11
Seine Hand war größer als meine. Dennoch fühlte sich sein Griff nicht grob an. Im Gegenteil: Cassiel hielt mich die ganze Nachtwanderung über fest – seine Hand ganz warm – und wenn ich mir eine Sache hätte wünschen können, dann dass diese Nacht niemals enden würde. Trotz allem war mir sehr wohl bewusst, dass es keine Gewissheit gab, ob ich ihn nach diesem Tag jemals wiedersehen würde. Er war verbannt worden, seine Schwester weggelaufen und ich war die Hochverräterin, die ihren Vater, den Fürsten, bespitzelt hatte. Insgesamt betrachtet standen höchstens Odelles Chancen gar nicht so schlecht. Immerhin wollte der Fürst sie noch verheiraten. Doch sowohl für mich als auch für Cassiel wäre der Kerker wohl das geringste Übel. Das bedeutete, wenn wir es nicht schafften, zuvor seinen Fängen zu entrinnen.
Einerseits war es ziemlich dumm, noch einmal in die Höhle des Löwen zu gehen. Andererseits konnte ich verstehen, warum die beiden Geschwister diese Sache auch für sich selbst zu einem Abschluss bringen mussten. Selbst wenn es ihren Vater vermutlich nicht ändern würde, machte es dennoch einen Unterschied, ob sie ihm ihre Ansichten unterbreiteten oder nicht. Es blieb nur zu hoffen, dass wir anschließend ohne Probleme aus seiner Gewalt entkommen würden. So, wie ich Odelles Vater kennengelernt hatte, würde das trotz der doch nicht zu verachtenden Kampfkraft unserer kleinen Gruppe eine ziemliche Herausforderung werden.
Wir waren die ganze Nacht über gelaufen und wegen der Dunkelheit nicht sonderlich gut voran gekommen. Die Reise zum Schloss hatte länger gedauert, als erwartet. Meine Füße taten von der langen Wanderung schon ganz weh, als wir über einigen hohen Tannen in der Ferne die Spitzdächer des Schlosses erkannten. Die ersten Ausläufer der leicht rötlichen Morgendämmerung waren zu erkennen, als Odelle vor uns langsamer wurde und schließlich abgewandt von uns stehen blieb.
Verwundert blieben wir hinter ihr stehen und auch Connell und Banu, die unsere kleine Gruppe anführten, stoppten und schauten überrascht zu ihr. Sie atmete tief durch. ,,Es fühlt sich ziemlich seltsam an, wenn ich an die Zeit zurückdenke, als du noch in meinem Körper warst." Langsam wandte sie sich um und obwohl ich sie wegen der Dunkelheit kaum erkennen konnte, spürte ich, dass Odelle mich ansah. ,,Als hätte ich mich für eine Zeit lang in meinen eigenen Bruder verliebt. Dabei weiß ich ja, dass das eigentlich du warst."
Mein Körper verspannte sich und Cassiel strich mir beruhigend über den Handrücken. Dann war das wohl der Augenblick, in dem mich die Tatsache einholte, dass ich beim Rückwechsel all meine
Konzentration darauf verwendet hatte, ihn nicht zu vergessen. Dabei muss ich vollkommen missachtet haben, meine Spuren in Odelles Erinnerungen zu verwischen. Ich musste mir wohl eingestehen, dass mir noch nie alles andere so egal gewesen war, solange ich einfach bei Cassiel bleiben konnte.
,,Ich ", begann ich, doch dann versagte meine Stimme. Es gab keine Erklärung dafür und keine Worte, die alleine die Vorstellung weniger peinlich machen würden. ,,Vielleicht sehe ich das ganze Bild auch nicht", erklärte Odelle. ,,Immerhin erinnere ich mich nur an das, was du getan hast. Die Gefühle kann ich nicht mehr nachvollziehen. Aber du scheinst mehr als nur mutig zu sein. Mutig genug, dich gegen deinen Vater zu stellen und vor allem mutig genug wegzulaufen, als Vater seine Hand gegen mich erhoben hat. Dazu wäre ich niemals im Stande gewesen, selbst wenn er mich an Ort und Stelle totgeprügelt hätte. Du und " Sie wandte sich an ihren Bruder. ,, du auch, Cassiel. Ihr solltet nicht mitkommen, sonst werdet ihr nur getrennt."
