|3.Wunsch|

Malte|Am Dienstag wollte ich mich krank melden, doch Hannes weckte mich persönlich auf.

"Wenn du nicht versuchst, mit ihm darüber zu reden, kannst du sowieso schon aufgeben."

Also saß ich eine Stunde später in Liams Wagen und blickte aus dem Fenster. Hannes hatte erstaunlicherweise nur fünf Minuten gebraucht, um Liam zu überreden mich zu fahren, dann war der Silberhaarige ins Auto eingestiegen, hatte mir auf die Schulter geklopft und gemeint:

"Das wird schon, Malte."

Ich seufzte, als wir die Spree überfuhren und ich das Gebäude der Charité bereits aus der Ferne ausmachen konnte. Alles in mir wiederstrebte dem Gedanken ihn heute sehen zu müssen.

"Geht es um ein Mädchen?", fragte Liam auf einmal.

Ich sah ihn müde an.

"In gewisser Weise schon. Hat Hannes dir das erzählt?"

Er schüttelte den Kopf.

"Greenie hat das gestern schon vermutet, als du so verheult auf dem Sofa lagst und geschlafen hast."

Da fiel mir etwas ein.

"Ihr habt euch gestern gar nicht angeschrien", stellte ich ein bisschen erstaunt fest.

Liam zuckte mit den Schultern.

"Du sahst nicht so aus, als würdest du Streitereien unbedingt gebrauchen können."

Es rührte mich, dass Liam, den ich eigentlich als einen Macho einstufte, sich Gedanken um meine Gesundheit machte. Er hatte immerhin die letzten Tage gar nicht oder kaum mit mir geredet.

"Danke", murmelte ich.

Der Silberhaarige grinste.

"Wir wollen doch nicht, dass es unserem einzig wahren Glubschi schlecht geht, oder?"

Gespielt besorgt tätschelte er meine Schulter und ich musste ein wenig lächeln. Dann sah ich das Charité-Gebäude vor mir aufragen und mein Lächeln verschwand. Ich schluckte schwer.

Liam parkte auf dem riesigen Parkplatz direkt vor der Klinik und drehte sich dann zu mir.

"Na los, Sunnyboy, raus mit dir. Hol sie dir zurück."

Sunnyboy. Wenigstens ein bisschen besser als 'Glubschi'. Seufzend stieg ich aus und wischte mir mit der Hand durchs Gesicht, um mögliche neue Tränenspuren zu entfernen, aber wider Erwarten blieben meine Augen trocken. Ich blickte mich noch einmal nach Liam um, der mir aufmuntert zulächelte, dann stapfte ich los, meine Tasche, die die ganze Zeit auf meinen Oberschenkeln gelegen hatte um meine Schulter gehängt und die eingeschlafenen Beine vorsichtig belastend. Je näher ich der Drehtür kam, desto unruhiger wurde ich. Warum hatte ich mich nur überzeugen lassen, wieder hier her zu kommen? Lennart hatte mir klar gemacht, dass ich eine Grenze überschritten hatte, dass er mich dewegeb verachtete. Also was tat ich hier?
Ich erreichte den Empfang, lehnte mich gegen den Tresen und grinste Anabelle mit meinem süßesten Lächeln an.
Sie klimperte entzückt zurück.

"Kann ich etwas für sie tun, Herr Lüdemann?", quietschte sie.

Ihre Stimme verursachte Kopfschmerzen.
Tapfer versuchte ich mir nichts anmerken zu lassen und nickte.

"Könnten Sie Brooklyn vielleicht sagen, dass er die Papiere, die er bereit machen wollte noch möglichst heute in mein Büro bringen sollte?", sagte ich.

"Das kann ich auch gerne erledigen, Brooklyn ist auch noch gar nicht-"

"Schon zur Stelle!"

Ein verschwitzter Dunkelhaariger schob sich an mir vor bei zu seinem Schreibtisch, schnappte sich ein paar Papiere und warf Jacke und Tasche ab.

"Auf geht es nach oben", rief er voller Elan und lachte laut, als er Anabelles mörderischen Blick bemerkte.

