|04 - Vom Anfang und blauen Augen|
Malte|„Also würdest du nicht sagen, dass Liam mit Drogen dealt?", fragte ich, drückte mich noch weiter in das bequeme Polster des Stuhles und inhalierte die kühle Abendluft.
Eine Dachterrassen hatte schon etwas für sich, das musste ich zugeben. Die leuchtenden Sterne am Himmel und der Anblick der Berliner Skyline in der Ferne war einfach atemberaubend.
Gin schnaubte. Ihr Gesicht war in der Dunkelheit kaum erkennbar.
„Ich mag Greenie und bin ihr dankbar, dass sie mich hat einziehen lassen, aber ich finde in der Sache mit Liam geht sie zu weit. Er ist einundzwanzig und sie ist nicht seine Mutter."
Ich nickte geistesgegenwärtig.
„Mag sein", stimmte ich zu.
Gin ließ sich auf dem Stuhl mir gegenüber nieder.
„Das mag nicht nur sein, es ist so. Greenie übertreibt maßlos. So wie sie Liam eben angeschrien hat, hat es bestimmt halb Berlin mitbekommen. Und das war nicht das erste Mal. Sie streiten fast jeden Abend seit ich hier bin."
Natürlich hatte ich das Geschrei ebenfalls gehört, was auch kein Wunder war. Greenies Stimme war so kraftvoll, dass sie einen Braunbären aus dem Winterschlaf hätte reißen können.
Gin schwieg eine Weile, dann fragte sie mit belegter Stimme:
„Was, wenn es meine Schuld ist, dass sie streiten?"
Ich sah sie stirnrunzelnd an.
„Warum sollten sie wegen dir streiten? Sie könnten sich genauso gut wegen Hannes oder Fynn anschreien."
Gin sah mich unentschlossen an.
„Weshalb müssten sie wegen den beiden streiten?"
„Warum wegen dir?"
Gin erwiderte daraufhin nichts, erhob sich und lief über die Dachterrasse zur gläsernen Tür.
„Gute Nacht, Malte", murmelte sie.
Ich wandte mich kopfschüttelnd ab und vernahm hinter mir die Geräusche von Gins Schuhen, die sich durch das an die Terrasse angrenzende Wohnzimmer entfernten. Ich legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Sterne am nachtschwarzen Himmel. Man sagte doch, dass man jedes Mal die gleichen Sterne beobachtete, egal wo man war. Das bedeutete, dass Linus jetzt vielleicht ebenfalls die Himmelskörper betrachtete, die ich sah.
Irgendwie gab mir das ein Gefühl von zu Hause. Ein Gefühl davon, dass Linus bei mir war, obwohl er sich wahrscheinlich meterweit weg in seinem Bett in Essen wälzte und zu seinen Schlaftabletten griff, die immer auf seinem Nachttisch standen, weil er seit Jahren unter Schlaflosigkeit litt, und sie mit einem Schluck Wasser herunterspülte. Eine. Zwei. Drei. Vier. Dann lehnte er sich zurück und schlief ein, träumte eine Ewigkeit und ich würde ihn irgendwann auffinden, wenn ich wieder zurückkommen würde. Schlafend. Friedlich sterbend.
"Der Stress", murmelte ich vor mich hin.
Es musste der Grund sein. Die neuen Menschen und das fremde Haus. Meine Gefühlswelt spielte wohl verrückt. Und anscheinend nicht nur meine. Gin schien ebenfalls vollkommen am Ende zu sein. Ich kannte sie noch nicht besonders lange und ich war nicht wie der Psychologe in Büchern, der mehr oder weniger durch Köpfe und Wände blicken konnte, aber man sah ihr den Schlafmangel an.
Sie hatte mir erzählt, dass sie erst seit zwei Wochen in der WG wohnte, die insgesamt Greenie gehörte. Gin hatte Greenie auf einem Konzert der "Imagine Dragons" kennengelernt und von dieser den Vorschlag erhalten preiswert in ihrer Wohngemeinschaft einzuziehen- während Dan Reynolds die Verse 'Cause you're a natural, a beating heart of stone schmetterte, woran Gin sich noch lebhaft erinnern konnte. "Und da man als Praktikantin in einem Musikgeschäft nicht besonders gut verdient, war das meine Chance", hatte sie erzählt, als wir im Wohnzimmer saßen und auf die Schritte der anderen WG-Bewohner lauschten. Wenngleich ich die Vorstellung kitschig fand, dass es Schicksal war auf dem Konzert seiner Lieblingsband auf den zukünftigen Vermieter zu treffen, gab ich ihr recht. Man verdiente wirklich grottig.
"Sind die Temperaturen nicht ein wenig zu kalt, um die ganze Nacht draußen herumzusitzen?"
Ich drehte mich erstaunt zur Glastür um und konnte die Umrisse einer schlanken Frau erkennen. Das Licht in ihrem Rücken hüllte ihre Silhouette in einen warmen Schein. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen, aber ich kannte ihre Stimme von den Telefonaten, die wir geführt hatten. "Greenie", stellte ich fest. Die Frau lachte leise und nahm auf dem Stuhl Platz, auf dem bis eben noch Ginnea gesessen hatte.
