|2.Wunsch|

Malte|Das Wochenende bewegte sich schleppend voran. Ich saß die meiste Zeit mit Hannes und Gin in ihrer Wohnung, die neben meiner lag. Ich wollte eigentlich lieber alleine sein und mit Linus über WhatsApp chatten, doch Hannes meinte, dass es Linus belasten könnte, würde ich mich bei ihm ausheulen und so ließ ich es lieber bleiben. In mich hineinfressen sollte ich das Ganze seiner Auffassung nach aber auch nicht, deshalb saßen wir zu dritt auf Gins Bett und unterhielten uns. Ich dachte die ganze Zeit darüber nach, ob ich Gin anvertrauen sollte, dass ich plötzlich dieses seltsame Gefühl gegenüber dem Leben hatte. So, wie Hannes es beschrieben hatte.

Du hast das Gefühl irgendwas stimmt nicht aber gleichzeitig macht alles irgendwie Sinn.

Allerdings sah ich schließlich davon ab und sagte mir, dass Gin es noch früh genug erfahren würde, wäre es wirklich relevant.
Vielleicht, überlegte ich, redet Hannes dir nur etwas ein und du glaubst daran, weil es schwerer wäre ihm zu widersprechen. Du gehst immerhin gerne den Weg des geringsten Widerstands.
Na klar, man konnte ja auch alles auf andere schieben. Es war zum Haareraufen. Warum war auf einmal alles so kompliziert? Von einem Tag auf den anderen? Lennart musste mich nur umarmen und schon zweifelte ich an allem. Klischeehaft. Verantwortungslos. Und dumm.

Lennart|Ruby hatte geweint und mich angeschrien. Kyel war verhältnismäßig ruhig geblieben und hatte versucht sie zu besänftigen, während er Zack und mir unruhige Blicke zuwarf, der mir gehässig lächelnd seinen Plan erklärte.
Heute saß ich mehr oder weniger motiviert vor der Tür von Maltes Büro und kämpfte gegen die Müdigkeit. Ich durfte mich auf keinen Fall einschüchtern oder umstimmen lassen. Rubys und Kyels Existenz stand auf dem Spiel. Sie würden mir später noch danken, dass ich sie gerettet hatte.
Die Tür öffnete sich und ich stand missmutig auf. Malte ragte neben dem Türrahmen auf und sah mich schwach lächelnd an.

Ich zwang mich, nicht zurückzulächeln und ging mit schleppenden Schritten auf ihn zu. Malte machte eine kleine Geste, als würde er mich an der Schulter festhalten wollen, jedoch schob ich mich harsch an ihm vorbei und nahm auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch Platz. Einige wenige Momente blieb Malte verwirrt in der Tür stehen, dann schien er sich aufzuraffen und schloss die Türe.
Er setzte sich mir gegenüber und seufzte.

"Ich weiß nicht, ob ich letztes Mal etwas falsch gemacht habe, aber wenn dann...dann tut es mir leid. Können wir nicht einfach so weitermachen, wie vorher? Wir ziehen Wünsche und...dann erfüllen wir sie gemeinsam?"

Nein, können wir nicht, dachte ich.

"Warum?", hörte ich Ruby jammern.

Weil ich keine Lust habe.

"Weshalb muss Liebe so schwierig sein?", wimmerte Ruby kläglich und verschwand.

Liebe. Sicherlich nicht. Ich war lediglich darauf aus, sie zu schützen.

"Lennart? Ist das in Ordnung?", fragte Malte erneut vorsichtig.

Wie oft wollte er mir diese Frage noch stellen?

Ich antwortete nicht und streckte meine Hand nach der Glasbox aus, die auf dem Tisch direkt vor mir stand.
In Maltes Augen blitzte ein Funken Hoffnung auf.
Von wegen.
Ich griff in die Box und fühlte die weichen Kanten der Zettel an meinen Fingern. Vorsichtig hob ich die Finger und zog sie wieder aus der Box. Meine Hand war leer. Verdutzt sah Malte mich an.
Ich grinste schelmisch und drehte meine Hand um, sodass er die Innenfläche sehen konnte. Er atmete erleichtert auf. Er glaubte scheinbar, ich wollte ihn auf den Arm nehmen.

