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Malte|
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11:06, 28. November 2017
Betreff: Ich weiß nicht, was ich sagen soll
Hallo Linus,
Mir ist klar, dass ich dir lange nicht geschrieben habe. Entschuldige. Ich hatte einfach nicht die Zeit, und ich weiß, dass ich mich nicht so herausreden sollte, denn es klingt wie eine billige Ausrede, aber etwas anderes kann ich dazu nicht sagen. Es tut mir sehr leid. Der Grund, weshalb ich dir schreibe ist, dass ich mich hier nicht wohlfühle. Es ist alles so neu und der erste Monat war...verwirrend. Ich vermisse dich so sehr, du kannst dir gar nicht vorstellen wie. Ich möchte wieder zurück zu dir nach Essen, gemeinsam mit dir auf dem Sofa hocken und mich über die Szene mit der zu breiten Tür in "Titanic" beschweren. Ich bin immer noch der Meinung, dass Jack neben Rose gepasst hätte. Sitzt du noch oft am Fenster? Das hast du damals, als ich für eine Woche auf der Amerikareise war getan. Melinda von gegenüber sollte damals auf dich aufpassen und jeden Tag vorbeischauen. Sie hat mir abends jedes Mal geschrieben, dass du wieder den gesamten Nachmittag auf die Häuser vor dem Fenster gestarrt hattest.Tu mir den Gefallen und mach es diesmal nicht. Geh lieber spazieren.
Ich habe dich lieb, Kumpel.
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Ich lehnte mich wieder zurück in den Kissenberg in meinem Rücken und blickte an die Decke. Meine Wohnung gefiel mir von Tag zu Tag weniger. Sie war viel zu groß für mich und der Gedanke daran, dass ich gegen Abend Greenies und Liams Streitereien würde ertragen müssen, machte es nicht besser. Außer gestern hatten sie sich den Monat, in dem ich bereits in Berlin lebte ausnahmslos jeden Tag angeschrien. Wenn Wochenende oder freie Tage waren, begannen sie damit schon morgens. Ich hörte ihnen eigentlich nie zu, jedenfalls nicht gut genug, um zu verstehen, um was es ging. Ich verzog mich zumeist zu Ginnea und ließ die Streithähne unten allein ihre Konflikte austragen.
Gin hatte sich immer weniger um die Auseinandersetzungen gesorgt, bis sie schließlich nur noch stumm die Lippen zusammenkniff und sich an meine Schulter stützte, wenn sie Greenies laute Stimme durch das Haus hallen hörte.
Fynn hatte ich kaum zu Gesicht bekommen. Er verschwand oft nach dem Abendessen und war morgens noch nicht zurück. Brooklyn meinte, dass er mit seinen jungen achtzehn Jahren wahrscheinlich bei seiner Freundin übernachten würde- dabei hatte er anzüglich mit den Augenbrauen gewackelt- und ich dachte nicht weiter darüber nach.
Ich versuchte meinen Kopf, in dem sich ein Kettenkarussell mit der Geschwindigkeit eines Schnellzuges drehte, zu leeren und nicht an ihn zu denken.
Im Moment fühlte ich mich ein wenig wie eine fiktive Erfindung eines Autors und Regisseurs, die den typischen Liebesverlauf eines Films lebte. Lieben, Trauern, Entschuldigungen, Kuss, Happy-End.
Fragte sich nur, ob mir das glückliche Ende vergönnt war, oder nicht. Das Gefühl hatte ich nämlich überhaupt nicht.
Ich drehte mich auf den Bauch und vergrub meinen Kopf im Kissen. Ich hatte nicht wieder angefangen zu weinen. Ein Erfolg, wenn man bedachte, dass weinen angeblich hässlich machte.
Die Ereignisse des heutigen Tages stürzten immer wieder mit der Wucht eines Tsunamis auf mich ein, wenn ich versuchte zu Schlafen, also verharrte ich in meiner Position und summte im Stillen die Melodie eines traurigen Liebessongs mit, der vor einigen Jahren im Radio in Dauerschleife gespielt worden war.
Die hohe Stimme von Zayn Malik geisterte durch meine Gedanken. Die Art, wie er sang, faszinierte mich. Wie er die Töne in die Höhe drückte. Genau so stellte ich mir Lennarts Gesang vor.
Kein guter Gedanke, rief ich mir ins Gedächtnis.
Die anderen Mitglieder von OneDirection erinnerten mich eher weniger an ihn.
Er hatte kaum etwas mit ihnen gemeinsam.
Außer grüne Augen, wie Harry Styles.
Grübchen, wenn er lachte, wie Liam Payne.
Die Haarrfarbe von Niall Horan.
Und einen Hüftschwung, wie Louis Tomlinson.
Stöhnend presste ich meinen Kopf näher an den Stoff des Kopfkissens.
Es war wahrscheinlich egal, an welchen Künstler ich dachte, selbst Emma Watson hätte mich in irgendeiner Art an Lennart erinnert. Und das war das Schlimmste an der Sache. Mein Gehirn weigerte sich an etwas anderes zu denken, als an ihn, obwohl sich bei der Vorstellung an Lennarts intensiven Blick mein Magen umdrehte.