,,Hör auf, so einen Unsinn zu erzählen!", rief Cassiel und ich zuckte beinahe zur Seite, weil mich das gerade von ihm so sehr überraschte. ,,Wir werden nicht getrennt und das schließt dich ein. Wenn er unsere Ansichten nicht akzeptiert – und das wird er nicht – dann nehmen wir dich mit. Dann fliehen wir alle gemeinsam vor dieser Welt."
Odelles Blick senkte sich. Ihre Hände wanderten langsam vor ihren Bauch. ,,Ihr beiden könnt das – ja. Doch mich halten noch andere Dinge in dieser Welt. Und ich spreche nicht nur von Verantwortungen: Du bist nicht der Einzige, der sich seit unserem Abschied verliebt hat." ,,Dann nehmen wir deinen Liebsten eben auch mit."
Ein bitteres Lächeln huschte über ihr Gesicht. ,,Das geht leider nicht. Er ist der König eines kleinen Reiches ganz weit im Norden. Er hat eine Verantwortung, vor der er nicht davonlaufen kann und ein Bündnis würde keinen Sinn machen, darum ist unsere Hochzeit eigentlich ausgeschlossen." Sie senkte den Kopf. ,,Wenn öffentlich bekannt wird, dass ich ein Kind von ihm erwarte, dann würde dadurch das gute Verhältnis unserer Länder miteinander zerrüttet werden."
,,Aber du wolltest es so, nicht wahr?", warf ich ein. ,,Das habe ich gespürt."
Odelle schwieg für einen Moment, atmete dann durch. ,,Wir sind beide im Herzen noch immer naive Kinder. Er sagte, dass wir mit einem Kind Tatsachen schaffen. Vater hätte dagegen nicht mehr argumentieren können und wäre gezwungen, mich freizugeben. Doch dieser Gedanke war dumm. Ich hätte wissen müssen, dass er so ausrastet, wie er es immer tut. Als Prinzessin muss ich nun die Verantwortung für meine Entscheidung übernehmen und sein Urteil als Fürst akzeptieren."
Gegen diese Ansicht konnte man nur schwer etwas einwenden. Sowohl mir als auch Cassiel fehlten die Worte. Sie wollte einfach so zu ihrem Vater zurückgehen und seine Entscheidung akzeptieren, egal wie verblendet sie war? Wieso wollte sie nicht kämpfen?
,,Wieso gehst du nicht einfach zu ihm und ihr heiratet ohne Vaters Wissen?" Cassiel trat einen Schritt auf sie zu, am Zittern seiner Hand spürte ich, wie sehr ihm die Entscheidung seiner Schwester schmerzte.
,,Irgendwie würde Vater es schon herausfinden und das könnte im schlimmsten Fall einen Krieg auslösen. So etwas kann ich nicht verantworten. Und mit euch kann ich auch nicht mitkommen. Ein Kind im Wald zur Welt zu bringen wäre unverantwortlich. Ich habe eine Entscheidung getroffen und nun muss ich mit den Konsequenzen leben."
Ich spürte, wie Cassiel etwas erwidern wollte, doch keine Worte verließen seinen Mund. Es blieb dabei. Odelle würde zu ihrem Vater zurückkehren, gleich wie er ihr gegenüber reagieren würde. Auf den letzten Metern bis zum Schloss herrschte ein betretenes Schweigen zwischen uns. Wir hatten ihr zwar noch ausreden können, dass wir sofort zu Cassiels Hütte im Wald zurückkehrten, aber dennoch fühlte es sich seltsam an. Wenn wir gleich fliehen müssten, war ich mir nicht sicher, ob wir Odelle einfach so zurücklassen konnten. Besonders um Cassiel sorgte ich mich. Er schien mit sich zu ringen, ihre Entscheidung zu akzeptieren oder sie einfach gegen ihren Willen über die Schulter zu werfen und mitzunehmen.
