|06 - Von stillen Worten, lautem Schweigen und roten Buchstaben|
Malte|Seine Augen waren grün. Undefinierbar grün. Hellgrün. Kein Grün, wie man es auf einer Sommerwiese sehen kann, sondern die Farbe eines kühlen Waldsees inmitten eines dichten Waldes in einem heißen Sommer. Ein hoffnungsvoller Farbton, der durch die Leere in seinen Augen jedoch hilflos und verloren wirkte. Er hatte schöne Augen.
"Lennart ist Fremden gegenüber immer ein wenig verschlossen, also erhoffen Sie sich nicht zu viel von den ersten Gesprächen", raunte mir der Therapeut zu.
Er lächelte Lennart dabei fröhlich an, um ihm weiszumachen, dass wir über etwas völlig belangloses sprachen.
"Ich erhoffe mir sogar sehr viel", erwiderte ich, jedoch in normaler Lautstärke.
Dr. Kirch sah mich zuerst erschrocken und kurz darauf warnend an.
"Überfordern Sie ihn bloß nicht, er ist sensibel", zischte er, schob sich an mir vorbei zur Tür und drehte sich schon fast den Raum verlassend um.
"Der Chef möchte Sie im Übrigen später in seinem Büro sprechen."
Ich zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm mit einem dröhnenden Knall ins Schloss fiel.
"Vielen Dank für die umfassende Erklärung des Weges", knurrte ich.
Wirklich reizende Kollegen, die ich bisher kennengelernt hatte. Blieb lediglich zu hoffen, dass der Patient sich als angenehm entpuppte. Ich drehte mich abrupt zu ebendiesem um. Er saß aufrecht in seinem Sessel, hatte seine Hände miteinander verschlungen und auf seinen Beinen abgelegt. Sein Blick lag auf mir, doch seine Aufmerksamkeit schien meilenweit von mir entfernt zu liegen. Seine Iris war leer und nur die Lichtreflektion der durch das Fenster hereinströmenden Sonne konnten auf Leben in seinem Körper erahnen lassen.
Also gut, dann würde ich meinen Patienten jetzt in das Dasein der Wirklichkeit zurückholen.
"Ist es schön, da wo du bist?", fragte ich sarkastisch und betrachtete angestrengt die Wand hinter ihm.
Als keine Antwort erfolgte, sah ich ihn wieder an und als hätte er genau auf diese Reaktion meinerseits gewartet, nickte er hastig aber kaum merklich.
Verdammt, er beherrschte die Taktik des Provozierens ebenfalls. Der Überraschungsmoment war damit wohl verschenkt. Die beste Verteidigung ist der Angriff, sagte ich mir und ließ mich dann provokativ auf dem Sessel gegenüber von Lennart fallen. Dann würde wir doch einmal sehen, ob er so sensibel war.
Lennart zeigte keine weitere Regung auf meine Tat, er folgte mir allerdings weiterhin mit seinen Augen.
"Soll ich mich dir vorstellen?", fragte ich scheinheilig.
Keine Reaktion.
"Ich bin Malte. Du bist Lennart. Und ich bin nicht schwul", fügte ich nachdrücklich hinzu.
Ich hätte schwören können, dass seine Mundwinkel leicht zuckten. Doch sagen tat er nichts.
"Von einem Stummen hätte ich eigentlich mehr erwartet", murmelte ich trocken.
Ich hatte in meinem Plan nicht nur das zweitausendmalige Durchlesen der erstaunlich mageren und nichtssagenden Patientenakte integriert, sondern auch meinen "Provozieren geht vor einfühlen-Schachzug". Jedenfalls hoffte ich, dass dieser Junge ein Fall war, den man nur hart genug herausfordern musste, um ihn zum Sprechen zu bringen. Die innere Stimme, die mir einredete, dass mehrere gescheiterte Psychologen vor mir die gleiche Strategie gehabt haben könnten, ignorierte ich.
Ganze fünf Minuten, die mir eher wie Stunden vorkamen, saßen wir da und lauschten der immer lauter werdenden Stille. Letztendlich hielt ich es nicht mehr aus und durchbrach das quälende Schweigen mit versöhnenden sanften Worten.
