|8.2|

Lennart|Die Diskokugel an der Decke warf mit hellen Lichtblitzen um sich.
Ein hektischer Techno-Song dröhnte durch den Club. Eigentlich hasste ich solche Menschenmassen, insgesamt alles, was mit sozialen Kontakten zu tun hatte, doch ich wollte Julian einen Gefallen tun.
Er hatte stundenlang gebettelt, bis ich letztendlich ergeben genickt hatte. Daraufhin hatte er mir ein wunderschönes breites Lächeln zugeworfen.

Von hinten wurde ich unsanft angerempelt und konnte mich gerade noch auf den Beinen halten.
Ich warf dem Urheber der Rempelattacke einen bösen Blick zu und begab mich dann zum Rand der Tanzfläche, wo es ein bisschen leerer war.
Julian und seine Freunde waren irgendwo untergetaucht und ich hoffte sie später wiederzufinden, denn alleine zur Charité zurückzukommen würde der reinste Alptraum werden.
Es hatte allein eine Stunden gedauert aus der Klinik auszubrechen- die Flure wurden selbst sonntags um neunzehn Uhr noch von Pflegern wie Hauptverkehrswege genutzt. Zumeist wurden abends noch mehrere Patienten eingeliefert.
Als ich das erste Mal in die Klinik zurückgekehrt war, war es ebenfalls Sonntag gewesen.
Und Nacht.

"Komm, Lennart, das ist nur zu deinem Besten."

Mein Vater lächelte mich an, als wäre ich ein begriffsstutziger Dreijähriger.
Neben ihm schnäuzte sich meine Mutter geräuschvoll in ein Taschentuch. Ihre Augen waren rotgeweint. Übertrieben, wenn man bedachte, dass sie noch gestern durch das halbe Wohnviertel geschrien hatte, dass sie es mit einem psychisch Gestörten Sohn schwerer hatte, als andere.
Sprich, ich war eine Last für sie.

"Lennart, mein Schatz, komm und nimm deine Tasche, dann können wir reingehen. Das wird bestimmt bald wieder besser, du bist doch schon einmal wieder nach Hause gekommen. Vielleicht klappt es dieses Mal ja gänzlich, meinst du nicht?"

Mein Vater lächelte aufmunternd und klopfte auffordernd gegen die Autotür.

Seufzend starrte ich nach vorne gegen die Rückenlehne des Sitzes.
Vom Autoschlüssel blitzte mir das kleine Zeichen, auf das man drücken musste, um das Auto von außen zu entriegeln, auffordernd entgegen.
Aber ich sah keinen triftigen Grund, um mich zu bewegen und den draußen Stehenden Hoffnungen zu machen.

"Lennart, bitte, mach den Wagen auf", verlangte mein Vater behutsam.

"Das bringt doch nichts, Steffen, er ist wahrscheinlich sowieso in seiner Psychose gefangen und im Kopf sonst wo, bloß nicht hier, wo du ihn hören kannst", fauchte meine Mutter.

Sie tupfte sich ein paar Tränen aus dem Auge und sagte dann zu meinem Vater:

"Ich denke, wir müssen das Auto aufbrechen."

"Wie bitte? Das ist mein schöner Wagen! Der war teuer! Wenn du ihn jetzt beschädigst, verliert er noch mehr an Wert, als er es eh schon tut", rief mein Vater entrüstet.

Natürlich, sein Auto. Nicht etwa sein Sohn. Nur seine teure Luxuskarosserie.

"Ich gehe jetzt zum Empfang und frage nach einem Therapeuten. Vielleicht hat er ja zu einem von denen Vertrauen", sagte meine Mutter und kurze Zeit später hörte ich ihre hohen Absätze über den Asphalt klackern.

Mein Vater sah ihr sekundenlang hinterher, schließlich drehte er sich wieder zu mir und klopfte einmal leise an die Scheibe.

"Na komm, Lennart, komm raus. Du kannst mir auch deine Tasche geben, dann trage ich sie hinein."

Wie aufopferungsvoll. Wozu sollte mir das nützen? In der Charité konnte ich mich genug schonen.