Wir kamen wenig später vor den Toren des Schlosses an. Nach einigen Diskussionen zwischen Odelle und den Wachen ließen sie unsere ungleiche Gruppe ein. Einzig Connell und Banu mussten im Innenhof warten – die zwei Hunde waren den Männern offensichtlich zu suspekt.
Als nächstes brachten Sie uns zum Thronsaal. In Odelles Körper hatte ich mich in den endlosen Korridoren immer wieder verlaufen. Ich musste ständig in ihrem Gedächtnis kramen, wie ich zu meinem Zimmer oder in die Bibliothek oder den Speisesaal kommen konnte. Dennoch war der Thronsaal nur schwer zu verfehlen, da man vom Haupteingang geradeaus auf ihn zulief.
Ein Diener öffnete uns die Tür. Ich hätte nie zugegeben, dass mein Herz mir in diesem Moment beinahe aus der Brust springen wollte. Das war ein Scheidepunkt, der über den weiteren Verlauf meines Lebens entscheiden würde. In dem Raum hatte sich seit meinem letzten Besuch in Odelles Körper nichts verändert. Der Kerzenschein reflektierte in den geölten, holvertäfelten Wänden; an der Decke prangten aufwändige Malereien und edler Stuck; am langen Ende des Raumes hohe, bleiverglaste Fenster. Auf dem Boden waren Holzdielen im Fischgrätenmuster angeordnet und die einzigen Möbelstücke waren der Thron des Fürsten, der seiner verstorbenen Frau, von Odelle und Cassiel. Einzig auf dem Thron in der Mitte saß oder vielmehr schlief alleine eine armselig anmutende Gestalt. Langsam machten wir einige Schritte auf sie zu.
In einigem Abstand blieben wir nebeneinander stehen. Es war der Fürst. In einer sehr unbequemen Position war er auf seinem Thron eingeschlafen. Während wir ihn noch betrachteten, trat Odelle einen Schritt nach vorne.
Sie schluckte. ,,Vater ?"
Keine Regung.
,,Vater?", rief sie lauter und er zuckte zusammen. Seine Augen öffneten sich langsam. Mit offenem Mund schaute er seine Tochter an, dann wanderte sein Blick zu Cassiel und mir.
,,Es sind einige Dinge passiert ", begann Odelle.
Langsam rappelte sich der Fürst auf, betrachtete seine Tochter ungläubig. ,,Odelle "
Ich spürte, wie Cassiel sich versteifte, als sein Vater einen Schritt auf sie zutrat. Doch zu unser aller Verwundern fiel er vor Odelle auf die Knie. Tränen stiegen in seine Augen. ,,Odelle!", rief er und schluchzte laut, begann, bitterlich zu weinen. ,,Es tut mir so leid!" Es war ein bizarrer Anblick. Der Mann, der mich in einem Wutanfall beinahe bewusstlos geprügelt hatte, lag mit dem Gesicht zu Odelles Füßen auf dem Boden, dass seine Stirn die Holzdielen berührte. Er sah miserabel aus. Hatte er die letzten Tage nur geweint? Neben seinem Thron erkannte ich, zahllose leere Weinflaschen.
,,Wir haben auf der Suche nach dir den ganzen Wald durchkämmt." Der Fürst schniefte. ,,Ich dachte schon, die wilden Tiere hätten dich gerissen oder du seist irgendeinen Abhang heruntergefallen."
,,Vater, ich " Odelle fehlten sichtlich die Worte. ,,Bist du denn gar nicht mehr sauer?"
,,Ach was ", er presste die Zähne aufeinander, atmete durch und richtete seinen Oberkörper langsam auf. Noch immer auf dem Boden kniend, schaute er auf. ,,Ihr solltet sauer auf mich sein. Du, dein Bruder und vor allem eure Mutter. Ich habe ihren Tod nie verkraftet und meine Wut an euch ausgelassen. Das ist unverzeihlich." Er wischte allmählich die Tränen weg. ,,Und ich Hornochse habe es erst gemerkt, als ich alleine hier saß und euch alle vergrault hatte. Ich könnte es verstehen, wenn du nun für immer verschwinden und bei dem Vater deines Kindes bleiben würdest. Das hätte ich nur verdient."
