9. Keine Beweise
Der Wachtmeister trottet hartnäckig zwölf Meter hinter mir her, um Kinderspielplätze, durch Grünstreifenparks und an Theatern und Kneipen vorbei.
Ich lasse ihn gewähren. Frage mich aber schon, wann sich bei ihm endlich die Glühbirne anknipst, dass ich ihn nirgendwohin führe. (Nie, nehme ich an. Langsam bekomme ich für Vogelhuber ein Herz.)
Mein Kopf ist jetzt aber viel klarer.
Der Leichenmeister hat gemeint, der Hauptkommissar dürfte mit seinem eigenen Gerät gerne ein Bild von der Leiche machen. Das heißt: Die Leiche ist noch da. Keiner hat sie bis jetzt für sich beansprucht.
Aha.
Genauer heißt das: Nach sechs Tagen hat die Familie von Richard ihre tränennassen Gesichter noch nicht in der Leichenhalle gezeigt.
Wieso das? Sie sollten längst informiert sein.
Wäre es möglich, dass der Mörder (ich weigere mich noch stark, dies als Tat einer Frau anzusehen) die Kunde abgefangen oder auf andere Weise die Zustellung verhindert hat? Wähnt die Familie ihren Sohn immer noch eifrig Lebkuchenherzen backend und durch diese List soll die Polizei noch lange in der Dunkelheit tappen?
Mit den Möglichkeiten dieses Gedankenganges beschäftige ich mich, als ich auf der anderen Seite der Straße einen bekannten Hut und darunter ein bekanntes Gesicht erblicke.
Vianna!
Ein schneller Blick auf den anderen Fußgänger sagt mir, sie ist ohne jene Irre, die sich Freundin nennt, unterwegs (da applaudiere ich ohne Vorbehalt).
Ohne an meinen Verfolger zu denken, setze ich ihr nach und überquere die Straße auf abenteuerliche Weise, zwei FBMs, vier Velocipedi und einer Pferdekarre athletisch ausweichend.
Sie merkt es nicht, als ich mich in ihre Heckwelle einreihe und einige Meter hinter ihr hergehe.
Mir wird wieder flau im Magen.
Ich habe keine bestimmte Idee im Kopf, was ich gerade tue oder tun werde, aber Vianna bietet eine schöne Ablenkung von der ziellosen Streunerei und möglicherweise wird es eine Gelegenheit geben, sie anzusprechen.
Oder auch nicht.
Sie trägt heute einen leeren Weidenkorb am Arm, ihr Kleid und ihr Hut sind aber die gleichen wie vor ein paar Tagen. Sie scheint es etwas eilig zu haben, denn sie schaut zielstrebig nach vorn und hält nicht an Schaufenstern. (Sie will oder darf wohl nicht lange von zu Hause weg sein.)
Wir gehen einige Straßen herunter, bis wir uns einem großen Platz mit einem vergoldeten Brunnen linker Hand nähern. Hoch oben an den Häuser sind selbstdrehende Reklametafeln angebracht und eine große Uhr mit astrologischen Figuren lässt einen Strahl Dampf jede fünf Minuten los.
Vianna geht zu den Ständen der Gemüsehändler und kauft Grünzeug, dann Käse und eine Flasche Milch von einem Bauer, der sie zu kennen scheint.
Meine schauspielerischen Fähigkeiten sind nun wieder gefragt.
Ich tue so, als ob ich ein Ehemann sei, der gedankenverloren seiner Frau durch die verwirrenden Gassen des Marktes folgt, während sie fachfrauisch die Einkäufe erledigt, um zu vermeiden, dass die Verkäufer mich als potenziellen Kunden ansprechen und Vianna auf mich aufmerksam machen. (Der Wachtmeister sorgt aber für Tuschelei und schnell unter dem Tisch verschwindende Ware. Er ist heil über die Straße gekommen, verkürzt aber seinen Abstand um die Hälfte.)
Meine Schauspielerei stellt sich als unnötig heraus.
Vianna dreht sich kein einziges Mal um.
