|1.Wunsch|

Malte|Lennart war sauer. Das spürte ich, als er am Donnerstag vor mir saß, die Zettel mit Wünschen, die er die ganze Therapiestunde über mit flinker Hand abgeschrieben hatte vor sich liegend, alle in der Mitte geknickt, damit man die Schrift nicht lesen konnte, und mich nicht ansah.


"Ich sehe schon, die Vorfreude ist riesig", grummelte ich, während ich die Zettel in eine mitgebrachte Glasbox steckte, die ich von Hannes heute früh zugesteckt bekommen hatte.

"Ich finde es zwar nicht gut was du tust, ganz und gar nicht, aber ich vertraue dir", hatte er geflüstert und mein Gewissen noch verschlimmert.

Ich schüttelte den Glaskasten ein wenig und mischte die Zettel so, wie in einer Lotterie.
Dann stellte ich die Box auf den Tisch und blickte Lennart abwartend an.

"Möchtest du ziehen oder soll ich?"

Lennart warf mir einen hasserfüllten Blick zu, der anscheinend bedeuten sollte, dass er unter keinen Umständen bei meiner Methode mithelfen würde.
Verdammt, so würden wir niemals weiterkommen.

Ich seufzte, stand auf und lief um den Tisch herum, drehte Lennarts Stuhl zu mir, was überraschend leicht war und hockte mich vor ihn hin. Sein Blick war trotzig auf mich gerichtet und seine Arme hatte er vor der Brust verschränkt, wie ein bockiges Kind.

"Hör zu, Lennart, es tut mir leid, dass ich die Liste aus deinem Zimmer gestohlen habe. Aber ich will dir helfen, unbedingt sogar und dafür müssen wir beide zusammenarbeiten. Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich nie wieder etwas entwenden werde, das dir gehört, aber tu mir den Gefallen und mach mit. Es wird dir Spaß machen, das weiß ich", sagte ich und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel.

Er atmete tief ein und aus, bevor er langsam nickte. Ich lächelte sanft.

"Ist jetzt alles wieder gut?"

Er streckte den Daumen in die Höhe und bejahte somit.
Ich wusste nicht warum, aber irgendwie fiel mir ein Stein vom Herzen.
Ich setzte mich wieder auf meinen Platz, überkreuzte das linke mit dem rechten Bein und deutete mit dem Kopf auf die Glasbox.

"Du oder ich?"

Er beugte sich über den Tisch und tippte mich sanft an der Schulter an. Ich grinste unwillkürlich, unerfindlich froh darüber, dass er mir so schnell verzieh (wenngleich ich bei ihm skeptischer sein sollte), und öffnete den Kasten, um ihm einen Zettel zu entnehmen. Diesen klappte ich auf und begutachtete die rote Schrift darauf.

12. Einen Moment stehenbleiben und an nichts denken müssen.

"Inwiefern?", fragte ich, während ich den Zettel zusammenfaltete und zur Seite legte.

"Wann kannst du einen Moment anhalten und musst an nichts denken, Lennart?"

Er kaute auf seiner Lippe sah mich unsicher an und stand dann in Zeitlupe auf. Ich erhob mich ebenfalls.

"Was soll das, Lennart?", fragte ich forschend.

Wenn er jetzt gehen würde, würde ich Schwierigkeiten haben ihn wieder hierher zu bekommen.
Mein Patient knetete unruhig die Hände und blickte mich nicht an. Vorsichtig ging ich einen Schritt auf ihn zu, sodass ich direkt vor ihm stand und hoffte ihn nicht zu verschrecken. Ich setzte soeben zum Sprechen an, und wollte vorschlagen, dass wir erst einmal einen anderen Wunsch ziehen könnten, wenn ihm dieser zu unangenehm war, als er plötzlich an mich herantrat und sich an mich drückte. Reflexartig wollte ich einen Schritt zurücktreten, besann mich aber eines besseren und  legte vorsichtig einen Arm um seinen Körper.

