|8.3|

Malte|Ich gab zu, ich hatte ihn beobachtet. Den ganzen Abend lang. Brooklyn, der Lennart schlussendlich auch bemerkt hatte, hatte mich versucht von ihm abzulenken während Liam und Hannes irgendwo im Getümmel der Menschen tanzten, aber kaum hatte ich mich zwei Minuten mit etwas anderem beschäftigt, hatte ich mich hektisch nach ihm umgesehen, in der Hoffnung er sei nicht verschwunden.
Denn obgleich es wehtat ihn zu sehen und ich am liebsten den Raum verlassen hätte, ich konnte nicht.
Ich fühlte mich verantwortlich für ihn.
Eine dummes Gefühl meinerseits, da er mir klar und deutlich unseren "Beziehungsstatus" zu verstehen gegeben hatte- da ist nichts, war nichts und wird auch nichts sein- aber wäre ich ein bisschen stärker gewesen, hätte ich nicht gleich kopflos die Charité verlassen, wäre er jetzt nicht hier, sondern würde in Sicherheit in der Klinik sitzen.
Es war ein Stück weit verrückt so zu denken, aber ich tat es in dieser Situation, ganz einfach, weil ich mir Sorgen machte.
Er war neunzehn. Er war stumm. Er war hübsch. Er war ein Arschloch. Er war-

"Weg", zischte Brooklyn auf einmal leise.

"Was?"

Verständnislos wandte ich ihm das Gesicht zu.

"Lennart ist weg."

Schockiert drehte ich mich um und stellte fest, dass ich den Grünäugigen tatsächlich nirgendwo entdecken konnte.

"Wo ist er, Brooklyn?", rief ich, ohne die Frage wirklich ernst zu meinen.

"Keine Ahnung, du bist sein Leibwächter, nicht ich", schrie mir der Braunhaarige gegen die laute Musik entgegen.

"Verdammt!", schimpfte ich.

Wie konnte ich nur so unglaublich unaufmerksam sein? Ich musste auf ihn aufpassen, das wusste ich tief in meinem Inneren.
Würde ihm etwas passieren, würde ich mir vorwerfen, es nicht verhindert zu haben, weil ich komplett egoistisch nur über meine vermeintlichen Gefühle für ihn nachgedacht hatte.

Ich sprang hastig von dem Stuhl, auf dem ich saß auf.

"Ich gehe ihn suchen!", rief ich Brooklyn zu.

"Wozu? Malte, er ist neunzehn, er ist in der rebellischen Zeit angekommen. Da macht man manchmal ein paar unüberlegte Dinge. Wahrscheinlich hat er sich mit ein paar Freunden aus der Klinik geschlichen und sie sind jetzt wieder gegangen, damit sie unbemerkt wieder in die Charité kommen, bevor es zu spät wird."

Jedoch spürte ich, dass er mit seiner Vermutung falsch lag. Lennart war noch hier, das wusste ich einfach.

"Erklär mich für bekloppt, Brook, aber ich weiß, dass dieser schrecklich verletzende...unbeschreiblich süße Junge hier noch irgendwo ist. Und ich glaube, dass wir ihn suchen und in die Charitè bringen sollten."

Brooklyn seufzte.

"Du bist bekloppt, Malte. Das ist der einzige Grund, warum ich dir glaube. Also los, ich trommele Hannes und Liam zusammen und du guckst dich hier noch einmal schnell um und wir treffen uns gleich draußen."

"Einverstanden", antwortete ich und quetschte mich bereits durch die herumhüpfende Masse auf der Tanzfläche, die zu einem Chart-Song mehr oder weniger erfolgreich ihre Tanzschritte zum besten gab.

"Hey!", brüllte ich wütend, als mich jemand fast umrannte.

"Sorry, Mann. Reg dich doch nicht gleich so auf. Du bist ja schlimmer, als der kleine blonde eben. Hättest du den Blick gesehen, mit der mich angesehen hat, Halleluja. So einen Grünton habe ich noch nie gesehen."

Mein Herz blieb stehen.

"Wo ist er jetzt?", schrie ich gehetzt.

"Junge, Beruhig dich", brummte der Mann.

Sein gemustertes Hawaii-Hemd und die Blumenkette, die er um den Hals trug, sahen an ihm statt lässig eher naiv aus.

"Ist er dein Lover, oder was?"

Ich würde ihm hier und jetzt eine reinhauen, wenn er mir nicht sagen würde, wo Lennart hingegangen war. Danach würde ich seine Adresse herausfinden und ihm mit einem Baseballschläger auflauern.

"Naja, wenn es dich so sehr interessiert: Er ist in die Richtung gelaufen, glaube ich."

Der Hawaii-Typ hob einen Arm und deutete in Richtung eines roten Vorhangs, über dem ein Schild mit der Aufschrift "Billiardtische" in großen Buchstaben.

Ich verzichtete auf ein "Dankeschön", drängelte mich an ihm vorbei und steuerte zielstrebig auf den Vorhang zu.

Ich zog ihn mit einer fließenden Bewegung zur Seite.

Hinter der Abgrenzung tat sich ein kurzer Flur auf, der von einer Holzabtrennung auf der anderen Seite begrenzt wurde. Die Lampen an der Wand strahlten in sanftem roten Licht, das allerdings noch dunkler als das der Diskokugel im vorherigen Raum war, weshalb meine Augen sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen mussten.

"Wir werden heute so unglaublich viel Spaß haben, das verspreche ich dir."