Odelle schaute ihn mit offenem Mund an. In ihrem Gesicht konnte man nahezu bildlich erkennen, wie die Worte, die sie sich zurechtgelegt hatte in tausende Scherben zerbrachen.
Der Fürst schaute auf in Cassiels Richtung. ,,Ist er das – dein Auserwählter?"
Alle Augen wanderten zu ihm und er lief rot an.
,,Nein!", rief er und wedelte mit den Händen. ,,Ich bin es, Vater – dein Sohn, Cassiel."
Nun war es das Gesicht des Fürsten, in dem Sprachlosigkeit zu erkennen war. ,,Cassiel?", fragte er und kam einige Schritte auf ihn zu, betrachtete ihn von oben bis unten und endete bei seinem Gesicht, hielt sich die Hand vor den Mund. ,,Es ist wahr. Du hattest immer ihre Augen!"
Der Fürst öffnete seine Arme, machte einen Schritt auf seinen Sohn zu, doch hielt ein, bevor er Cassiel erreichte. ,,Nein das wäre "
Noch bevor er den Satz vollenden konnte, hatte sein Sohn den letzten Schritt auf ihn zugemacht und ihn in eine Umarmung geschlossen. Auch Cassiels Stimme begann zu brechen. ,,Vater!"
Sie umarmten sich so lange, dass ich mich schon wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Gerade da schaute der Fürst aus der Umarmung heraus zu mir. ,,Aus dir ist ein richtiger Mann geworden! Dann ist diese bezaubernde junge Dame dort sicherlich deine Frau, nicht wahr?"
Mir wurde warm. ,,Nein!", rief Cassiel und schaute schlagartig zu mir. ,,Das ist sie ist meine äh, ich meine eine gute "
Seine Worte blieben unausgesprochen in der Luft stehen. So wirklich hatten wir noch gar nicht darüber gesprochen. Wie standen wir nun eigentlich zueinander? Wir waren schon mehr als einfache Freunde, doch offiziell zusammen war man doch erst, wenn man das auch gemeinsam ausgesprochen hatte, oder nicht? Momentan schwebten wir in irgendeinem undefinierbaren Raum dazwischen.
Ich schluckte. Warum machte ich mir überhaupt Gedanken darüber? Jetzt hätte er ohnehin nicht mehr aus meinen Fängen entkommen können. Ich trat einen Schritt nach vorne und knickste mehr schlecht als recht vor dem Fürsten. ,,Eure Majestät, ich bin Audra, die Lebensgefährtin eures Sohnes."
Der Fürst lächelte milde. Sein Blick wanderte schließlich nachdenklich über den Boden. ,,Ich denke, das Mindeste, das ich für euch tun kann, ist deine Verbannung zu revidieren." Er schaute auf zu Cassiel. ,,Dennoch habe ich nach allem nicht das Recht, dir die Thronfolge wieder aufzudrängen."
Sein Blick wanderte weiter zu Odelle. ,, und von dir zu verlangen, mir den Vater deines Kindes vorzustellen. Diese Rechte habe ich durch mein egoistisches Handeln wohl verwirkt."
Odelle machte einige Schritte auf uns zu. Sie lächelte. ,,Du kennst ihn doch bereits: Es ist König Rasmus."
Der Fürst erwiderte ein Nicken. ,,Dann habe ich eure Blicke damals wohl doch richtig gedeutet. In dem Fall werde ich mich wohl auf eine Menge langer Kutschfahrten einstellen müssen." Er wandte sich wieder an mich. ,,Du kommst hoffentlich aber nicht aus den hohen Ländern des Nordens."
Ich tauschte einen Blick mit Cassiel aus. ,,Das nicht, aber es gibt da noch eine andere Sache, die ihr wissen solltet. Ich kenne euch bereits und ihr kennt mich auch. Nur etwas anders, als ihr es im ersten Moment vielleicht erwarten würdet."
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