|01 - Vom dritten Tod und Krankenschwestern|

Lennart|Der dreihundertfünfundsechzigste Tag nach dem Tod.
Um genau zu sein waren es sogar 822 Tage.
822 Tage, vier Stunden und sechsundvierzig Minuten.

Ich konnte mich noch an den Ersten erinnern, an den Zweiten und sogar noch ein wenig an den Dritten, aber alle anderen Tage, die folgten, nachdem ich ein zweites Mal gestorben war, waren für mich einfach schwarz. Schwarze Löcher, die man nicht füllen konnte, an die ich keinerlei Erinnerungen hatte. Nur gezählt durch die fallenden Kalenderblätter. Geschweige denn an meinen ersten Tod.

Doch ich wusste spätestens, als ich die Augen öffnete, dass der dreihundertfünfundsechzigste Tag, nachdem ich zum zweiten Mal gestorben war, auch der erste Tag nach meinem dritten Tod sein würde.

Ich musste nur den ekelhaften Geruch von Desinfektionsmittel in der Nase spüren um zu wissen, wo ich mich befand. Aus Protest kniff ich die Augen gleich wieder zusammen. Es hatte also wieder nicht funktioniert. Ich war immer noch hier. In der weißen Welt aus sterilen Räumen, Ärztekitteln und eindringlich vor sich hin sinnierenden Psychologen.

Ich spürte Manschetten, die an meinen Oberarmen angebracht worden waren und mich an das Bettgestell fixierten und seufzte leise, ohne die Augen auch nur einen kleinen Spalt zu öffnen. Warum nur glaubte man immer noch, dass ich davonlaufen würde, nachdem ich bereits zwei Mal gemerkt hatte, dass es unmöglich war zu entkommen? Ich spürte nicht einmal mehr die Kraft in den Beinen um aufzustehen, geschweige denn einen Schritt zu laufen.

Würde ich fragen, würde man mir sicher erklären, dass es sich nur um Sicherheitsmaßnahmen handelte. Doch ich fragte nicht, genau so wenig, wie ich irgendetwas anderes tat. Ich lag einfach da, die Augen geschlossen und meinem eigenen Atem lauschend. Zwar hatte ich kein Zeitgefühl, doch ich mutmaßte, dass es später Nachmittag sein müsste, was ich aus dem rötlichen Sonnenlicht schloss, dass ich durch meine Augenlider sehen konnte. Es zeichnete sich wie ein roter Schleier auf meiner Netzhaut ab. Ich war seit etwa drei Stunden wach, was ich an den halbstündlichen Besuchen der Schwestern festmachte. Es hatte eben doch etwas Praktisches, wenn man durch seine vielen- meistens ungewollten- Krankenhausaufhalte die Visitezeiten und Schwesternwechsel genauestens kannte.
Vor etwa einer halben Stunde war eine Frau ins Zimmer gekommen- was ich an dem regelmäßigen Klacken ihrer Pumps erkannt hatte, die sie, wenn ich auf mein Gehör vertrauen konnte, trug- hatte das Licht, das kontinuierlich gebrannt hatte gelöscht und war dann wieder verschwunden. Ob sie nicht bemerkt hatte, dass ich wach war oder ob sie einfach ahnte, dass ich nicht mit ihr reden würde, wusste ich nicht.

Der Tag verging schnell. Obwohl ich nur stocksteif und fixiert in einem Krankenhausbett lag und an alle möglichen Apparaturen angeschlossen war, was ich erst bemerkte, als die Wirkung des Schlaf- und Schmerzmittels, was man mir verabreicht zu haben schien nachließ und das Gefühl in meine Arme und Beine zurückkehrte, hatte ich keinerlei Langeweile, meiner Schizophrenie und den damit verbundenen Stimmen sei dank. Ich schätzte, dass es früher Abend war, als ich das Geräusch der Zimmertür und darauffolgende Schritte vernahm, die sich meinem Bett näherten. Bestimmt eine Krankenschwester, die den Tropf auffüllen oder nach meinem Herzschlag sehen wollte, dachte ich und stellte mich schlafend, damit sie schnell wieder verschwand. Ich hörte sie an meinem Nachttisch herumfummeln, eine Tablettendose öffnen und dann das rasselnde Geräusch einiger Medikamente, die auf den Nachttisch geschüttet zu werden schienen. Seltsam, weshalb suchte sie Tabletten zusammen, wenn ich aus ihrer Sicht doch schlief? Die Frage wurde mir Sekunden später beantwortet.

