|8.4|
Malte|"Ich frage Sie nun ein allerletztes Mal, was ist geschehen?"
Müde rieb ich mir mit den Händen über mein Gesicht.
Natürlich war mir klar gewesen, dass man Lennarts Fehlen bemerkt hatte.
Jedoch hatte ich nicht damit gerechnet, dass es eine solche Panikwelle hervorrufen würde.
"In Lennarts Akte ist der Punkt 'instabil aber bis auf weiteres als ungefährlich für andere' weit oben vermerkt."
In einer Handschrift, die wie die eines älteren Mannes wirkte, so ordentlich, wie die Buchstaben geschrieben waren, fügte ich in Gedanken hinzu.
"Dieser Satz bedeutet für mich, dass Lennart sich selbstgefährdend oder selbstverletzend verhalten, sich allerdings nicht mit einer Pistole bewaffnet in die Berliner Innenstadt stellen und wild um sich schießen würde."
"Was tut das hier zur Sache?", fragte Doktor Jensen alias Doktor-wie-auch-immer-er-hieß, dessen Namen ich mir gemerkt hatte, als er sich Liam und Hannes vorgestellt hatte, bissig.
"Sie tun so, als wäre er ein Attentäter, der jeden Moment eine Zeitbombe zücken könnte. Überhaupt sind Sie mit ihm übervorsichtig. Die Frage ist nur, warum?
Ich war," ich stockte kurz, "ich bin sein Psychologe und müsste, um ihm zu helfen, über alle Geschehnisse aus Lennarts Vergangenheit informiert werden. Aber wenn man Sie darauf anspricht, äußern Sie sich dazu nicht. Was war geschehen an dem Tag, an dem ich meinen ersten Arbeitstag hier hatte? Hatte er Drogen genommen? Welche? Wann? Wo? Weshalb? Warum? Ich bekomme auf nichts eine Antwort. Das Einzige, was ich weiß ist, dass es um irgendwelche Tabletten ähnlich aussehenden Mittel gehen muss, da Lennart so nett war, mir diesen Hinweis zu geben."
Doktor Jensen musterte mich kritisch.
"Wozu sind sie Psychologe, wenn sie nicht herausfinden können, was ihrem Patienten fehlt?"
Diese Worte verschlugen mir die Sprache.
"Kann eine Wahrsagerin nun in die Zukunft sehen oder mit dem Schicksal zaubern?"
Hannes hatte sich von seinem Stuhl neben mir erhoben.
"Das ist genau so eine undurchdachte Frage, wie Ihre. Malte kann nicht in Lennarts Kopf gucken, so wie eine Wahrsagerin durch ihre Kugel nicht in die Zukunft sehen kann. Wenn sie Glück hat, spielt das Schicksal mit und erfüllt ihre Voraussage. Ansonsten passiert überhaupt nichts. Wenn Sie Malte also nicht unter die Arme greifen, Sie in ihrer Rolle als Schicksal, kann er nicht sehen, wie man Lennart helfen kann und die erhoffte Heilung bleibt aus."
Doktor Jensen blinzelte. Er hatte Hannes unterschätzt, das merkte man. Ebenso wie ich.
"Sie meinen also, dass er die Informationen braucht, weil es ansonsten nicht funktionieren kann?", fragte mein Chef nach.
"Richtig, logisch", bestätigte Hannes.
Jensen dachte eine Weile nach, dann nickte er, eher zu sich selbst.
"Dann lassen Sie uns sehen, was wir in der Hinsicht machen können."
Ich atmete erleichtert auf und warf Hannes einen dankbaren Blick zu.
Das Bambi lächelte und seine langen Wimpern klimperten ein wenig gegeneinander.
"Das bedeutet, du willst weitermachen, Malte?", mischte sich Liam ein.
Ich sah ihn an. Ich hatte gar nicht daran gedacht, dass ich die letzten paar Tage noch der festen Überzeugung war, dieses Gebäude nie wieder betreten zu können.
Sobald ich Lennarts undurchdringlich grüne Augen gesehen hatte, war alles um mich herum vergessen gewesen.
"Ja, das bedeutet es", antwortete ich knapp.
"Ich respektiere deine Entscheidungen, aber lass dich nicht von irgendjemandem dazu drängen. Es gibt immer Seitenwege zum Ziel", sagte Liam und ich wusste, dass er auf Doktor Jensen und Hannes anspielte.
Doch Hannes hatte bereits etwas erkannt, was uns anderen verborgen geblieben war. Ich hatte nie mit der Möglichkeit gespielt, zu gehen. Ich hatte nie gesagt, dass ich Lennart ebenfalls hasste. Ich hatte damit gerechnet wiederzukommen, da ich nicht gekündigt und nach Essen zurückgegangen war. Denn was hätte ich hier noch tun sollen, hätte ich keine Hoffnung gehabt, dass sich alles zusammenfügen würde, wo mein bester Freund, der anscheinend mit alten Narben zu kämpfen hatte nicht hier war?
"Ich will weitermachen", stellte ich klar.
"Ich bin Ihr Chef und Ihr Privatleben geht mich nichts an, aber wäre es möglich zu erfahren, worüber Sie reden? Haben Sie in Erwägung gezogen aufzuhören? Ich dachte, dass Sie sich lediglich nicht besonders arbeitsfähig gefühlt hätten. Aber dass Sie sich so schlecht fühlen, dass Sie den Job kündigen wollen-"
"Können wir das ein anderes Mal bereden genau so wie den...Vorfall heute? Ich glaube es wäre gut, wenn Lennart erst einmal in sein Zimmer kommt, es ist ja gleich schon nach elf Uhr."
Sichtlich widerwillig stimmte Jensen zu und ich stand auf und bedeutete Lennart mit einem Kopfnicken, mir zu folgen.
