|03 - Von einer Wohngemeinschaft und einer Praktikantin mit Künstlernamen|
Malte|Die Hochhäuser rasten am Fenster des Zuges vorbei. Sie waren dunkel und kalt. Alles hier war kalt. So weit das Auge reichte nur Stein und Beton. Ich stützte den Kopf auf meine Hand und strich mir eine hellbraune Haarsträhne, die sich aus meiner Frisur gelöst hatte aus der Stirn. Nicht das mir die Stadt unbekannt gewesen wäre, ich hatte ja in München studiert und ein Jahr in Essen gearbeitet- was daraus resultierte, dass ich Linus dort besser hatte beistehen können, als seine Depression ihren Höhepunkt erreichte. Aber Berlin war anders. Es war unpersönlicher und gefüllt Menschen, die so taten, als wenn es niemand anderen um sie herum gebe. Voller Narzissmus und bunten Ausbrüchen von Wut an unschuldigen Wänden, die die meisten als "Graffiti" bezeichneten. Alles in mir wiederstrebte der Vorstellung für ein halbes Jahr hier zu leben. Jedenfalls in den Teilen der Stadt, die ich vom Zug aus gesehen hatte.
Der silberne Zeiger meiner Armbanduhr wanderte über die römische fünf, die auf dem Ziffernblatt stand war. Im kleinen Kästchen, dass statt der Drei eingelassen war, konnte ich das PM erkennen. Eine Stunde Verspätung hatte die Bahn bereits. Eine Viertelstunde würde wohl noch dazukommen. Ich überlegte die Nummer des Mannes anzurufen, der mich vom Bahnhof abholen sollte, einer meiner neuen Mitbewohner in der Wohngemeinschaft, in der ich für die nächsten sechs Monate einziehen würde. Als ich jedoch die kleine Eins neben dem Symbol des Akkus auf meine Handy blinken sah, wusste ich, dass ich erst einmal wohl niemanden anrufen würde. Seufzend steckte ich das Smartphone weg und beobachtete die restlichen Minuten der Fahrt die anderen Reisenden. Sie schienen alle vollkommen in ihre Zeitschriften und Laptops vertieft zu sein. Egoistische Stadt.
Als der Zug anhielt sprang ich auf, zerrte mein Gepäck aus der Ablage über meinem Kopf und drängelte mich durch die hereinströmenden Menschenmassen nach draußen. Dann stand ich draußen auf dem Gleis, wurde von vorbeirennenden Leuten angerempelt, die den Zug noch in letzter Sekunde erreichen wollten. Ich beachtete sie nicht und sah mich fasziniert in der neuen Welt um, die ich betreten hatte. Der Berliner Hauptbahnhof war ein riesiges Glasgebilde mit hohen Decken und Gleisen auf Betonstelzen. Die Züge fuhren in eine höher gelegene Halle ein und aus dieser wieder hinaus. An jedem Ende dieser Halle war ein Glasdach angebracht, unter welchem die Bahn hindurchfuhr. Wie eine Patrone aus dem Lauf einer Waffe schoss ein ICE aus der Ankunftshalle nach draußen auf die freigelegten Schienen. Es war ein Kunstwerk, dass mich doch ein wenig an die Schönheit meiner neuen Heimat glauben ließ.
Nach einer Weile riss ich meinen Blick widerwillig von dem riesigen Gebäude los und sah mich auf dem Bahnsteig um. Er war immer noch voll und ich konnte kaum den Ausgang aus der gläsernen Halle erkennen geschweige denn denjenigen, der hier auf mich warten wollte. Langsam bewegte ich mich in Richtung der Rolltreppen und hielt die Augen nach jemandem offen, der mich auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Eine ältere Frau mit einem Rollator schlurfte an mir vorbei, eine Mutter zog ihr Kind, dass einen Teddy in der Hand hielt hinter sich her, ein Mann hielt ein Schild mit der Aufschrift MALTE in die Luft, ein Verkäufer...
Ich riss den Kopf herum und betrachtete den Mann mit dem Plakat. Er trug eine verblichene Jeans mit Löchern an beiden Knien und ein weißes T-Shirt. Seine silber gefärbten Haare waren zur Seite gekämmt und seine braunen Augen musterten mich gelangweilt. Neugierig lief ich mit meinem Gepäck auf ihn zu.
"Hallo, bist du Liam? Ich bin Malte und-"
"Du ziehst in unsere Wohnung ein, ich weiß", brummte der Mann und ließ das Schild sinken.
Ich wusste nicht wirklich was ich noch sagen sollte, also schwieg ich. Der Silberhaarige, der anscheinend tatsächlich Liam war, da er meine Frage nicht verneint hatte strich sich einmal eingebildet durch die Haare, dann sah er mich uninteressiert an.
"Wenn du der Neue bist, können wir dann los? Ich will mich heute noch mit meiner Freundin treffen und habe echt keinen Bock länger als nötig hier herumzustehen."
Ich war mir sicher, dass er eher mich loswerden wollte, aber ich sagte nichts und folgte Liam zum Parkplatz, wo er zielsicher auf einen dunkelblauen Fiat zusteuerte. Unerwarteter Weise schnappte er mir mein Gepäck aus der Hand und verlud es blitzschnell im kleinen Kofferraum seines Autos. Völlig perplex über die plötzliche Hilfsbereitschaft blieb ich stehen und betrachtete Liam. Hatte er eine gespaltene Persönlichkeit, oder-
"Komm schon, Glubschi. Steig ein, oder willst du auf den nächsten Bus warten?"