"Lennart, Sie müssen nicht so tun, als wären Sie noch nicht aufgewacht. So weit waren wir doch das letzte Mal auch schon, Darling."

Ich kannte diese Stimme. Irgendwoher. Doch woher wollte mir nicht einfallen. Da es jetzt sowieso sinnlos war so zu tun, als würde ich schlafen, öffnete ich die Augen. Zuerst blendete mich grelles Licht, dann blickte ich in das runde Gesicht einer angegrauten Krankenschwester. Sie war leicht dicklich und der weiße Schwesternkittel spannte sich etwas über ihren Hüften.

"Guten Tag, mein Lieber. Oder sollte ich besser 'Guten Abend' sagen?" Sie lachte.

Langsam formte sich vor meinem inneren Auge ein Bild zu ihrer Person zusammen, dass sie gleich darauf untermauerte.

"Ich bin Schwester Agnes, wir kennen uns noch von den letzten beiden Malen, Darling."

Ich konnte mich nun klar und deutlich an sie erinnern. Sie war leitende Schwester der Abteilung drei und hatte mich aus unerfindlichen Gründen seit unserer ersten Begegnung "Darling" genannt. Und sie störte sich kein bisschen daran, dass ich nicht mit ihr sprach. Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich sie wiedererkannte und ihr Lächeln wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch breiter.

"Sehr gut, dann hat es ja fast etwas familiäres hier."

Ich rang mir ein gequältes Grinsen ab. Ich hatte im Moment wirklich keine Lust, mit ihr zu reden. Erstaunlicherweise ging sie darauf ein und ihr Gesichtsausdruck wurde ernst.

"Ich will Sie nicht zu irgendetwas drängen, Darling, und es ist ja auch schon eine Weile her das wir uns das letzte Mal gesehen haben, aber könnten Sie mir vielleicht erzählen, wie es Ihnen im Moment geht, mein Lieber?"

Schwester Agnes strich meine Bettdecke glatt und sah mich nicht an, während sie das sagte. Sie hatte sich also gemerkt, dass ich Falten hasste- und wenn mussten es Zehn sein, weil es mich sonst unnötig nervös machte- und das es mir unangenehm war, wenn man mir in die Augen sah, während man etwas von mir verlangte.

Ich schwieg und starrte auf meine Arme, die ein wenig gerötet waren, da die Manschetten an meiner Haut schabten.
Eine Weile war es still im Raum und ich begann unruhig auf meiner Unterlippe zu kauen, weil mich dieses Schweigen nervös machte.

"Sie haben also nicht wieder damit angefangen, Darling?"

Ich schüttelte den Kopf und Schwester Agnes seufzte schwer. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte sie das bei meinen anderen Aufenthalten auch übermäßig häufig getan. Und dann hatte sie immer gelächelt und gesagt, dass ich mir Zeit lassen sollte. Das war nun exakt ein Jahr her. Ich hatte mir viel Zeit genommen.

Ich zwang mich, ihr in die Augen zu sehen, doch dieses Mal erkannte ich in ihnen keinen freundlichen Schimmer. Sie sahen mich lediglich besorgt an.

"Sie müssen reden, Lennart", sagte sie und ich spürte, wie ernst ihr das war. Sie hatte mich sonst nie beim Vornamen genannt.

Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich darauf schon antworten?

Schwester Agnes schüttelte den Kopf, fast so als würde sie mit einem bockigen Kleinkind sprechen und hätte eingesehen, dass dieses zu keiner vernünftigen Einsicht gelangen würde.

"Ich glaube an Sie, Darling. Sie sollten nur langsam beginnen, das Selbe zu tun", sagte sie.

Dann lächelte sie unerwartet.

"Und jetzt ruhen sie sich besser aus, mein Lieber. Schließlich ist sterben anstrengend", flötete sie.

Sie zwinkerte mir zu, ließ die Jalousien herunter und knipste das Licht aus. Als die Tür ins Schloss gefallen war, sank ich noch ein bisschen tiefer in mein Kissen und atmete tief ein und aus.
Diese Frau machte mich fertig.
Woher nahm man als Krankenschwester nur diese ganze Fröhlichkeit?
Und das sie meinen Trick mich schlafend zu stellen durchschaut hatte, machte es auch nicht besser.

Ich versuchte mich in eine angenehmere Position zu drehen, doch ich hatte vergessen, dass ich an das Bettgestell gebunden war und fluchte leise, als ich mir die Hand leicht verdrehte beim Versuch, mich auf die Seite zu legen.
Oh ja, ich wusste schon, was ich mir dabei gedacht hatte diesem höllischen Ort abzuschwören.

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