Jedoch blieben seine ozeanblauen Augen kalt und besorgt, bis wir um meinen Schreibtisch herumsaßen. Ich vergrub den Kopf augenblicklich in meinem Ärmel und ein starker Ledergeruch stieg mir in die Nase. Die Jacke war damals teuer gewesen.

"Du siehst...schlimm aus, Malte."

Brooklyns Stimme drang nur gedämpft an mein Ohr. Ich grummelte leise.

"Wir haben uns gestern nicht gesehen", stellte der Blauäugige fest.

Ich nickte zustimmend.

"Sieht ja fast so aus, als hätte dir gestern jemand ins Gesicht geschlagen", witzelte Brooklyn.

Ich lachte, doch das Ganze ging in ein jammernden Laut über.

"Hat dich wirklich jemand geschlagen?", fragte Brooklyn und ich konnte, ohne ihn zu sehen, hören, dass er besorgt war.

Ich wimmerte verhalten.

"Das Arschloch bringe ich um", knurrte der Blauäugige aggressiv.

Jetzt musste ich doch lachen und als ich den Kopf hob, hatte ich einen etwas salzigen Geschmack auf der Zunge. Bittere Tränen.

"Deiner Äußerung zufolge müsstest du meinen Patienten verstümmeln", sagte ich mit zitternder Stimme.

"Nicht dein Ernst", hauchte Brooklyn.

Ich bejahte stumm.

"So ein...Idiot!", spuckte Brooklyn verärgert aus.

Ich schluchzte auf.

"Sag das nicht, das ist nicht wahr. Er ist einfach nur verwirrt, schätze ich."

"Das ist kein Grund dich zu schlagen-"

"Er hat mich nicht geschlagen. Er hat mich erstochen."

Der Dunkelhaarige sah mich irritiert an.

"Aber-"

"Ich lebe noch, ja. Aber so meinte ich das nicht. Es war metaphorisch gedacht. Der berühmte Dolch ins Herz."

Langsam wurden seine Augen immer größer. Er blickte mich mit einem so erstaunten Ausdruck an, die Augen tellergroß, dass es bestimmt witzig gewesen wäre, wäre es nicht in dieser Situation.

"Hast du doch das Ufer gewechselt?", wollte Brooklyn aufgeregt wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

"Kumpel, das ist cool. Das ist wirklich cool. Wir sind zusammen schwul, Mann", rief der Dunkelhaarige begeistert.

Ja, irgendwie schon.

"Keine Ahnung", sagte ich leise und wischte mein Gesicht trocken.

War Tränenwasser eigentlich auch schädlich für Leder? Wenn ja war meine Jacke jetzt bestimmt ruiniert.

"Und er hat was damit zu tun?", erkundigte sich Brooklyn interessiert und betonte das Wort "er" trotzdem vollkommen beiläufig.

"Ich bin mir nicht so sicher", murmelte ich und versuchte meine verunstalteten Haare ohne Spiegel zu richten.

"Also schon. Einen Dolch ins Herz rammen steht dafür, jemanden zu verletzen. Er hat dich im Herzen getroffen."

Stolz sah Brooklyn mich an. Dann ermattete sein Grinsen.

"Aber wie?", fragte er verwirrt.

Ich lächelte schmerzlich.

"Weil er mich hasst", flüsterte ich und spürte die Nässe in meinen Augenwinkeln.

"Er hasst dich? Seit wann hasst man Menschen, die man umarmt? Du hast doch noch ganz begeistert davon erzählt, Therapiefortschritt und so", brummte der Dunkelhaarige.

Nicht weinen, Malte. Du hast gar nicht so viel Wasser getrunken, als das noch etwas für Tränen übrig sein könnte. Er ist nicht Valentin. Er ist nicht Valentin. Er. Ist. Nicht. Valentin.

"Dieser Mistkerl! Er setzt dir falsche Signale. Mir ist es egal, ob er psychisch krank ist, Gefühle kann man durch das beeinflussen, was man sagt. Und er scheint mir nicht dumm, er weiß das. Seinem Ruf Zufolge hat er Manipulation wahrscheinlich studiert."

"Möglicherweise kann er Gefühle eben nicht einschätzen", versuchte ich ihn abstruser Weise zu verteidigen.