Der Wachtmeister und ich tauchen aus dem rot-weißen Wirrwarr von Ständen auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Vianna ihre Schritte auf eine gut besuchte Geschäftszeile in einer Nebenstraße richtet.
Auf einmal schält sich eine große, blonde Frau in einem üppigen, rüschenbesetzten lila Kleid aus der Menge heraus und mit einer einzigen fließenden Bewegung ihres Armes schlägt sie den vollbeladenen Korb aus Viannas Hand.
Das Grünzeug und der Käse landen mit einem dumpfen Aufklatsch auf dem Pflaster. Die Flasche Milch zerbricht, weiße Flüssigkeit und Glassplitter umherspritzend.
Passanten halten inne und starren. (Ich auch, fast.)
Die Blondine scheint das nicht im Geringsten zu stören. Sie schiebt sich so nah an Vianna heran, dass sie Vianna ihre Worte förmlich in das Gesicht spuckt. Vianna rückt zwei Schritte zurück (durch die Milch-und-Glaspfütze), um etwas Raum zu gewinnen, aber die Frau schließt die Lücke augenblicklich und bedroht sie weiter.
Ich gehe an den beiden vorbei, mich halb-drehend, um alles zu sehen.
„Denk nicht, keiner wisse davon. Jemand quatscht immer", faucht die Blondine. Etwas blitzt in ihrer Hand auf. Es dauert einen Moment, bis mir bewusst ist, was es ist.
Sie hält eine kleine Elektropistole gegen Viannas Bauch.
Meine Ausbildung als Spion greift augenblicklich und ich sehe die Lage als Ganzes.
Mein treuer Begleiter, der Wachtmeister, wird gezwungen anzuhalten und für Ordnung zu sorgen. Dann bin ich ihn schnell los.
Ist diese Streiterei wichtig oder nichtig?
Eher wichtig (siehe: Elektropistole).
Ich tauche in der Menge unter.
Der Wachtmeister zaudert ein bisschen und schaut mir grimming hinterher, tut aber, was ich erwartet habe und geht dazwischen. Die Blondine zieht sich drei Schritte zurück und spricht den Wachtmeister direkt an. Vianna sagt nichts, sie starrt die Frau mit einem leeren Blick an. Dann macht sich die Blondine davon.
Der Wachtmeister hält sie nicht an.
Vianna bückt sich und klaubt ihre Einkäufe von der Straße und ich drehe mich um und laufe so schnell ich kann zu der nächsten Querstraße, biege nach links und erreiche das obere Ende des Marktplatzes gerade noch rechtzeitig, um einige Sekunden vor der Blondine da zu sein.
Ich platziere mich an einem Schaufenster. In dem Glas beobachte ich, wie sie an mir vorbeisaust. Mir bleibt kaum Zeit, das süße, starke Parfum, das sie trägt, wahrzunehmen, bevor sie fast schon außer Sichtweite ist.
Der Wachtmeister ist ihr nicht gefolgt. (Und mir auch nicht, wie es scheint.)
Ich beschleunige meine Schritte, aber ich muss mich wahrlich sputen, um sie einzuholen.
Als ich sie erreiche, hake ich mich bei ihr ein.
Sie schaut blitzschnell zu mir herunter (sie ist einen Kopf größer als ich), drosselt aber ihr Tempo nicht.
„Ich interessiere mich für Vianna, nicht für dich", sage ich geschwind und halte meinen Dienstausweis, wo sie ihn sehen kann.
„Das ist kein Bullenlappen", meint sie. „Den erkenne ich sofort." Ihre Stimme hat einen harten, erfahrenen Unterton. Gedenk, was ich von ihr bis jetzt beobachtet habe, hege ich keinen Zweifel, dass sie sich mit allem möglichen Bullenzeug gut auskennt.
„Korrekt. Das ist ein kaiserlicher Nachrichtlerlappen."
„Willst du mich verarschen? Wer bist du überhaupt?"
„Wie gesagt, ich interessiere mich für Vianna. Was denkt sie, dass keiner weiß und wer hat gequatscht?"