Im ersten Moment setzte mein Herzschlag aus, und ich wusste nicht einmal weshalb. Ich hatte in meinem Leben mehrere Jungen umarmt und davon waren mir viele weit aus bekannter, als Lennart. Möglicherweise der Schreck, redete ich mir ein. Man wurde ja nicht alle Tage ohne Vorwarnung von halb fremden Menschen umarmt.
Vorsichtig, um zu sehen, ob er es tolerierte, festigte ich meinen um ihn geschlungenen Arm etwas. Lennart regte sich nicht, doch als sich seine bisher ziemlich steife Haltung lockerte und er seine Schultern nach unten sacken ließ, wusste ich, dass es für ihn in Ordnung war. Dass es für uns beide in Ordnung war. Dass wir uns einfach umarmten, damit es ihm besser ging. Und das war völlig passabel für mich.

Eine Weile standen wir einfach nur so da. Nah wie wir waren nahm ich einen leichten Geruch von Lakritz und Minze wahr, der ihn umhüllte. Verdammt, das ist definitiv nicht angemessen, es reicht jetzt.
Als ich ihn langsam wieder loslassen wollte, krallte er sich in mein Shirt.

"Willst du nicht aufhören?", fragte ich gedämpft.

Lennart schüttelte langsam den Kopf, hielten den Blick jedoch gesenkt. War es ihm plötzlich unangenehm?

"Lennart, geht es dir gut?", fragte ich murmelnd.

Er antwortete darauf nicht und ich befreite mich aus seiner Umklammerung und bat:

"Guck mich mal an, Lennart, bitte."

Er regte sich nicht. Sanft brachte ich ihn dazu, mich anzusehen. Seine grünen Augen waren ausdruckslos, allerdings erkannte ich einen Hauch von Angst, der sie durchzuckte.

"Du musst dich nicht...fürchten, Lennart", sagte ich mit ruhiger und weicher Stimme.

Er versuchte seinen Kopf aus meinem Griff zu winden, doch ich drückte ihn bestimmt wieder zurück. Lennart wimmerte.

"Es ist in Ordnung, Lennart", sagte ich und er stoppte seine Bemühungen und sah mir wieder in die Augen.

Ohne ein weiteres Wort zog ich ihn in meine Arme, ließ ihm genug Freiheit, sich wenn nötig aus meinem Griff zu winden, während in meinem Gehirn eine erste Alarmglocke anstieß. Er ließ es geschehen. Ich neigte meinen Kopf so, dass sich meine Lippen nah an seinem Ohr befanden.

"Wäre es nicht okay, hätte ich nicht den Vorschlag mit der Wunschliste gemacht. Ich wusste ja, dass du dir praktisch alles wünschen kannst. Ich war nicht ganz darauf vorbereitet."

Ein leises Lachen folgte meinen Worten, als ich seine Gänsehaut bemerkte und spürte, wie sich seine Lippen an meiner Brust zu einem Lächeln verzogen. Well, fuck.

Lennart|"Mein Gott, der Junge hat sie nicht mehr alle, glaube ich", verkündete Zack lauthals.

"Was du nicht sagst", brummte ich.

"Das meine ich nicht. Dass du im Kopf bekloppt bist, weiß ich am besten, schließlich redet sonst keiner mit seinem Über-Ich. Ich rede davon, dass du vor einer Woche in deine Wunschliste geschrieben hast, ich zitiere, dem neuen Psychologen das Leben zur Hölle machen. Und heute? Heute umarmst du ihn? Du bist widerlich. Das ist widerlich. Du hast gesabbert, das habe ich genau gesehen."

"Habe ich überhaupt nicht!"

"Morgen küsst ihr euch wahrscheinlich. Dann schlabberst du ihm die Spucke aus dem Mund. Und übermorgen schlabberst du an Dingen in anderen Gebieten."

"Halt die Fresse!"

"Schwanzlutscher!"