Ich riss die Augen so weit auf, dass sie nahezu aus ihren Höhlen rollten.

Ein Kussgeräusch ertönte und ich zuckte innerlich zusammen.
Ich hatte mich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass ich die beiden Personen, die eng verschlungen an der Wand standen halbwegs erkennen konnte.

Die an der Wand stehende Person wurde von der anderen an diese gedrängt und- zu meinem Entsetzen- am Hintern gestreichelt. Es waren definitiv zwei Männer, was ich an der Größe und der grob erkennbaren Statur erkannte. Doch ob es Lennart war, konnte ich nicht ausmachen. Unentschieden tat ich ein paar Schritte zurück, öffnete den Vorhang und versuchte möglichst leise hindurch zu schlüpfen.
Ich hatte die Hand noch nicht von dem Stoff der Verhängung gelöst, als mich plötzlich das Licht der Diskokugel traf.
Sofort drehte ich geblendet den Kopf weg, nach hinten.
Für den Bruchteil einer Sekunde erleuchtete der Lichtschein durch den Spalt zwischen Wand und Stoff die beiden Personen, die in dem engen Flur standen.
Lennarts Gesicht war blass wie das eines Totenschädels und spiegelte den Ausdruck von Angst.
Der Mann der in an der Wand gedrängt festhielt, war schwarzhaarig, seine dunklen Strähnen ein wenig gelockt. Meine Aufmerksamkeit zog jedoch seine Hand auf sich, die sich gefährlich nah an Lennarts Hosenbund befand.
Dann war der helle Moment wieder vorbei, der Vorhang fiel hinter mir zu und Dunkelheit ummantelte mich, aber ich wusste, was ich tun musste.
Auf gut Glück griff ich vor mir in die Luft, erwischte etwas, dass sich wie Stoff anfühlte und riss daran.
Ein leises Keuchen kam dem überrumpelten Mann über die Lippen, bevor ich ihn mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, durch den Vorhang nach draußen auf die Tanzfläche stieß, jedoch nicht ohne zu zischen:

"Lass die Finger von Menschen, die so etwas nicht verdient haben."

Denn er hatte es nicht verdient. Egal, was er zu mir gesagt hatte, das hätte ich ihm niemals gewünscht. Und trotzdem, es war geschehen. Und ich konnte es nicht ändern.

Lennart|Die Kälte kroch weiter bis in jedes Stück meines Körpers und ich begann zu zittern.

Ich fühlte mich schutzlos, wie ich hier stand und mich nicht traute, meinen Blick vom Boden zu heben.

Hätte er dich nicht gefunden, wo wärst du dann?, fragte Ruby mich plötzlich.

Ich erschrak fürchterlich und das Zittern, was vorher kaum merklich gewesen war, wuchs zu einem Schüttelfrost an.

Ich weiß es nicht, antwortete ich.

Warum hast du das zu ihm gesagt? Dass du ihn hasst?, erkundigte sie sich traurig.

Ich weiß es nicht, wiederholte ich.

Warum hast du Julian vertraut? Du wusstest doch, dass er dich im Stich lassen würde. Er benutzt dich und du ihn und du bist dir darüber im klaren. Warum bist du mitgekommen?

Verdammt, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, okay? Aber wo wart ihr? Ich hätte euch gebraucht. Ihr habt nichts gesagt. Du nicht und Kyel auch nicht. Ich hätte euch gebraucht.

Das hast du die letzte Woche auch nicht, als du mit Julian zusammen irgendwelche kindischen Trinktiraden und Versteckspielen im Klinikgarten getrieben hast. Weshalb also jetzt? 

Auf ihre Worte folgte Stille und kurz darauf ein langgezogener Piepton, vergleichbar mit dem, den ein Messgerät im Krankenhaus bei einem Herzstillstand von sich gibt.

Verzweifelt wimmerte ich. Meine Ohren schmerzten von dem hellen Ton und mein Kopf drohte förmlich zu explodieren.

Erst die warmen Hände an meinen Wangen holten mich zurück in die Wirklichkeit. Es war seine Wärme.

"Lennart", sprach er meinen Namen beruhigend aus.

Und mein Gott, ich hatte ihn vermisst. Ich hatte mich nach allem an ihm gesehnt, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte ihn zu hassen. Ihn für irreale Freunde zu verabscheuen, die nicht da waren, die mir nicht helfen konnten. Es zählte nicht, wie lange sie bei mir waren, sondern was sie für mich taten.

"Hörst du mich?", fragte Malte sachte.

Ich nickte wie paralysiert.

"Willst du nach draußen? Brauchst du vielleicht frische Luft?"

Ich bejahte mit einer leichten Kopfbewegung und Malte dirigierte mich vorsichtig an der Schulter durch einen Hinterausgang hinaus auf die Straße, scheinbar bemüht mich nicht unnötig zu berühren, wofür ich ihm dankbar war. So sehr ich ihn vermisst hatte, ich hätte mich unwohl dabei gefühlt noch mehr ungewohnte Berührungen auf meinem Körper zu spüren.
Draußen angekommen schnappte ich wie ein Ertrinkender nach Luft und fühlte, wie die Kälte meine Haut erneut umspülte.

Ich hörte ferne Stimmen, die uns über die Straße entgegenkamen. Kaltes Wasser floss über meine Haut. Warme Finger legten sich um mein Handgelenk und hielten mich sanft fest. Sie verbreiteten Wärme. Sie waren nicht unangenehm. Sie gaben mir Sicherheit. Er gab mir Sicherheit.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top