„Das geht dich einen feuchten Drecksdübel an. Jetzt lass meinen Arm gefälligst los oder du wirst es noch bereuen."
„Ah ja, Ihre Elektropistole. Hübsches Ding. Ungemein nützlich, um ungewollte Aufmerksamkeit abzuwehren. Sie dürfen mich ruhig damit erschießen, aber dann werden Sie einen ganzen Schwall Ärger bekommen und das nicht nur von den liebreizenden Bullen. Also lassen Sie's stecken und beantworten Sie mir nur ein paar Fragen Vianna betreffend, dann sind Sie mich los."
Sie schweigt, bis wir an die nächste Ecke kommen.
„Arbeiten Sie für Distler?"
„Nein."
„Vlassovitch? Hruby? Lüberli?"
„Nein, nein und nein."
„Für wen denn? Ich will wissen, wer mich aushorchen will, bevor ich die Klappe aufmache."
„Für den Kaiser."
Sie schnaubt und schweigt.
Mein Bauchgefühl sagt mir, dass sie nichts von sich preisgeben wird, bis ich ihr einen wohlbekannten Namen nenne. Mir kommt ein Gedanke und ich nehme das Lichtbild aus der Tasche.
„Kennen Sie den?"
Sie wirft einen Blick darauf -- und greift so schnell danach, dass ich kaum Zeit habe, es in Sicherheit zu bringen.
„Wo hast du das her?", blafft sie mich an.
„Aus dem Leichenschauhaus. Haben Sie ihn gekannt?", gebe ich genauso giftig zurück.
Sie denkt darüber nach, das erkenne ich an den grimmigen Linien ihrer zusammengepressten Lippen (auch wenn es von der Seite und bei ihrem Rasertempo etwas schwierig zu erkennen ist).
„Lade mich auf einen Kaffee ein", sagt sie.
„Aber gern. Wohin?"
„Irgendwohin. Dort." Sie zeigt auf ein Kaffeehaus mit Außenbedienung, das schräg vor uns auf der andere Straßenseite steht.
Drinnen riecht es kopfschwirrend nach frischgemahlenem Kaffee. Ich merke, wie sich ein paar Köpfe zu uns drehen (ihretwegen, nicht meinetwegen. Neben ihr bin ich ein unscheinbares Stachelschwein).
Der Rundtisch aus Marmor, an den wir uns setzen, ist nicht der sauberste. Ich fege Krümmel auf den Boden, als ein müder Kellner erscheint.
Ich bestelle zwei Kaffee.
„Kennst du den Jungen auf dem Lichtbild?", frage ich, nachdem er gen Theke geschlurft ist.
„Darf ich's nochmal sehen?" Ich zeige es ihr, halte es aber weit von ihr weg. (Sie ist wirklich schnell beim Schnappen und ich weiß nicht, ob ich das Bild ein zweites Mal an mich halten könnte.)
Sie schaut es lange an.
Der Kaffee kommt und sie löffelt Zucker in ihre Tasse, rührt ihn langsam um, die Augen immer noch auf das Bild geheftet.
„Ich bring sie um, die Schlampe", flüstert sie, gerade laut genug, um es durch den Geräuschpegel um uns herum wahrzunehmen.
„Mit Schlampe meinen Sie Vianna, nehme ich an. Warum?"
„Weil sie dafür verantwortlich ist. Sie und sie alleine."
„Verantwortlich für was?"
„Dass er tot ist. Und die Bäckerin auch, obwohl mich das nicht sonderlich kümmert."
Ah ja. Eine aus der Schar untröstlicher Mädchen. Der Polizistenhasser hat Recht gehabt. Der Junge war ein Herzensbrecher.
„Und der Auszubildende? Den hat sie nicht auf dem Gewissen?"
Die Blondine schüttelt den Kopf. „Hans hat ihm gedroht und etwas Geld geben, um zu verschwinden. Er sagte, es sei so einfach wie einen Hund zu treten. Ha, das glaub ich gern. Hans konnte unangenehm werden, wenn er wollte. Der Junge hat sich das Geld geschnappt und sofort auf die Socken gemacht. Der war längst weg, als es passierte."