Ich streckte ihm die Hand mit dem Papierstück hin und er nahm es entgegen. Ich beobachtete, wie er das Papier auseinanderfaltete. Der Ausdruck, der sich in seinen Augen widerspiegelte, versetzte mir einen leichten Stich, irgendwo in der hinteren Ecke meines Herzens. Doch die Angst war stärker. Die Angst zu verlieren.
Malte räusperte sich und ich hörte an seiner Stimme, dass er aufgeregt war.

"Was meinst du damit?"

Ich zuckte die Schultern.

"Du lügst. Du weißt, was auf dem Zettel steht, oder? Du lächelst so scheinheilig."

Ich schüttelte den Kopf.

Er holte zitternd Luft und las die Worte vor.

"Wunsch 23, ihm sagen, was ich über ihn denke."

Er sah mich nahezu ängstlich an.

"Wer ist er?"

Ich zog ein Blatt von einem Papierstapel auf dem Tisch zu mir heran. Meine Hand krallte sich in die weiße Oberfläche, als ich schrieb.

Nehmen wir doch einmal an, du wärst es, das ist leichter.

Malte las den Zettel und nickte abwesend.

"Okay, dann bitte, äußere deine Meinung."

Die Hand, mit der ich den Stift hielt wackelte bedenklich, als ich ihn ansetzte.

Du bist das, was ich am meisten in meinem Leben hasse.

Das war wirklich gemein und fast hätte ich alles durchgestrichen und etwas anderes geschrieben. Aber eben nur fast.
Ich schob ihm den Zettel zu. Was sollte schon passieren? Er mochte mich nicht, nutzte mich wahrscheinlich sowieso nur für seine Zwecke aus, wie es alle realen Menschen taten. Möglich, dass Malte schon überlegte, wie er mich zum Sex bewegen konnte.
Nein, nicht möglich, daran glaubte ich nicht, obwohl ich es sollte, bei dem was man in der Klinik über ihn hörte.

"Also...hasst du mich?", fragte Malte mit einer wackeligen Stimme und ich schenkte ihm ein abwertendes Nicken.

"Warum?", fragte er auf einmal.

"Es lief doch ganz gut zwischen uns. Du hast mich vor dem Wochenende sogar...umarmt. Und jetzt, jetzt verabscheust du mich?"

Es lief doch ganz gut zwischen uns. Es lief doch-
In meinem Magen begann ein großer Klumpen zu glühen. Meinte ich, dass er nicht auf das aus wäre? Auf die sexuelle Hinsicht bezogene Handlungen? Ich revidierte umgehend, wie naiv ich gedacht hatte.

Zwischen uns lief nichts, läuft nichts und wird auch nichts laufen, sagte ich.

"So meinte ich das nicht. Warum nimmst du auf einmal alles so ernst, was ich sage? Du legst jedes Wort auf die Goldwaage."

Das ist nicht wahr! Ich bin nur vorsichtig, bevor irgendwas Schlimmeres passiert.

Malte sah mich seltsam an.

"War das, was am Freitag passiert ist, schlimm für dich,  Lennart?", erkundigte er sich mit dünner Stimme.

Nein, war es nicht und eigentlich hätte ich das auch genau so sagen sollen. Doch an diesem Punkt erreichten die angestauten Gefühle ein Macimum und das sprichwörtliche Fass lief über. Ich sprang auf und funkelte den Mann vor mir, dessen Miene undeutbar war, hasserfüllt an. Und dann rannte ich. Rannte bis zu meinem Zimmer und vergrub meinen Kopf unter dem Kissen. Ich wusste, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Aber jetzt war es zu spät. Die Lawine war ins Rollen geraten.

Malte|Der Weg zurück zur Wohnung war verschwommen, was wohl der Tatsache geschuldet war, dass Tränen in meinen Augen standen. Meine Beine bewegten sich, aber ich bekam es nicht wirklich mit. Irgendwann schloss ich die Tür zum Treppenhaus auf und fiel Hannes förmlich in die Arme, der auf mich gewartet hatte.

"Du meine Güte, was hat der kleine Idiot getan?", knurrte der Braunhaarige und ich schluchzte verzweifelt, wollte ihm sagen, dass es mein Fehler war, dass ich der Idiot war, aber mir kam kein Wort über die Lippen.

"Liebe ist hart", brummte Hannes.

Danach machte er mir einen Kamillentee und verfrachtete mich mit einer Decke auf die Couch des großen Wohnzimmers.

"So, und jetzt erzähl mir doch mal, was er getan hat?", verlangte Hannes und strich mir vorsichtig ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.