Langsam erhob der Grünäugige sich und lief langsamen Schrittes hinaus auf den Flur.
"Da Sie ja sowieso auf Malte warten müssen, könnten Sie mir doch das Geschehene erklären. Haben Sie zufälligerweise gesehen, ob Lennart Freunde bei sich hatte? Drei Jungen, die ungefähr in seinem Alter sind?"
Die Tür schlug zu und ich konnte die Gespräche nicht mehr hören.
Ich hoffte inständig, dass Brooklyn seine Redekunst nutzen und sich etwas plausibel klingendes einfallen lassen würde.
Die Schuhe quietschten schrill auf dem Linoleumboden, als Lennart plötzlich ruckartig stehen blieb und ich fast in ihn hineinlief.
Glücklicherweise konnte ich mich noch abfangen, denn ich glaubte nicht, dass er gerade jetzt von mir auf den Boden gepresst werden wollte- wenn auch unfreiwillig.
"Was ist denn los, warum gehst du nicht weiter?", fragte ich, meiner Stimme einen sanften Tonfall verleihend.
Er drehte sich zu mir um und sah mich an.
Der Waldsee schien vor Gefühlen überzusprudeln.
Ich wusste nicht welche, aber sie existierten in seinem Inneren, da war ich mir sicher.
"Gibt es irgendetwas, worüber du...sprechen möchtest?"
Er wusste, was ich mit der kleinen Pause zwischen den Worten meinte und nickte leicht.
"Dann gehen wir doch erstmal-"
Er unterbrach mich mit einer stummen Geste und zog aus der Tasche den Stift und das Papier.
Ich verstand und wartete geduldig, während er schrieb.
Ein bisschen Nervosität machte sich in meiner Brust breit.
Er könnte alles aufschreiben. Vielleicht würde er mich weg schicken und mich nie wiedersehen wollen.
Als er mir das Blatt jedoch entgegen hielt und ich es annahm, ohne seine Haut auch nur ein einziges Mal zu berühren, standen dort völlig andere Worte, als ich erwartet hatte.
Es tut mir leid.
Danke.
Ich strich vorsichtig mit meiner Hand über die Buchstaben wie um mich zu vergewissern, dass sie wirklich da waren und nicht gleich wieder verschwinden würden.
Aber sie blieben standhaft stehen und kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen.
"Das muss dir nicht leid tun. Es war dumm von mir dir diese ganze Wunsch-Sache aufzudrängen. Ich hätte damit gar nicht erst anfangen sollen. Ich sollte mich entschuldigen, nicht du."
Lennart streckte die Hand aus und ich reichte ihm das Papier zurück.
Als er es mir wiedergab, hatten neue Buchstaben unter den vorherigen Platz gefunden.
Als ich sagte, dass ich dich hasse, meinte ich das nicht so. Da war etwas anderes, das verlangte das zu tun. Du verstehst das nicht. Aber vielleicht erkläre ich es dir ja irgendwann.
Ich schluckte.
"Ja, vielleicht irgendwann", sagte ich.
Ich schwieg eine Weile, dann stellte ich die Frage, die mich am meisten beschäftigte.
"Möchtest du, dass ich wieder dein Psychologe bin? Oder willst du lieber jemanden, der dich nicht heimlich beklaut?"
Ein kleines Grinsen entstand auf seinem Gesicht.
Wenn du noch mein Psychologe sein willst und versprichst, dass du nicht mehr bei mir einbrichst, ja.
"Versprochen", sagte ich.
"Aber können wir dann vielleicht...noch einmal ganz von vorne beginnen? Und anfangen zu reden. Richtig, meine ich. Du erzählst ein bisschen und ich berate dich. Und dann arbeiten wir langsam an allem anderen. Das mit den Wünschen lassen wir natürlich, ich will dich zu nichts drängen, wie gesagt. Und du musst auch nicht alles erzählen, du kannst ja einfach mit Unwichtigem anfangen. Nicht dass ich erwarte, dass du mir Geheimnisse erzählst, um Himmels Willen", plapperte ich.
Der Zettel wurde mir zugesteckt.
Okay, stand darauf geschrieben.
Plötzlich fühlte sich mein Herz so viel leichter an. Ich hatte kaum bemerkt, dass es die letzten Tage mehrere Gramm zugenommen hatte.
Dann bemerkte ich, dass unter dem einen Wort weitere standen.
Ich würde das Wunsch-Ding trotzdem gerne weitermachen, wenn das in Ordnung wäre.
"Im Ernst?", fragte ich erstaunt, fast schon schockiert.
Lennart lächelte nahezu unmerklich und nickte.
"In Ordnung. Dann machen wir das."
Lennart zuckte mit den Schultern.
Einige Zeit standen wir uns still gegenüber auf dem Flur.
"Geht es dir gut, Lennart?", durchbrach ich das Schweigen letzten Endes.
Er blickte mich an, der See glitzerte matt in seiner Iris.
Schließlich schüttelte er mit dem Kopf.
Klar, was hatte ich auch anderes erwartet? Dass er sich nach einer fast-Vergewaltigung wie der glücklichste Mensch auf Erden vorkommen würde?
Ich schallte mich selbst einen Dummkopf und lächelte ihn aufmunternd an.
"Wir kriegen das hin, ganz bestimmt", versicherte ich.
Lennart nickte.
Dann nahm er plötzlich meine Hand.
Ich spürte seine schlanken Finger, die die meinigen berührten und kleine Stromstöße durch meinen Arm jagten.
Ich starrte einige Sekunden auf unsere Hände.
Erst dann wurde mir klar, was das heißen sollte.
Es war seine Art Vertrauen zu beweisen.
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