III
Mit einem sanften Druck am Handgelenk zwang er sie zum Stehenbleiben. Über ihnen erhob sich ein riesiger, schneebedeckter Felsen, der die einzigen geschützten Vorsprünge in der frostigen Steppe bot. „Was ist Vyn?", fragte sie bibbernd. Er fluchte leise und rieb ihr über die kalten Arme. Sie lehnte sich seufzend an ihn. „Arei, du frierst. Lass uns warten. Der Morgen bringt Wärme.", murmelte er an ihrem Ohr. Sie rückte einwenig von ihm ab. „Morgen müssen wir ankommen.", sagte sie entschieden und ihre stahlblauen Augen funkelten entschlossen. „Du konntest mir die Reise schon nicht ausreden und genauso wirst du mir nicht einreden können, hier zu rasten. Außerdem, schau dich um, es wäre gefährlicher zu bleiben als zu gehen". „Ich wünschte, du hättest nie davon erfahren.", meinte Vyn niedergeschlagen. „Wie bitte?", erkundigte sie sich mit ungläubiger Miene. Trotzig hob er sein Kinn und machte einen winzigen Schritt zurück um ihren Blick ebenso unnachgiebig zu erwiedern. „Ich wünschte, die Regierung hätte jemand anderen geschickt. Als ob du als einzige zu Verhandlungen fähig wärst. Das ist lächerlich.", schnaubte Vyn. Geschockt schnappte Arei nach Luft: „Du weißt genau, dass ich die Beste bin. Wenn es Aussicht auf Erfolg geben kann, dann nur wenn die Botschafterin selbst mit dem Verwalter eines anderen Safe-Places spricht! Also hör auf mit den Beleidigungen. Du hättest zu Hause bleiben können!". „Nein, hätte ich nicht!", entgegnete er hitzig, „Ich lasse meine Frau doch nicht alleine durch eine Eiswüste ziehen und mit Barbaren verhandeln, die aus ihr ohne Grund Eis am Stiel machen könnten!". „Übertreib nicht, Vyn.", sagte sie auf einmal ganz kühl, „Ich weiß mich sehr wohl zu wehren". Da bemerkte er seinen Fehler - zu spät: „Arei, Liebes, du weißt wie ich das meine". „Wir gehen weiter. Scheiß auf die gottverdammte Kälte! Immerhin kann sie uns nicht bei lebendigem Leibe verbrennen, es könnte schlimmer sein.", meinte Arei resolut, trotz vor Kälte knirschender Zähne. Vyn ächzte. „Ich kann nicht mehr, Arei, und du auch nicht. Dann kommen wir eben zu spät. Na und?". „Na und?", ihre Stimme klang fassungslos, „Zu spät bedeutet keine Verhandlungen. Das lasse ich nicht zu. Nicht nach den monatelangen Planungen!". Er wusste er hatte verloren und nickte schließlich freudlos. „Verdammt. Arei ich habe doch nur Angst um dich. Um uns.", gab er flüsternd zu. Sein Blick versank in ihren Augen, die ihm schon immer ein Gefühl von Zuversicht und Weite gegeben hatten, so wie auch dieses Mal. Sanft strich sie mit ihren eisigen Fingerkuppen seine Wange entlang und neigte den Kopf. „Ich weiß, Vyn. Ich weiß. Aber wir wollen beide, dass dieser sinnlose Krieg endet. Gemeinsam können wir viel mehr erreichen und vielleicht, nur vielleicht, schaffen wir es noch, einen Teil der Erde zu retten. Und wenn es nur die Safe-Places sind", sagte sie. Seine Lippen verzogen sich zu einem winzigen Grinsen. „Das liebe ich an dir. Selbst wenn die Situation noch so aussichtslos ist, kämpfst du weiter. Meine Weltverbesserin.", murmelte er dicht an ihren Lippen. Auch sie musste schmunzeln. „Mein kleiner Angsthase.", sagte sie zärtlich. Ihre Münder verschmolzen mit einander, ungeachtet des tödlichen Frosts um sie herum. Es gab nur sie. Jetzt. Hier. Ihre Lippen lagen kühl und ruhig auf seinen. Ein Anker an den er sich klammern konnte. Spielerisch bat ihre Zunge um Einlass. Er gewährte ihn ihr nur zu gerne. Sie beide benötigten diese Ablenkung jetzt mehr als dringend. Ihre Zugenspitze stupste gegen seine und rang um die Vorherrschaft. Liebevoll und neckisch, ganz wie sie. In seinem Magen tobte ein atemberaubender Sturm, den er nicht halten konnte oder wollte. Seine Haut prickelte unter ihren behutsamen Händen und verzweifelt zog er sie näher an sich heran. Von alleine schlangen sich seine Arme um ihren Nacken und hielten sie fest. So fest. Sie keuchte gedämpft. Ihr Kuss war verzweifelt, doch unendliche Hoffnung in einer aussichtslosen Situation. In hitziger Verzweiflung warf er alle Vorsicht über Bord, biss auf ihre Unterlippe. Wieder stöhnte sie, diesmal vor Schmerz, aber auch vor Erregung. Er schmeckte Blut, doch konnte sie nicht gehen lassen. Kochende Angst drohte ihn zu überwältigen. Seine. Ganz allein seine. Er kostete ihren süßen Mund, als wäre es das allerletzte Mal. Atemlos zog sie sich ein wenig von ihm zurück. Ihre Zunge leckte federleicht eine unbemerkte Träne von seiner Wange. Wieder wollte er sie an sich pressen, noch mehr mit ihr verschmelzen, doch ein gehauchtes „Nicht" stoppte ihn. „Ich kann mich nicht kontrollieren, wenn du mich so küsst.", meinte sie fieberhaft und suchte seinen Blick. Ihre Pupillen waren geweitet, ihr Gesicht gerötet. Ob von der ungeheuerlichen Temperatur oder seinem Kuss, vermochte Vyn nicht zu sagen, hoffte jedoch auf letzteres. „Das sollst du auch nicht.", knurrte er und presste erneut seinen Mund verlangend auf ihren. Einen kurzen Augenblick ließ sie zu, dass sie in einander versanken, wie zwei Ertrinkende, über denen die Wellen zusammenschlugen, doch dann löste sie sich bestimmt von ihm. In ihrem Gesicht zuckte ein Muskel unruhig. Er wusste, irgendetwas lief gerade gewaltig schief. „Ruhig.", befahl sie plötzlich ernst.