"Es gibt eine Krankheit namens Alexithymie, auch Gefühlsblindheit genannt, bei der man nicht aus den Handlungen und Mimiken anderer lesen kann, wie sie sich fühlen."

"Schätzchen, rede dir nichts ein", donnerte der Blauäugige.

"Erst mochte er dich irgendwie, lieber als die Psychologen davor, dann verabscheut er dich. Das ist nicht normal."

"Ich weiß es nicht."

"Oder etwas an ihm hat sich geändert", mutmaßte Brooklyn.

Ich schluckte.

"Kannst du aufhören über ihn zu reden?"

"Er bereitet dir Kummer, und über Kummer muss man sprechen."

"Kann sein, aber es ist kurz vor Acht und er kommt gleich hier her und-"

"Du musst dich ablenken, Malte. Lass uns doch am Freitag auf irgendeine x-beliebige Party gehen. In Charlottenburg soll eine besonders große stattfinden."

"Danke, Brooklyn, aber ich habe keine Lust. Könntest du dann bitte gehen?"

"Weißt du Malte, ich mag dich wirklich, und deshalb will ich nicht, dass dich die Trauer zerfrisst. Du musst etwas unternehmen, um dich von ihm abzuwenden und auf andere Gedanken zu kommen."

"Ich hasse Partys! Ich möchte allein sein. Und wie zum Teufel soll ich mich auf andere Gedanken bringen, wenn ich noch nicht einmal Motivation habe aus dem Haus-"

Da waren seine Lippen. Sanft und unbestimmt. Sie pressten sich urplötzlich auf meine und übten behutsam Druck aus. Er war nicht schlecht im Küssen. Überhaupt nicht schlecht. Es war eine komplett ungezwungene Berührung. Einfach nur, um mich aus meinen Gedanken zu reißen, abzuschalten.
Sanft ließ er von mir ab und ich bemerkte erst jetzt, dass ich ihn nicht zurückgeküsst hatte. Jedoch schien ihm diese Tatsache nichts auszumachen.
Er strich mir über die Haare.
Dann küsste er mich auf die Wange und murmelte gedämpft:

"Er kocht vor Eifersucht. Pass auf, der kommt schneller zu dir zurück, als du 'danke' sagen kannst."

Daraufhin löste er sich von mir und stolzierte zur Tür- in der ein bestürzter Lennart stand und uns anstarrte.

Als Brooklyn ihn überheblich anlächelte, setzte er allerdings sofort sein Poker-Face auf und grinste hinterhältig.
Langsam realisierte ich, warum der Dunkelhaarige mich geküsst hatte.

Sobald die Tür geschlossen war, wurde das Lächeln meines Patienten breiter und ein leichter Schauer kroch über meinen Rücken.
Reden, hatte Hannes gesagt.
Reden.

"Ich...willst du...also die Box?", brachte ich unzusammenhängend und krächzend heraus, da mir einfach kein anderer Gesprächsanfang einfiel.

Der Glaskasten vor mir auf dem Tisch sah unheilbringend aus. Die Zettel blendeten mit ihrem unschuldigen Weiß. Auf keinen Fall wollte ich hineingreifen und eine noch schlimmere Wahrheit als gestern herausziehen.

Lennarts Hand schnellte vor und langte in den durchsichtigen Behälter.
Bitte. Bitte.
Der Grünäugige hatte auf einmal ein Papierstückchen in der Hand und legte es vor mich hin.
Ängstlich streckte ich die Hand aus und öffnete den Zettel.
Sekunden verstrichen wie Jahre, als ich die Schrift überflog und die Erkenntnis sich in mein Gehirn hämmerte.
Auf wackeligen Beinen erhob ich mich, griff blind nach meiner Tasche, erwischte sie am Griff und stürmte dann hinaus.
Bereits bevor ich draußen war, vernebelten die Tränen meine Sicht.
Er hasste mich. Er hasste mich, er hasste mich, er hasste mich.
Die Rote Schrift hatte sich wie Feuer in meinen Kopf eingebrannt. Rot für die Liebe. Rot für die Wut. Rot für das Blut. Rot für den Tod. Er war wie Valentin.

40. Dem neuen Psychologen das Leben zur Hölle machen.

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