Nein, definitiv keine Züge von Nettigkeit. Wenngleich ich nicht glaubte, dass er ein klassischer "Bad Boy" war. Wütend funkelte ich ihn an, doch er feixte nur und stieg auf der Fahrerseite des Wagens ein. Missmutig tat ich es ihm auf der anderen Seite nach und wenig später rasten wir mit fast 200 km/h die Autobahn entlang.
"Findest du nicht, dass du...etwas schnell fährst?", erkundigte ich mich schnippisch.
Liam lachte unbeeindruckt.
"Bist du spießig oder ein Schisser, Glubschi?"
Sehr witzig.
"Ich will dich nur vor den drei Monaten Fahrverbot schützen", gab ich trotzig zurück.
"Keine Sorge, ich weiß schon ganz genau wo hier die Chance am größten ist, erwischt zu werden", gab Liam zurück und ging so scharf in die Kurve einer Abfahrt, dass ich seinen Körper wunderbar als Kopfkissen hätte benutzen können.
Zwanzig qualvolle Minuten später war mir so übel, als wäre ich mit einer Achterbahn gefahren- mit meiner Achterbahnphobie das Schlimmste, was mir hätte passieren können. Liam grinste und bremste seinen Wagen abrupt ab. Dann lehnte er sich zu mir herüber.
"Hältst wohl doch nicht so viel aus, Glubschi."
Ich konnte mich kaum darüber aufregen, dass der Silberhaarige immer noch diesen verdammten Spitznamen benutzte.
"Hast du einen Führerschein, Liam?", entgegnete ich stattdessen benommen.
"Nicht das ich wüsste", antwortete dieser lässig.
Wunderbar. Wo war ich hier nur gelandet?
Mit wackligen Beinen schälte ich mich aus dem Auto und versuchte tief und gleichmäßig zu atmen. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.
"Fall mir bloß nicht um, Glubschi, sonst macht mir Greenie die Hölle heiß", vernahm ich Liams Stimme.
Ich konnte sein Grinsen förmlich spüren.
"Mach dir keine Hoffnungen, so leicht mache ich es dir nicht", würgte ich hervor.
Liams Hand ließ mich los und ich hörte, wie er den Kofferraum seines Wagens öffnete. Wenige Sekunden später stand er wieder neben mir, diesmal mit meinem Gepäck bewaffnet.
"Da geht es hinein, Glub-"
"Tu mir den Gefallen und nenn mich Malte", knurrte ich.
Dann richtete ich mich vollkommen auf, kämpfte gegen meinen protestierenden Magen und betrachtete das Gebäude, auf das Liam deutete. Es war ein weißes Mehrfamilienhaus, zweistöckig und wirkte modern. Bevor ich es weiter in Augenschein nehmen konnte, zog Liam mich mit sich zur Eingangstür, schloss diese auf und bugsierte mich durchs Treppenhaus. Wie er das schaffte, war mir ein Rätsel, wo er doch alle Hände mit meinen Koffern voll zu haben schien. Wir wanderten ein Stockwerk nach oben und standen schließlich vor der Mittleren von drei Türen, die jede zu einer anderen Wohnung führten. Der Silberhaarige stellte meine Koffer neben mir ab, reichte mir einen Schlüssel und klopfte mir dann aufmunternd auf die Schulter.
"Geh einfach rein, Ginnea müsste da sein."
Dann drehte er sich um und hastete die Treppe wieder hinunter. Anscheinend war seine Freundin schlecht im Warten. Seufzend und mit immer noch etwas rebellierendem Magen öffnete ich die Tür und gelangte in einen hellen Flur, von dem aus man ein großes Wohnzimmer komplett im Blick hatte. Ein Mädchen mit hellbraunen Haaren, grünlichen Augen und einem Piercing in der Nase trat plötzlich aus einer Tür neben dem Wohnzimmer und ich zuckte leicht zusammen. Sie lächelte herzlich und kam auf mich zu.
"Erschreck dich nicht, ich bin es nur."
Sie kam auf mich zu und umarmte mich fest, als würden wir uns schon ewig kennen.
"Ich bin Ginnea, werde aber Gin genannt. Ich bin genauso neu wie du hier. Ich mache ein Praktikum in Berlin und bin deshalb hier eingezogen, etwas teureres hätte ich mir nicht leisten können."
"Malte", murmelte ich.
Ich war zu überrascht um etwas anderes zu sagen. Hatten Praktikantinnen heutzutage alle Künstlernamen?
"Dieser Liam hat dich hergebracht, oder?", fragte sie, während sie mich los ließ und in das Wohnzimmer zog um mich dort auf einem Sessel zu platzieren. Ich nickte.
"Aber seine Fahrkünste sind nicht zu beneiden. Und seine Freundin scheint schwache Nerven zu haben", fügte ich hinzu.
Ginnea sah mich komisch an.
"Freundin? Greenie meinte, er hätte Keine", sagte sie und zog die Augenbrauen zusammen.
Wer auch immer diese Greenie war, sie stellte Liam in einen noch seltsameren Winkel, als ich ihn vorher gesehen hatte.
"Oh", war das Einzige, was ich herausbringen konnte.
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