"Bitte, Schatz. Deine Mutter und ich machen uns doch einfach nur Sorgen."

Die meistgenutzte Ausrede der Eltern war wohl "wir wollen doch nur dein Bestes" und "wir machen uns nur Sorgen".

Aber meine Eltern wollten definitiv nicht das Beste für mich, sondern lediglich ihre Ruhe, um sich um ihre nicht-verrückten Söhne Lukas und Kolja zu kümmern.
Allein der Gedanke an Lukas' unschuldiges Kleinkindlächeln, dass sich immer dann auf seinem Gesicht ausbreitete, wenn er unserer Mutter erzählte, ich hätte ihn geärgert, obwohl er es war, der seine Spielzeugautos mit bunter Farbe bemalte und sie über meiner Bettdecke ausbreitete, erinnerte mich jedes Mal aufs Neue daran, wie unerwünscht ich war.

"Jetzt komm raus, Lennart."

Mein Vater wurde jetzt allmählich ungeduldig und hämmerte gegen die Scheibe, doch ich reagierte nicht. Sollte er doch sehen, wie er in seinen Wagen gelangen konnte.
Wer war auch so blöd seinen Sohn mit den Schlüsseln einsam im Auto zu lassen, während man zur Rezeption ging? Ich hätte auch einfach nach vorne klettern und samt Wagen verschwinden können. Gas geben würde wohl jeder Idiot hinbekommen.

Aber ich saß nun einmal ruhig auf der Rückbank, den Schlüssel bei mir, die Türem verriegelt und dachte nicht daran, mich von der Stelle zu rühren, egal was sie sagen würden.

Ich vernahm die störend laut auf den Asphalt aufkommenden Absätze meiner Mutter, die mit schriller Stimme mit jemandem diskutierte.

"Wenn ich es Ihnen doch sage! Nicolas meinte, er hätte die ganze Woche kaum mit ihm gesprochen. Und wenn, dann über diese Dinge...Sie wissen schon...Über Methoden sich das Leben zu nehmen."

"Mit seinen Freunden? Unüblich für ihn. Lennart ist eher der Typ Mensch, der alles mit sich ausmacht."

"Deswegen machen wir uns ja auch solche Sorgen!", quiekte meine Mutter hysterisch.

Nicolas hatte Angst vor mir, das war der einzige Grund, warum er solch einen Unsinn von sich gab. Er glaubte, oder hatte zumindestens geglaubt, sobald ich aus der Klinik wiederkäme, wäre ich wieder der ihm altbekannte fröhliche Lennart. Aber so war es nicht gewesen. Und daher vertrat er die Meinung, man sollte mich besser wegsperren, bis ich wieder normal war.
Aber das würde ich niemals mehr werden, egal was sie unternahmen.

"Hallo, Lennart."

Zwei Männer im weißen Kittel standen vor dem Wagenfenster. Einen von ihnen kannte ich. Es war der Psychologe, der mich vor einer Woche entlassen hatte und der mich als "vollständig ungefährlich" eingestuft hatte.

"Magst du es nicht, wieder hier zu sein?", fragte er freundlich.

Was für eine Frage? Wer mochte die Psychiatrie? Ich kannte die Leute, die in Serien und Dokumentationen erzählten, dass sie sich in der Klinik sicher fühlen würden, aber sie konnten doch unmöglich planen, ihr gesamtes restliches Leben in einer psychiatrischen Einrichtung zu verbringen.

"Wie lange versuchen Sie das jetzt schon genau?", erkundigte sich der Psychologe und wendete sich meinen Eltern zu.

Der andere Mann musterte mich noch einige Sekunden. Ich wagte es nicht, meinen Blick zu heben. Schließlich drehte er sich ebenfalls zu meinen Eltern um.

