|Leere Tage oder Wunsch 4 - 8|
Malte|Wunsch 32, im Regen weinen.
Müde schob ich den Zettel auf meinen Nachttisch neben die Wasserflasche, wo schon die restlichen ihren Platz gefunden hatten.
Ich hatte jeden Tag ein Papierstückchen gezogen, weil es mir unerfindlicher Weise etwas Sicherheit gab. Auf diesem Wege konnte ich mir kläglich vormachen, dass es dieses Mal besser laufen würde.
Am Mittwoch hatte auf dem Zettel gestanden:
Wunsch 33, alle Feuermelder in der Klinik auslösen.
Diese Worten hatten mir ein winziges Lächeln auf die Lippen gelegt. Ein winzig Kleines.
Pünktlich hatte sich das Schicksal auf einmal in Form von Doktor-wie-auch-immer-er-hieß gemeldet.
Ich hatte ihn Hannes bereits anschreien hören, als dieser die Wohnungstür aufgeschlossen hatte.
"Ich will sofort eine Erklärung von Herrn Lüdemann. Und ich verlange, dass er unverzüglich in meinem Büro aufkreuzt. Lennart braucht eine konsequente Seelsorgestelle und wenn er nicht in der Lage ist mit Lennart umzugehen-"
Plötzlich waren doch wieder Tränen da. Ein Schluchzen stahl sich aus meiner Kehle. So laut, dass sogar Doktor-ohne-Namen es mitbekam. Betretene Stille herrschte am anderen Ende des Hörers.
Dann räusperte sich der Mann.
"Geht es...geht es ihm gut?", fragte er mit belegter Stimme.
Hannes setzte sich neben mich und zog meinen Kopf auf seinen Schoß. In dieser Position waren wir in den letzten vierundzwanzig Stunden oft verweilt. Ich drückte mein Gesicht in seinen Pulli und dämpfte damit jegliche Laute.
Er hasste mich.
Er hasste mich, das hatte er gesagt.
"Wie man hört, ist er nicht in besonders guter Verfassung", antwortete Hannes.
Er strich durch meine Haare und spielte mit einigen blond-braunen Strähnen.
"Verstehe. Kann man ihm denn irgendwie helfen?", erkundigte sich der Mann am anderen Ende der Leitung.
"Ich glaube es wäre am besten, wenn sie ihm die kleine Auszeit genehmigen und ihn danach alles in Ruhe erklären lassen", gab Hannes zurück.
"Na gut, wenn ihm das hilft. Aber ich möchte darauf hinweisen, dass er keine zu große Lücke zwischen den Therapiezeiten mit Lennart lassen sollte. Das wäre schlecht für die Bindung-"
"Auf Wiederhören."
Hannes beendete das Gespräch abrupt und schmiss das Handy neben sich auf die Bettdecke.
"Ach Malti", seufzte er.
Ich brummte leise.
"Manche Menschen sind einfach Arschlöcher."
Da hatte er verdammt recht. Aber wenn man dieses eine Arschloch nun einmal mochte, sehr mochte, war es kompliziert es als das anzusehen, was es war.
"Warum passiert mir das alles zweimal?", fragte ich leise.
Obwohl Hannes nicht wissen konnte, wovon ich sprach, stimmte er mir zu.
"Die Menschen, die unbedingt in der Zeit reisen wollen, sind gewissermaßen dumm. Sie vergessen, dass man den ganzen Schmerz, den man erlebt hat noch ein weiteres Mal spüren muss. Ich glaube das Raum-Zeit-Kontinuum will uns davor schützen es herausfinden zu müssen. Manche Dinge sollen eben nicht sein, Malte. Und vielleicht gehört die Sache mit Lennart dazu? Das Schicksal will dich vor Schmerzen bewahren."
"Vielleicht", murmelte ich.
Donnerstag hatte die Sonne geschienen. Ein sarkastischer Kontrast im Gegensatz zu meiner Stimmung.
Den Wunsch hatte ich morgens säuberlich neben den vom Vortag gelegt.