Es war eine Geste, die Linus oft benutzt hatte, wenn ich krank gewesen war. Damals, als es ihm noch gut ging, als er noch mit Daisy zusammen gewesen war. Später hatte ich diese Rolle übernommen.

"E-er hat gesagt, dass es schlimm für ihn war, aber er hat e-es doch zugelassen, ich dachte...ich bin so ein Idiot! Ich habe ihn bederängt und jetzt...U-und jetzt sagt er, dass er mich hasst. Ich weiß, es ist falsch, es ist alles so verdammt unprofessionell und aber...es tut weh, Hannes", presste ich hervor und kämpfte die Tränen zurück.

Hannes zog mich zu sich und ich drückte meinen Kopf in sein T-Shirt, um die Tränen zu ersticken. Ich war in meinem Leben schon ein- oder zweimal verliebt gewesen, aber der Kummer einer Beziehung war bisher glücklicherweise immer an mir vorbeigegangen, weil ich mit meinen Ex-Freundinnen nie lange zusammen gewesen und immer eher freundschaftlich verblieben war.

Diesmal war es ganz anders. Ich mochte Lennart, ich mochte ihn auf eine Art, die sich in Hinblick auf unsere professionelle Beziehung unangemessen anfühlte, unangemessen war, die so nicht sein durfte.

"Mir ist bewusst, dass dir das eigentlich ein ganz anderer Mensch zu einer komplett anderen Zeit sagen sollte", murmelte Hannes irgendwann, als ich mich in einem angenehmem Halbschlaf befand, meine Augen müde und meine Lider schwer.

"Ich...liebe dich auch, Malte. Nur irgendwie anders."

Dann glitt ich weiter in einen unruhigen Schlaf.

Er war einer meiner Patienten gewesen. "Ein reiches Anwaltskind", hatte er sich selbst genannt, jung, gerade volljährig. Ich wusste nicht einmal richtig, woher er kam. Er spazierte eines Tages einfach in die  Gemeinschaftspraxis, lehnte sich an den Tresen, an dem ich mit einer Arbeitskollegin stand und fragte gelassen:

"Du weißt nicht zufällig, wo ich hier einen Malte finde, oder, Baby?"

Ich drehte mich um und blickte in die blauen Augen eines blonden jungen Mannes.

"Das muss sie gar nicht wissen, weil er vor Ihnen steht", sagte ich, bevor die Empfangsdamr etwas sagen konnte.

"Oh."

Er beugte sich zu mir, streckte mir seine Hand entgegen.

"Dann bin ich bei Ihnen richtig. Sie wissen schon, Therapie eines Vollidioten, so in etwa müsste meine Mutter das bei Ihnen vermerkt haben."

Ich schüttelte ernst den Kopf.

"Von Vollidioten hat sie nichts gesagt. Nur davon, dass du- ich darf doch 'Du' sagen?- dass du mit deiner aktuellen Familiensituation nicht zurecht kommst."

"Wie nett, dass sie diesmal die wesentlichen Details ausgelassen hat."

"Tut sie das sonst nicht?"

Er schüttelte langsam den Kopf.

"Nein, sonst nie."

Die Therapiestunden begannen im Juni. Es war warm, die Vögel sangen und ich hatte das Fenster geöffnet, um wenigstens die Ilussion aufrecht zu erhalten, dass die Luft draußen kühler wäre und jederzeit ein kalter Windhauch durchs Zimmer ziehen könnte.
Er saß mir gegenüber, hatte die Arme verschränkt und lächelte mich an.

"Also, nur zum mitschreiben. Du hasst deinen Vater."

"Bis aufs Blut."

"Und deine Mutter?"

"Hasse ich genau so, wie ich euch Psychologen hasse", sagte er und lachte.

Ich wusste nicht, ob er diese Worte ernst meinte.

"Ich liebe dich", sagte er und küsste mich sanft auf die Wange.

"Große Worte für einen Idioten", feixte ich.

Er grinste, doch ich glaubte eine Spur Trauer in seinen Zügen auszumachen.

"Das sind sie", antwortete er.

Entgeistert sah ich meine Arbeistkollegin an.

"Er kommt heute nicht?", erkundigte ich mich.

Sie schüttelte den Kopf.

"Du verstehst nicht, Malte."

Sie seufzte und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht.

"Er kommt nicht mehr wieder, Malte."

Sie packte mich am Arm und sah mich fest an.

"Valentin ist tot."

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