Ich hätte mich liebend gerne übergeben, doch ich hatte den gesamten Tag über nichts gegessen und so fiel diese Möglichkeit automatisch weg.
Ich könnte Drogen nehmen, überlegte ich. Allerdings wäre das eine ziemlich teure Variante, um zu vergessen und bei meinen hinzureichenden wunderbaren Erfahrungen bestimmt eine, nach der ich in der nächsten Woche nicht mehr meiner Muttersprache mächtig wäre, und so verzichtete ich- gleichermaßen schlug ich die Idee mir Alkohol zu kaufen in den Wind.
Ich griff stattdessen zu meinem Smartphone und überprüfte meine E-Mails.
Eine Nachricht von: [email protected]
Ein wenig besser gelaunt tippte ich auf mein Postfach. Linus Mailadresse rief in mir sofort das Bild seines Meerschweinchens hervor, dass er mit einundzwanzig zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Es war lange Zeit nicht klar gewesen, ob das plüschige Tier, dass man schnell mit einem laufenden Kissen verwechseln konnte, männlich oder weiblich war und durch diese Situation entstand der Doppelname Charles-Amber. Das Meerschweinchen hatte letztendlich tot in seinem Käfig gelegen, nachdem Linus es mehrere Tage nicht gefüttert hatte, weil er mit Daisy auf einem Festival gewesen war. Ich hatte ihn damals ein bisschen dafür gehasst. Gleichermaßen, wie ich Daisy gehasst hatte.
Ich öffnete die E-Mail, der Bildschirm gab ein leises Geräusch von sich, als sich der Text Stück für Stück aufbaute.
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11:49, 28. November 2017
Betreff: Hilfe
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Meine Hände begannen zu schwitzen und ich schluckte schwer. Hilfe. Er steckte in Schwierigkeiten, ansonsten würde er so etwas nicht schreiben. Und ich, sein bester Freund, hatte mich seit Ewigkeiten nicht mehr bei ihm gemeldet und brachte als einzige Ausrede vor, dass ich mich nicht wohlfühlte und alles verwirrend war.
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Malte,
Womit soll ich beginnen?
Mir geht es gut. Aber seit du weg bist ist es schon dreimal passiert. Er war wieder da. Nur kurz. Doch die Frau im Bioladen hat mich komisch angeguckt, als ich einfach hinausgerannt bin und meine Einkäufe stehen ließ. Sie hat sie mir zurückgelegt. Ich mochte sie schon immer. Weil du sie nicht mochtest. Ich wollte dich damit ärgern.
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Natürlich erinnerte ich mich an die Frau mit den pinken Haaren, die jedes Mal, wenn man bei ihr eingekauft hatte, ihren Lippenstift nachzog und die Hälfte der Farbe auf ihren Zähnen verteilte. Von den Blowjobs, die sie angeblich gab, ganz zu schweigen. Aber gerade in diesem Moment interessierte mich diese billige Schlampe nicht. Ich las nur das Wort Er, immer und immer wieder.
Er war wieder da, Er. Und ich war weg. Linus hatte keinen, mit dem er sprechen, oder der ihm helfen konnte. Er war manchmal einfach bei ihm und beobachtete ihn, erzählte Linus mir immer wieder. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Aber als ich eines Tages die Zettel im Briefkasten gefunden hatte, glaubte ich ihm. Und die Rosen. Für einige Monate war er fort gewesen und ich hatte geglaubt, dass er Linus in Ruhe lassen würde.
Sogar Valentin hatte das gesagt.
Auf einmal kam alles zusammen. Ich schaffte es gerade noch zum Klo, bevor ich mich übergab. Ich würgte klare Spucke, bis die Krämpfe im Magen nachließen. Dann lehnte ich mich gegen die Wand und rutschte erschöpft an dieser hinunter. Als meine Wange auf den Boden auftraf, spürte ich die Tränen, die langsam mein Gesicht hinunterkrochen. Kalt tropften sie auf die hellen Fliesen. Mein Gehirn sprang im Teufelsdreieck hin und her.
Linus, Lennart, Valentin.
Valentin. Die Erinnerung an ihn schmerzte mehr, als ich es nach dieser Zeitspanne erwartet hatte. Ich konnte mir sogar den Geruch seiner blonden Haare ins Gedächtnis rufen.
Er glich Lennart. Seine Gesichtszüge waren härter und seine Augen blauer als die Lennarts, aber im Insgesamten waren sie sich ähnlich, ihre Charakterweise gleichermaßen verletzend.
Der Würgereiz setzte erneut ein und ich übergab mich ein zweites Mal. Danach blieb ich liegen und kühlte meinen dröhnenden Kopf an den Fliesen. Ich sollte aufstehen, ich musste, aber ich konnte nicht. Ich wollte nicht zurückkehren und Linus Worte lesen. Es war egoistisch, doch ich konnte ihn nicht trösten. Ich war zu schwach.
Ich vernahm Schritte auf der Treppe, hörte Hannes meinen Namen rufen und letztendlich die Badezimmertür öffnen.
Meine müden Augen trafen seine und ich fiel durch seine Pupillen in bodenloses Schwarz.
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