Meine Mutter schrie die beiden Klinikmitarbeiter schrill an, während mein Vater sie zu besänftigen versuchte. Der Psychologe redete ihr beruhigend zu- was genau, das konnte ich nicht verstehen durch das Glas des Fensters- und der andere Mann sah zwischen ihm und meinen Eltern hin und her.
Und keiner achtete auf mich.
Den Autoschlüssel hatte ich schon seit Minuten in der Hand.
Seine harte stählerne Spitze schnitt mir schmerzhaft ins Fleisch, wie um mich daran zu erinnern, dass ich mit einer einzigen Handbewegung den Wagen aufsperren und mich befreien könnte.
Ich drückte den Schlüssel noch ein wenig fester, sodass ich bereits glaubte Blut zu spüren, atmete tief ein und aus und ging im Kopf alle Möglichkeiten durch, die ich hatte.
Vor allem durfte ich nicht zu lange nachdenken, ansonsten würden sie wieder auf mich aufmerksam werden.
Also einfach losrennen.
Wie in Zeitlupe legte ich die Hand auf den Knauf der Tür, hielt den Schlüssel so fest, dass ich ihn uneingeschränkt bedienen konnte und beobachtete wachsam die vier Erwachsenen, die sich angeregt miteinander unterhielten.
Jetzt oder nie.

Der Schließmechanismus des Autos klickte so laut, dass ich erschrocken zusammenzuckte.
Doch einen Moment später besann ich mich, stieß die Tür auf und rannte los.
Den Autoschlüssel ließ ich irgendwo auf den Gehweg fallen, ich würde ihn zum Laufen nicht benötigen.
Hinter mir hörte ich laute Rufe und Schritte.
Wie zu erwarten folgten sie mir.
Ich raste die Straße hinunter, wechselte dann die Seite und bog scharf links ab.
Die Straßenlaternen warfen trotz der noch nicht weit fortgeschrittenen Dunkelheit ihren hellen Schein auf die Wege.
Die Stimmen und Schritte hinter mir entfernten sich allmählich und ich hoffte sie abschütteln zu können.

Eine Weile rannte ich nur und lauschte meinem abgehacktem Atem.
Ein paar Mal blieb ich kurz stehen und lauschte in die Dunkelheit, doch ich vernahm keine Laute, die ich als von meinen Eltern stammend identifizieren konnte.
Irgendwann, meine Seite brannte bereits und ich bekam kaum noch Luft, sah ich die beiden Straßenlaternen, die etwa in einem Abstand von drei Metern leuchteten.
Hugo-Preuß-Brücke, dachte ich und verschnellerte meinen Schritt, obwohl meine Lunge sich bereits schmerzhaft zusammenzog und mein Herz wie ein Presslufthammer in meiner Brust hämmerte.
Neben der Laterne hielt ich letztendlich an, erlaubte mir, mich kurz dagegen zu lehnen und zittrig Luft zu holen.
Doch ich wusste, hier konnte ich nicht bleiben. Ich befand mich quasi auf dem Presentierteller.
Mühsam stieß ich mich von der Metallstange, die die Lichtröhre in der Höhe hielt ab, und schleppte mich den flachen gepflasterten Abhang neben der Brücke hinunter. Dieser war von einem etwa ein Meter zwanzig hohen Zaun umgeben, wanderte bis unter die steinerne Überführung und würde von der laut plätschernden Spree umsäumt.
Erschöpft setzte ich mich auf den steinernen Boden, dort, wo man mich von der Straße aus nicht auf den ersten Blick erkennen konnte.
Mir war übel. Ich war lange nicht so eine große Strecke am Stück gerannt. Meine letzte Sporteinheit war schon eine Weile her.
Müde legte ich meinen Kopf gegen den Stein in meinem Rücken.
Vielleicht sollte ich einfach über das Geländer klettern und mich ertränken.
Vielleicht wäre das das Beste.

"Hey, Süßer!"

Ich spürte zwei Arme, die sich um meinen Bauch schlangen.
Irritiert sah ich auf und starrte in die Augen eines jungen Mannes, der mich herzlich anlächelte.

"Du stehst hier so ganz allein herum, da dachte ich, ich könnte dir Gesellschaft leisten."

Er grinste frech und ich konnte trotz des dunklen Lichts eine Reihe weißer Zähne erkennen, die er entblößte.