Er lauschte, dann hörte er ein Knirschen, das immer näher kam. Zu schnell als dass er es hätte verhindern können, stieß sie ihn beiseite. In dem Moment in dem er auf dem Boden aufschlug und er Aufprall seine Lungen zusammen quetschte, erklang ihr erstickter Ruf. Aus dem Augenwinkel sah er, wie eine Eislawine auf sie nieder ging und sie tief unter sich begrub. Wie eine zarte Blüte im spätwinterlichen Hagel. Fortgerissen. Ein heiserer Schrei der Verzweiflung, vor Urzeiten geboren, löste sich aus seiner Kehle. „AREI!". Eine, viel zu lange Sekunde, war er wie erstarrt vor Schock. Er wollte nicht wahr haben, was soeben passiert war. Plötzlich erwacht aus seiner Starre, sprang er auf und grub sich schluchzend mit bloßen Händen durch die eisigen Mauern des bitterkalten Grabs. Die Aussichtslosigkeit ignorierend. Kristalle, hart und schillernd wie Diamant, spitz wie Nadeln, gruben sich unter seine Fingernägel und in seine Haut. Ein heller Kontrast zu der krampfhaft ängstlichen Dunkelheit in seinem Herzen. Er japste unter der immensen Last der Eisblöcke, schleppte einen nach dem anderen zur seite. Die Furcht verlieh im ungeahnte Kräfte und wie durch ein Wunder schaffte er eine kleine Lücke in der massiven Wand. Zu klein für ihn, doch...
Vyn packte Areis starren Körper und schleifte sie mit allerletzter Kraft unter dem Berg hervor. Ihre Haut war so blass, dass sie ihm ganz weiß erschien. Sein Atem stockte. Bitte, es ist noch nicht ihre Zeit! Er flehte zu den Göttern, auch wenn er nicht an sie glaubte, dieses eine Mal seine Sonne zu verschonen. Koste es ihn was sie dafür wollten! Als ihm bewusst wurde, dass seine verzweifelten Rufe nicht erhört werden würden, sackte er kraftlos zusammen und betrachtete seine, über alles geliebte, Frau mit Tränen in den Augen. Zu genau war ihm bewusst, was nun unweigerlich geschehen würde. Helle Sterne zierten ihre Schläfen und Vyns Augen fuhren gedankenverloren jeden Millimeter ihres feinen Gesichts entlang. Den leicht spöttischen Schwung ihrer Lippen. Die schlanke Nase und mit ihr liebkosend jede einzelne Sommersprosse. Das kämpferische, aristokratische Kinn, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Die Augen, gerade noch so geöffnet, wie das strahlendste Blau des Firmaments, voll Achtsamkeit. Jede einzelne, dunkle Wimper. Schneeflocken hatten sich in ihnen verfangen, auch der Himmel weinte. Hingebungsvoll bettete er ihren Kopf in seinen Schoß. „Arei", seine Stimme brach, „Arei, antworte doch!". Nur noch sachte flatterten ihre Augenlider, ihr frostklirrender Atem wurde immer schwächer. Vyn vergrub seinen Kopf in ihren seidigen, ebenholzfarbenen Haaren. Sie rochen nach Arei. Süß, nach Frühling und Hoffnung, aber mehr noch salzig, nach Tränen und Verlust. Er schmiegte sich in ihre Halsbeuge und sie hielt ihn fest, so wie er sie fest hielt. Augenblicke vergingen. Ihre Herzen schlugen im Gleichtakt.
Bumm, bumm.
Bumm, bumm.
Ein letztes Mal.
Funkelnde Flocken, in denen sich die pulsierenden Nordlichter brachen, segelten sachte auf sie hernieder. Dichter und dichter. Um sie herum breiteten sich dunkelrote Tupfen aus, so wie die Blumenmädchen ihre Hochzeitsrosen über sie gestreut hatten. Aus einer Wunde an ihrem Kopf sickerte Blut, doch egal wie mühevoll er sie bedeckte, es rann immer weiter. Blut an seinen Fingern, an ihrem störrischen Kopf. In ihren wundevollen Haaren. Blut, so viel Blut. Sofort erstarrt unter den arktischen Temperaturen. „Für immer.", sie bewegte ihre, von Träumen und fernen Galaxien überzogenen, Lippen ein leztes Mal. Vyn erahnte die Worte mehr, als dass er sie hörte. Ihre Herzschläge wurde langsamer, wie ein müde gewordener Schmetterling im stürmischen Grau. Ihre Augenlider flackerten nicht mehr, von Wintertränen verklebt. Ihre Hand erschlaffte vollkommen, gefangen in der ewigen Leere. Ihr letzter Atemzug wurde davon getragen, von nordischen Winden ins Nirgendwo. Nur ihr Vyn blieb. Alleine. Einsame Abschiedstänen vergießend. Sich schuldig fühlend.
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1428 Wörter
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