"Hör zu, Lennart, ich bin mir sicher, dass du keine Lust hast hier zu sein", genauso wenig wie ich, fügte ich in Gedanken hinzu, "aber ich bin nun einmal hier, um dir zu helfen. Und dazu wäre es ganz nützlich, wenn du ein bisschen gesprächiger werden würdest."
Zeitlupengleich hob Lennart den Kopf und eine grüne Welle schwappte mir entgegen. Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, als hätte Lennart tatsächlich einen Eimer mit Eiswasser über meinem Kopf ausgekippt. Die See-Augen starrten mich eine Weile an, bis Lennart plötzlich anfing, in seiner Tasche zu kramen. Entweder schlug die Behutsamkeit an, oder Lennart suchte gerade nach einem Taschenmesser, mit der er mich ruhig stellen konnte. Zu meiner Verwunderung zog er jedoch ein zerknittertes Blatt und einen roten Buntstift heraus und begann etwas auf den Zettel zu schreiben. Seine Hand bewegte sich dabei hektisch, so als müsste er die Worte aufschreiben, bevor er es sich anders überlegen konnte. Schließlich schob er mir den Zettel herüber.
Nein.
"Nein? Nein, was? Nein, ich rede nicht. Nein, ich habe keine Lust auf Sie. Nein, ich-"
Er zog mir den Zettel wieder aus der Hand und schrieb erneut etwas darauf. Als er ihn mir das nächste Mal zuschob, standen dort die Worte
Nein zu allem.
"Verstehe", murmelte ich.
Lennart schaute mich fast schon anklagend an.
"Gut, ich verstehe es nicht. Was ich verstehe ist, dass du nicht sprichst, dass du mir ziemlich einsilbig über Zettel und in roter Schrift antwortest und das deine Grundeinstellung auf dem Wort "Nein" zu basieren scheint", gab ich zu.
Er nickte leicht und lehnte sich etwas in seinem Stuhl zurück. Er wirkte, als würde er auf meine nächste Frage warten. Die konnte er gerne haben, wo mir mindestens Vierhundert im Kopf herumschwirrten. Ich griff zu der naheliegendsten.
"Was meinte der...nette Arzt, der mich hergeführt hat mit "ein Zwischenfall mit ihrem Patienten"? Was war hier los, Lennart?"
Es dauerte keine Minute, bis ich das Blatt in der Hand hielt. Diesmal hatte er etwas gezeichnet. Eine ovale Kapsel mit einem tiefliegenden Strich in der Mitte.
"Tabletten?", riet ich.
Lennart zuckte mit den Schultern.
"Drogen?", fragte ich forschend.
Schulterzucken.
"Sieh mir in die Augen, Lennart", sagte ich und wider Erwarten tat er, was ich von ihm verlangte.
"Keine erweiterten Pupillen", stellte ich fest.
Das musste allerdings nichts heißen. Meine Kenntnisse im medizinischen Bereich beschränkten sich auf Psychologie. Immerhin war ich kein Psychiater.
"Also keine Drogen. Dann müssen es Tabletten gewesen sein", mutmaßte ich.
Wenige Sekunden später hatten neue Buchstaben ihren Weg auf das Papier gefunden.
Ich weiß nicht.
"Das weißt du ganz genau. Du bist vielleicht introvertiert, aber nicht dumm."
Langsam machte es mich verrückt, dass er entweder nichts tat, oder winzige Signale gab. Wie sollte das nur in sechs Monaten aussehen?
"Was muss ich machen, damit du mir schreibst, was passiert ist?", fragte ich kapitulierend.
Roter Buntstift flog über weißes Papier.
Der Zettel glitt zu mir herüber.
Die Buchstaben waren so unordentlich, wie die vorherigen Nachrichten, doch der Satz, den sie bildeten war anders.
Offener. Ausdrucksstärker.
Mir beweisen, dass es Hoffnung gibt.
Darunter standen die Worte:
Geradeaus. Links. Zweite Tür. Büro.
Ich lächelte verzweifelt.
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