Wunsch 18, Pfannkuchen essen, wie in Kindertagen, mit übermäßig viel Ahornsirup.
Das Frühstück hatte ich an diesem Tag ausfallen lassen.
Ich hatte eine kurze E-Mail an Linus geschrieben und mich dann wieder ins Bett gelegt. Ich war erst wieder aufgewacht, als die Sonne bereits vollends aufgegangen war.
Fynn saß neben meinem Bett und lächelte mir freundlich zu.
"Ich habe heute etwas früher frei genommen. Alle in der WG machen sich Sorgen, weißt du?"
Ich blinzelte die Müdigkeit aus den Augen.
"Warum?", murmelte ich.
"Du kommst nicht aus deinem Zimmer, du isst kaum, du siehst- verzeih mir- schrecklich aus. Alles Gründe besorgt zu sein."
"Mir geht es gut", sagte ich matt.
"Ich weiß", sagte Fynn und grinste.
Ich seufzte.
"Warum bist du hier?"
"Um dir zu helfen."
"Ich brauche keine Hilfe, danke."
"Okay."
Eine Weile war es still. Schließlich sah ich ein, dass Fynn sich nicht wegbewegen würde.
Kapitulierend hob ich die Decke ein Stückchen an.
"Möchtest du da sitzen bleiben, oder willst du herkommen?", fragte ich.
Fynn lächelte. Dann schlüpfte er unter die Bettdecke und legte sich mir gegenüber, sodass wir uns ansahen.
Irgendwie war die Situation seltsam, aber ich fand sie merkwürdigerweise nicht lustig. Ich sah ihn an. Seine dunklen Augen spiegelten mein Gesicht.
"Irgendetwas Interessantes, über das es sich lohnt zu reden?", fragte ich und schloss die Augen.
"Möglich."
Ich öffnete meine Lider wieder und blickte in das Gesicht des Achtzehnjährigen mir gegenüber. Er kaute auf seiner Unterlippe herum.
"Geht das genauer?", erkundigte ich mich.
Fynn rümpfte die Nase.
"Sagen wir nur so viel: es gibt Menschen, die zwei Gesichter haben."
Im Kopf ging ich fast automatisch die Liste der psychischen Krankheiten durch.
Meine Gedanken blieben schließlich bei der Kategorie "Persönlichkeitsstörungen" hängen.
"Wer?", wollte ich wissen.
Fynn streckte seine Hand aus und klopfte mir spielerisch gegen den Kopf.
"Du solltest nicht so viel nachdenken, sonst zermarterst du dir noch das Hirn."
Doch in seinen Augen sah ich Traurigkeit aufblitzen.
Der Freitagszettel war einer der weit unten liegenden.
Wunsch 27, Zitronenlimonade trinken und währenddessen über das Leben philosophieren.
Auf Fynns Bitte hin quälte ich mich aus dem Bett und frühstückte zusammen mit den anderen.
Gin, Hannes und Fynn, die meinen Zustand kannten, reichten mir schweigend Brot, Butter und Marmelade und ließen unnötige Fragen aus.
Greenie und Liam musterten mich jedoch geschockt.
"Meine Güte, du siehst furchtbar aus. Möchtest du, dass ich heute zu Hause bleibe und dir eine Suppe mache? Oder einen Tee?"
"Ich denke nicht, dass Malte bemuttert werden muss", zischte Liam.
"Ach nein? Er ist krank, da kann er etwas Zuwendung bestimmt gebrauchen."
"Er ist nicht krank."
"Willst du ihm jetzt auch noch unterstellen, dass er so tut als ob?"
Liam sah mich prüfend an.
"Ich weiß es nicht genau, Malte. Aber ich glaube, dass es eher um die Liebe geht, oder?"
Schweigen breitete sich über dem Tisch aus. Konzentriert schnitt ich mein Brot in zwei Hälften und verteilte auf jedem Zentimeter der Scheibe Marmelade.