Hans. Hänsel.
„Und wie kennen Sie Hans. . .?"
„Weitershausen. Er kam in die Stadt vor ungefähr zwei Jahren. Mit ihr. Sie sind aus demselben Kuhkaff aufm Land, weißt du? Aber nicht verwandt. Hans fing als Rausschmeißer bei einem Tanzlokal an, wo ich zu der Zeit gearbeitet habe. Da habe ich ihn kennengelernt. Und jetzt ist er tot und sie soll dafür in der Hölle schmoren."
„Hat sie auch da gearbeitet? Waren sie und Hans ein Paar?"
Die Blondine lacht verächtlich und trinkt einen Schluck, helllila Lippenwachs auf dem Tassenrand lassend. „Das hätte sie wohl gern. Hat nie verstanden, dass er an ihr nichts fand. Sie war einfach eine Nachbarin, die auch weg wollte. Jemand von Zuhause. Na und? Niemand mag es, allein in einer fremden Stadt zu sein. Nein, dort hat sie nicht gearbeitet. Hat eine Stelle bei einer Patrizierfamilie, die eine verrückte Tochter hat. Sie soll das Fräulein bei Laune halten oder sowas Ähnliches. "
(Auja. Die Bekanntschaft jenes Fräuleins habe ich gemacht.)
Ich fragte sie weiter aus (auch nach ihrem Namen: Serena) und bekomme ausgezeichnete Nachrichten. Alles fügt sich perfekt zusammen, wie Teile eines Luftschiffmotors. Alles macht Sinn. Alles ist sonnenklar.
Leider basiert, was sie weiß, auf nichts Weiterem als Beobachtungen, Gesprächsfetzen und Andeutungen vonseiten Hans.
Sie hat keine handfesten Beweise.
Gar nichts, womit ich durch Vogelhuber eine sofortige Verhaftung erwirken könnte.
Und wir sind nicht in Berlin. Halbseidene Damen wie Serena, die auspacken und jemanden eines Mordes beschuldigen wollen, genießen kein großes Gehör bei der Polizei. Solche Damen lügen ständig aus allen erdenklichen Gründen. Wieso nicht auch, wenn es um Mord geht?
Das muss Serena in meinem Gesicht sehen.
„Sie glauben mir nicht."
„Doch. (Ich glaube ihr. Vollkommen.) Aber ohne konkrete Beweise...."
„Tja, das ist das Problem mit euch. Ihr braucht Beweise. Ich nicht. Ich weiß, dass die Schlampe schuldig ist. Und wenn ihr nichts unternehmt, dann werde ich es irgendwann mal tun. Darauf könnt ihr Gift nehmen."
Daran zweifle ich nicht.
Keine Sekunde.
Ich bin ratlos.
In einem angrenzenden Grünstreifenpark finde ich eine freie Bank, setze mich hin und denke scharf darüber nach, was ich gerade erfahren habe.
Ich brauche handfeste Beweise. Oder ein Geständnis.
Ja, zum grünglänzenden Eichhörnchen. Aber wie?
Die Mittagszeit ist gerade vorbei. Büromenschen strömen von überall her wieder in die Arbeit. Am blauen Himmel segelt ein Luftschiff vorbei. Von irgendwo in der Ferne höre ich die Glocken einer schwebenden Straßenbahn bimmeln und das Lachen zweier Männer.
Ich frage mich, was Frau K tun würde.
Dann frage ich mich, was Lutz tun würde.
Dann frage ich mich sogar (verzweifelt), was Theodor tun würde.
Dann frage ich mich, was ein Mernick tun würde.
Einer von denen, der in irgendwas kopfüber hineingesprungen war und als Leiche oder Gemüse aus der andere Seite herausgeschleudert worden ist.
Und auf einmal weiß ich, was ich zu tun habe.
Ich stehe auf und gehe entschlossenen Schrittes zurück, auf demselben Weg, den ich gekommen bin.
(Bis hierhin: 20.450 Wörter. Noch 1.500 bis zum Ende.)
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