"Du sollst die Fresse halten!"

"Zack, hör auf Lennart zu beleidigen!", hörte ich Rubys kreischende Stimme.

"Jetzt kommt auch noch das Fuchsmädchen. Und der Vollpfosten gleich hinterher", knurrte Zack.

"Ich kann dich hören, Zack!", schrie Ruby.

"Ich weiß!", brüllte Zack.

Leiser brummte er zu sich selbst:

"Warum habe ich mir nur den Job in diesem verkorksten Gehirn ausgesucht?"

"Augen auf bei der Berufswahl!", keifte ich.

Zack streckte mir den Mittelfinger entgegen und im nächsten Moment befanden sich Ruby und Kyel bereits neben mir.

"Was hat er gesagt?", wollte Kyel wütend erfahren.

"Die Wahrheit", beteuerte Zack.

"Du hast ihn beschimpft", stellte Ruby klar und deutete auf mich.

"Beschimpft? Er ist schwul, Mädchen! Er sinkt immer tiefer! Demnächst hat er Aids, weil er mit seinem Psychologen schläft!"

"Du hast sie doch nicht mehr alle! Es ist nicht schlimm, dass Lennart Malte liebt. Jeder kann jeden lieben. Außerdem kann man Verhüten", kommentierte Ruby.

"Und er kann niemanden schwängern", fügte Kyel hinzu.

"Ich bin nicht in Malte verliebt", flüsterte ich peinlich berührt.

"Du bist ein ganz schlechter Lügner, Lenniboy", sagte Zack gelangweilt.

"Das ist doch nicht schlimm, Lennart", versuchte mich Ruby aufzumuntern.

"7,4 Prozent der Deutschen sind homosexuell", sagte Kyel.

"Traue nie einer Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast", grummelte Zack.

"Sei still, du verunsicherst ihn", fauchte Ruby.

"Da gibt es nichts zu verunsichern, er ist schon mit Schwulität infiziert", knurrte Zack.

"Homophobes Arschloch", schimpfte Kyel.

"Sag nichts "Er", ich bin das Über-Ich, ich bin so etwas wie dein Chef."

"Dann kündige ich eben."

"Kannst du nicht."

"Du bist von mir abhängig."

"Warum sollte ich?"

"Jeder andere Vorgesetzte würde seinen Angestellten rausschmeißen, wenn er ihn so aufregen würde, wie ich dich."

"Wir sind schizophren bedingte Stimmen, keiner von uns kommt hier heraus", säuselte Zack.

"Schizophrenie kann man heilen", rief Ruby dazwischen.

"Dann wärt ihr weg", stellte ich entgeistert fest.

"Nein. Wir wären lediglich leiser", beruhigte Ruby mich.

Doch ich wollte ihr nicht zuhören.

"Ihr dürft nicht weg sein! Ihr nervt mich des Öfteren, aber ohne euch...kann ich nicht!"

"Dann verliebe dich nicht in Menschen, die uns vertreiben wollen. Ich dachte, Punkt vierzig ist, ihn zu hassen, oder hast du ihn geändert?"

"Nein."

"Dann hör auf mit ihm...rumzumachen und fang endlich mit deinem Vorhaben an!", schrie Zack erzürnt.

"Bloß nicht! Lennart, du weißt, dass wir nicht wichtig sind. Wir existieren nicht im echten Leben. Wir sind nicht real. Malte aber schon", sagte Ruby mit Nachdruck.

"Aber ich brauche euch", murmelte ich.

"Tust du nicht. Bis vor zwei Jahren waren wir noch gar nicht in deinem Kopf und da hast du dein Leben ebenfalls gemeistert", sagte Kyel sanft.

"Jetzt nicht mehr."

"Doch."

"Nein."

"Nein", bestätigte Zack gehässig.

"Doch", beharrte Ruby.

"Du schaffst das allein, das-"

"Was soll ich tun, damit er mich hasst?", fragte ich.

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