"Ist das wahr, Malte?", wollte Greenie besorgt wissen.
Ich sah sie nicht an. Mir war das ganze unangenehm. Ich wollte nicht darüber reden, nicht mit ihr. Sie war nicht meine Freundin und irgendwie fand ich sie komisch. In einer Sekunde war sie nett und fast euphorisch, in der nächsten herrschte die düsterste Stimmung, die ich je erlebt hatte.
Man könnte fast meinen, sie wäre manisch depressiv.
"Aber Malte, du kannst doch immer mit mir über so etwas reden."
Greenie nahm mein Gesicht in ihre Hände, legte sie an meine Wangen und zwang mich auf diesem Wege, sie anzusehen.
"Immer", betonte sie.
Schnellstens entriss ich mich ihrer Berührung, stand auf, stellte den Teller mit dem unangebissenen Brot in die Spüle und flüchtete dann in meine Wohnung.
Ich wusste Greenies Sorge zu schätzen, aber in diesem Moment war es mir zu viel gewesen. Zu viel von allem. Nicht nur von ihr, sondern auch von allen anderen. Fynn kam extra früher nach Hause um für mich da zu sein und Hannes übernachtete fast schon bei mir.
Dabei wollte ich ihre Zuwendung nicht. Nicht so und in diesem Maße. Mich zu trösten war in Ordnung, mich zu verstehen war zu viel.
Samstags wurde ich wach, als es dämmerte. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen und bemerkte dann die beiden Personen, die neben meinem Bett saßen.
"Hallo Malte", begrüßte mich Brooklyns Stimme.
Schlaftrunken grummelte ich.
"Willst du heute gar nicht mehr aufstehen?"
Hannes.
Ich schüttelte den Kopf.
Dann fiel mir ein, dass ich den heutigen Wunsch noch nicht gezogen hatte und ich fuhr in die Höhe.
Brooklyn und Hannes, die tatsächlich neben dem Bett saßen, zuckten zusammen.
Ich griff in die Glasbox und zog blind ein Papierstück heraus. Mit schnellen Fingern faltete ich es auseinander.
"Meinst du, dass dir das gut tut?", fragte Bambi besorgt und warf mir einen unschuldigen Blick zu.
Ich ignorierte ihn.
Wunsch 36, unter einer Diskokugel einen Wodka-Shot trinken.
"Was steht denn da?", quengelte Brooklyn und versuchte mir den Zettel zu entreißen.
Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
"Was machst du eigentlich hier in meinem Zimmer mitten in der Nacht?"
Brooklyn lachte.
"Erstens ist es fünf Uhr und damit Abend und zweitens wollte ich mich entschuldigen."
Ich runzelte die Stirn.
"Wofür?"
"Fällt dir gar nichts ein?"
"Ich habe im Moment andere Dinge zu tun, als zu überlegen."
"Verstehe."
"Also?"
"Das kleine Desaster in deinem Büro? Dienstag? Du weißt schon, als Lennart reinkam und ich-"
"Entschuldigung angenommen", unterbrach ich ihn hastig.
Brooklyn sah mich verdutzt an.
"Echt?", wollte er wissen.
Ich nickte.
"Solange du es in Zukunft bleiben lässt, ja", brummte ich.
"Was soll er bleiben lassen?", erkundigte sich Hannes neugierig.
Ich sah Brooklyn streng an und er hob die Hände.
"Ich schweige wie ein Grab, tut mir leid, Kleiner."
Er wuschelte Bambi-Hannes durch die Haare, der unzufrieden grummelte. Dann stand er auf und ging zur Tür.
"Bis morgen, ihr beiden", rief er noch, bevor ich die Haustür zuschlagen hörte.
"Morgen?", fragte ich unerfreut.
"Kommt er wieder her?"
Hannes schüttelte den Kopf.
"Nein, wir gehen feiern, das wird dir bestimmt gut tun."
"Bist du fertig?"
Hannes klopfte zum wiederholten Male an die Tür.
"Ja!", rief ich entnervt zurück.