Wie ein Haifisch, schoss es mir durch den Kopf.

Ich schüttelte entschieden den Kopf und versuchte mich aus seinen Armen zu finden, allerdings war sein Griff fest wie ein Schraubstock.

"Was ist denn los, Süßer? Warum hast du es denn plötzlich so eilig?"

Die Stimme des Mannes jagte wie ein Stromstoß von tausend Volt über meinen Körper. Sie klang völlig normal und wie jede andere und in einer anderen Situation hätte ich ihn bestimmt sympathisch gefunden, aber gerade jetzt spürte ich nur Angst.
Noch einmal probierte ich ihn wegzudrücken, doch er ließ mich nicht los.

"Komm schon, du willst es doch auch."

Bei diesen Worten versteifte sich mein gesamter Körper, hatte ich sie doch schon einmal in gleichem Zusammenhang in einem Schlafzimmer mehrere Kilometer entfernt gehört. Von einem Jungen, den ich wirklich gemocht hatte. Der alles zerstört hatte und mich in Scherben sitzend zurückgelassen hatte.

"Du hast so einen tollen Körper, mein Hübscher."

Alles in mir schrie danach um Hilfe zu rufen. Außer Ruby, Kyel und Zack. Nicht dass ich von Zack etwas anderes erwartet hatte, aber dass Ruby und Kyel auf einmal weg waren in so einem wichtigen Moment, in dem ich ihren Rat brauchte, ließ mich noch einsamer fühlen.
Niemand kümmerte sich um mich und es störte keinen, wie es mir ging und was mit mir geschah.
Die gesamten Psychologen, absolut alle hatten recht gehabt.
Ich lebte in meiner eigenen kleinen Welt. Da waren nur ich und meine irrealen Freunde. Aber wer war da, wenn ich im Hier und Jetzt jemanden brauchte?
Ich hatte die letzten zwei Jahre praktisch verschwendet.
Jetzt musste ich wohl die Konsequenzen tragen.

Der Mann drückte mich immer weiter weg von der Tanzfläche in eine kleine Einbuchtung zwischen der Abtrennung zu den Billiardtischen im hinteren Clubberreich und dem Vorhang zur Disco. Ein perfekter Platz, um jemanden zu vergewaltigen.
Die Panik, die ich erwartet hatte zu spüren,  blieb aus. Lediglich mein stetig schneller pumpendes Herz signalisierte meine Angst.
Jedoch zu leise, um von jemandem gehört zu werden.
Der Mann drückte mich kurzzeitig etwas von sich weg und musterte mich.

"Unglaublich schön", murmelte er.

Im nächsten Moment presste er mich an die Wand und legte seine Arme neben meinem Kopf ab. Zusätzlich stellte er ein Bein zwischen meine, sodass mir jegliche Fluchtmöglichkeiten abgeschnitten waren.

"Weißt du, Baby, ich habe ewig keinen mehr gevögelt. Keiner will mehr seinen Arsch hinhalten. Außer dir. Und deiner ist auch noch so knackig."

Er streichelte sachte über meinen Hintern und ich gab ein schwaches Quieken von mir.
Der Mann lachte leise.
Ein ganz unauffälliges Lachen.
Ein unauffälliger Mann.
Ein Vergewaltiger.

Langsam strich er von meinem Becken nach oben. Seine Finger wanderten unter mein Shirt.
Sie waren kalt und unangenehm auf meiner Haut.

"Wir werden heute so unglaublich viel Spaß haben, das verspreche ich dir", flüsterte er.

Er küsste meine Wange.
Ich fühlte nichts, außer mein rasendes Herz.

Seine Hand wanderte weiter nach unten, in Richtung meines Hosenbundes.

Seine stickige Wärme kesselte mich von allen Seiten ein.
Und urplötzlich war er weg und die erdrückende Hitze verwandelte sich in Kälte.
Klirrende Kälte.

Ich sah auf, sah in braune Augen, die von Schmerz gefüllt waren.

"Das hätte niemals passieren dürfen", sagte Malte leise.

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