich ihr, sich aufzusetzen und wartete ungeduldig, bis sie sich beruhigt hatte. Ich konnte mich nicht beherrschen und strich sorgenvoll über die Platzwunde an ihrer Schläfe. Erst als sie wie ein verschrecktes Tier vor mir zurückwich, ließ ich die Hand sinken. Ein weiterer Blick in ihr gerötetes Gesicht ließ mein Herz stolpern. Misstrauen spiegelte sich in ihrer Iris, gepaart mit Angst und Verwirrung. Als wäre ich ein Fremder.
Für wenige Sekunden schien ich bis in die tiefsten Abgründe ihrer Seele blicken zu können. Das Mädchen in der Gestalt meiner Schwester war verletzt worden und das nicht rein körperlich. Nichts von der kindlichen Naivität, die Odelle angehaftet hatte, fand ich in ihr wieder. Dann verschloss sich die Fremde vor mir, presste die Lippen aufeinander und richtete ihre Aufmerksamkeit auf etwas in meinem Rücken. Ich hörte die raschelnden Pfoten im Gras, noch bevor ich den eindrucksvollen, silbergrauen Hund sah, der vielmehr einem Wolf ähnelte. Mein noch geschwächter Körper protestierte, als ich ihn ein weiteres Mal anspannte. Doch der Hund senkte nur demütig den Kopf und vergrub die Schnauze in der Halsbeuge des Mädchens.
,,Wer...bist du?" Ich rückte ein Stück von ihr ab, spürte meinen Körper beben, ob vor Anspannung oder dem unwirklichen Anblick, der sich mir bot, wusste ich nicht.
Sie sah mich einige Sekunden lang stillschweigend an, die Wange geborgen im grauen Fell ihres Begleiters. Plötzliche Erkenntnis trat in ihren Blick, das Pulsieren ihrer Seele hallte in meiner eigenen Brust wider. ,,Das fragst du deine eigene Schwester? Sicher, dass es dir gut geht?", fragte sie.
Ich schüttelte langsam den Kopf. ,,Du kannst aufhören, dich zu verstellen. Ich erkenne die echte Odelle, wenn sie vor mir sitzt."
Sie verengte die Augen zu Schlitzen. ,,Dann erklär mir doch bitte, wer ich deiner Meinung nach sonst sein sollte."
,,Du..." Der Satz verlor sich in meinen fieberhaften Überlegungen. Obwohl diese Welt Magie in sich barg, glaubte ich weder an Doppelgänger noch an Zufälle. Sie griff in die Mähne des Wolfshundes und reckte ihr Kinn in die Höhe. Dieses Mädchen hasste es, Schwäche zu zeigen. Kurz schien sie geneigt zu sein, aufzustehen, doch dann erinnerte sie sich an ihre Kopfverletzung und verharrte reglos auf dem Boden.
,,Die Wunde muss versorgt werden. Lass mich dir helfen."
Leicht schüttelte sie den Kopf. Ihre Seele strahlte ein immer hektischeres Echo ab. ,,Danke, aber du hast schon genug für mich getan. Ich werde nach Hause gehen."
Ich sammelte den Rest meiner Konzentration in mir und kehrte sie nach innen. Mein Brustkorb hob und senkte sich wieder gleichmäßiger und fast augenblicklich geschah dies auch bei der Fremden. Man nannte mich nicht zu Unrecht den Seelenbändiger.
,,Und wo ist dieses Zuhause? Ich wäre ein Narr, wenn ich dich gehen ließe, ohne zu wissen, was du mit meiner Schwester gemacht hast." Für einen kurzen Moment schien ihre harte Maske zu bröckeln und eine neue Regung schlich sich in ihre Züge. Schuld? Angst? Doch dann war es wieder die Wut, die die Oberhand gewann.
,,Glaub ja nicht, du kannst mich gegen meinen Willen hier festhalten. Das hat dein Vater und sein ganzes Pack aus Perverslingen schon versucht und sie sind gnadenlos gescheitert."
Ihre Worte bohrten sich wie spitze Nadeln in meinen Verstand. Zumindest die Abneigung gegen meinen Vater schien uns beide zu verbinden.
,,Was hat er dir angetan?"
Sie schnaubte verächtlich und begann, sich langsam aufzurichten. Es sah so aus, als wäre dieses Mädchen mit besonders viel Temperament beschenkt.
,,Du wirst dich verlaufen, wenn du nicht vorher von deinem Blutverlust ohnmächtig wirst", warnte ich sie. Sie ignorierte meine Worte und schlang haltsuchend einen Arm um den Wolfshund. Selbst in den tiefsten Wäldern würde ich sie wieder und wieder aufspüren, doch aus irgendeinem Grund wollte ich, dass sie mir vertraute. ,,Willst du denn gar nicht wissen, wie ich erkannt habe, dass du lügst? Du bist nämlich nicht die Einzige, die etwas zu verbergen hat."
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