Warum mussten sie so überzeugt sein, dass es mir gut tun würde mich in einem stickigen Clubraum zu tummeln und mich von idiotischen Betrunkenen überrennen zu lassen?
Ich könnte heute viel nützlichere Dinge machen. Zum Beispiel das, was auf Lennarts Wunschzettel stand. Gut, es regnete nicht, aber ich könnte mich ja unter die Dusche stellen, das wäre doch irgendwie das selbe.
"Malte!", rief Hannes ungeduldig.
"Ich komme", brüllte ich und stand wenige Sekunden später tatsächlich fertig angezogen vor ihm.
"Wunderbar, dann lass und runter gehen, Liam und Brooklyn warten bestimmt schon auf uns", sagte Hannes.
Er klang ehrlich fröhlich und ich wollte ihm seine gute Stimmung nicht vermiesen, also lächelte ich ein wenig und stieg rasch die Treppen hinunter zur Haustür.
Als ich diese öffnete, konnte ich schon Liams Wagen erkennen, der direkt vor der Tür geparkt hatte.
Ich öffnete die Beifahrertür und die lauten Töne von "Heavydirtysoul" dröhnten mir entgegen.
"Kannst du das Radio vielleicht etwas leiser machen?", schrie ich Liam an.
"Schon gut", erwiderte Liam und drehte den Lautstärkeregler herunter.
"Hast du immer noch schlechte Laune wegen Lennart, Malte?", fragte Brooklyn von der Rückbank.
Hannes hatte sich neben ihn gesetzt. Gemeinsam erinnerten sie mich an ein altes Ehepaar. An ein hartnäckiges Ehepaar, das sogar am Sonntag keine Mühen scheute, mich zu quälen.
Seufzend stieg ich ein, probierte jedoch meine Laune aufzubessern, indem ich mich auf die Radio Charts konzentrierte. Das Problem war nur, dass ich plötzlich hinter jedem eine tiefe Bedeutung entdeckte, die mir in irgendeiner Weise traurig vorkam.
Dementsprechend war auch meine Motivation, als wir am Gebäude des Clubs ankamen.
"Voilà, unsere heutige Location", verkündete Liam.
"Hübsch", kommentierte Brooklyn.
"Was sagst du, Malte?", wandte sich der Silberhaarige an mich.
"Hm", murmelte ich und stieg aus, um weiteren Gesprächen auszuweichen.
Das Haus war groß und modern. Es erinnerte mich an ein Hotel. Über dem Eingang hing ein buntes Schild mit der Aufschrift "Weekend Club".
Selbst wenn das Haus hübsch aussah, hatte ich keinerlei Lust zu feiern.
Im eigenen Selbstmitleid zu suhlen erschien mir viel sinnvoller.
Gerade als ich überlegte, ob die U-Bahn-Station zu weit weg wäre, um zu Fuß dorthin zu laufen, packte mich Hannes am Ärmel und zog mich zum Eingang.
Eine halbe Stunde später saßen wir zu viert an der Bar, tranken einen Cocktail und unterhielten uns, wobei ich relativ einsilbig blieb.
Ich musste zugeben, der Club war nett. Helle mit Bildern behangene Gänge führten in den Partyraum und eine weiße Treppe auf die weiträumige Dachterrasse, von der aus man einen wunderschönen Blick auf Berlin hatte.
Der Türsteher war freundlich gewesen, hatte Hannes durchgelassen, obwohl er ihm nicht abgenommen hatte, dass er schon volljährig war.
Das beleidigte Gesicht des Braunhaarigen brachte mich zum schmunzeln.
Meine Laune war gerade im Begriff sich zu bessern.
Ich lachte über einen Witz von Liam und ließ meinen Blick über die tanzende Menge schweifen.
Hätte ich ihn nicht gesehen, wäre es ein ganz normaler Abend geworden.
Doch plötzlich war er einfach da, und ich konnte nicht mehr wegsehen.
Wie immer, wenn er mich mit seinen Augen gefangen hielt.
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