"Findest du es unhöflich, wenn ich mich nicht vorstelle?", erkundigte sie sich.
"Nicht im geringsten", erwiderte ich.
"Die Stimme des jeweils anderen ist uns ja durch die Telefonate beiden geläufig. Also kennen wir uns ja praktisch."
"Kennen und kennen, das sind zwei Paar Schuhe. Ich habe dich jedenfalls noch nie gesehen, aber wenn du meinst, dass wir und durchs Telefonieren bekannt sind, kennen wir uns in gewisser Weise, ja."
Greenie sah mich amüsiert an. Im schwachen Mondlicht und von der Seite ein wenig beleuchte, konnte ich ihre Haarfarbe auf ein dunkles Blond erahnen. Ihr Gesicht erschien mir schmal.
"Es tut mir leid, dass ich erst jetzt da bin und Gin den Vortritt beim Empfang lassen musste, aber wie du mitbekommen haben müsstest, musste ich eine kleine Meinungsverschiedenheit mit Liam klären."
Scheinbar wusste Greenie nur allzu gut wie laut sie und Liam ihre "Meinungsverschiedenheiten" ausfochten.
"Habe ich", antwortete ich lediglich.
Greenie nickte entschuldigend.
"Nicht das Schönste, was man am ersten Abend seines Aufenthaltes in Berlin hören kann, denke ich."
"Nein."
"Aber du kennst ihn nicht."
"Nein."
Greenie schwieg wieder eine Weile, dann fragte sie vollkommen unvermittelt:
"Hannes und Fynn aus dem ersten Stock haben sich noch nicht vorgestellt, oder?"
"Nicht das ich wüsste", murmelte ich.
Auf einmal umspielte ein leichtes Lächeln die Lippen der Blonden.
"Schüchtern sind sie eben immer noch."
Ich horchte auf.
"Was heißt immer noch?"
Doch Greenie schüttelte den Kopf.
"Lass dir das von ihnen erklären."
Sie verschränkte ihre Hände in ihrem Nacken und fixierte mich mit ihren Augen.
"Ich vermute, dass Gin vergessen hat dir zu sagen, dass die Gemeinschaftsküche im dritten Stock ist? Ein Badezimmer hast du in deiner Wohnung, aber das wirst du bestimmt bereits bemerkt haben, nicht wahr?"
Nein, hatte ich nicht. Ich war vom Wohnzimmer nur hastig in meine neue Wohnung gelaufen, die diesem direkt gegenüber lag und hatte meine Sachen abgestellt. Auspacken war nicht meine Stärke, selbst in meinem Apartment in Essen standen noch unangetastete Kartons, die seit meines Einzuges keines Blickes mehr gewürdigt hatte.
Ich zuckte mit den Schultern.
Greenie lachte und es hörte sich ehrlich belustigt an. Sie gab ihre Sitzposition auf und stützte stattdessen ihre Hände auf ihre Oberschenkel, sodass sie mir näher als zuvor war.
"Morgen ist dein erster Arbeitstag soweit ich das verstanden habe. Therapeut in einer Klinik. Interessanter Job. Was sagt denn der Meisterpsychologe zu seinen neuen Mitbewohnern?"
Mir wurde etwas flau im Magen, wenn ich an den morgigen Tag dachte und ein anderes unangenehmes Gefühl zog sich durch mein Herz, wenn ich an meine Mitbewohner erinnert wurde. Greenie, die Meisterin der plötzlichen Themenwechsel zu sein schien und Liam, der allem Anschein nach eine stark rebellische Seite hatte, waren die ersten Problemzonen, die mir ins Auge fielen und Ginnea folgte direkt danach. Sie wirkte auf mich sensibel. Zu sensibel. Sie kamen mir allesamt komisch vor. Von Fynn und Hannes erst gar nicht anzufangen, die ich bisher noch kein einziges Mal gesehen hatte. Um nicht antworten zu müssen, erhob ich mich rasch.
"Ich sollte ins Bett gehen, ich möchte morgen pünktlich sein", sagte ich ohne Greenie anzuschauen und verschwand ins Haus.
Ich fluchte leise als der ältere Mann vor mir spontan entschied, eine Pause mitten auf dem Gehsteig einzulegen. Ich war spät dran und das Schicksal schien es mir nicht unbedingt leichter machen zu wollen. Etwas ungestüm drängelte ich mich an dem Mann vorbei, der mir missbilligende Blicke zuwarf und rannte den gepflasterten Weg zu dem weißen Flachdachbau, der sich über mehrere Stockwerke erstreckte entlang und den ein Schild mit der Aufschrift "CHARITÉ" zierte. Ich konnte die Uhr in meinem Hinterkopf förmlich ticken hören. Ich verschnellerte mein Tempo noch ein wenig, obgleich sich ein stechendes Ziehen unter meinen Rippen breit machte.
Atemlos und ohne auf mein Umfeld zu achten, setzte ich zu einem raschen Endspurt an. Der weiche Widerstand, den ich auf einmal spürte, riss mich nicht nur aus meinem zielstrebigen Rennen, sondern auch zu Boden. Ich spürte Pflastersteine in meinem Rücken und blickte in ein Ozeanblau, in dem sich helles Sonnenlicht spiegelte.
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