8. Nirgendwohin des Weges

Das Leichenschauhaus von Nürnberg ist in den Kellern einer ehemaligen Brauerei aus dem 17. Jahrhundert untergebracht.

Dunkle Ziegelsteinwände, abgenutzte Steintreppen, der Geruch von altem Holz und abgestandener Luft mischt sich mit der leichten Schärfe nasebeleidigender Chemikalien.

Falls sie in den unteren Gewölben noch mit Fackeln leuchteten, würde es mich nicht wundern.

Zumindest hier oben scheint die Stadt die Wunder der Modernität zu schätzen, denn sanft lispelnde Gaslampen erhellen die Gänge. Dank einigen Ausschilderungen finde ich mich in dem weitläufigen Gebäude prompt zurecht.

Nachdem Marlene gegangen ist, habe ich nicht mehr richtig einschlafen können. Wie denn auch? Auch ohne den Firlefanz mit dem Märchen stimmt, was Marlene kombiniert hat: Der kleine Bäckerjunge kommt als niederschlagender Doppelmörder kaum in Betracht.

Es muss noch jemand anderes involviert sein.

Nichtsdestotrotz habe ich erhebliche Schwierigkeiten, eine Frau hinter diesen Gräueltaten zu vermuten (Marlene ist anderer Meinung). Für meine Verhältnisse sind sie zu. . .unsauber.

Frauen greifen am liebsten zum Gift oder nehmen sich ein Kissen (wenn die Zeit drängt) zur Hilfe. Das Küchenmesser kommt nur bedingt zum Einsatz (und auch dann ist der Stich gezielt und selten mehr als ein, zweimal ausgeführt). Elektropistolen kommen ausschließlich in Abrechnungen innerhalb krimineller Kreise vor und andere Methoden sind äußerst selten mit Frauen in Verbindung zu bringen.

Nein, eine Schweinerei, wie in diesem Fall, ist einfach nicht feminin.

Wenn es eine Gretel gibt, muss sie Helfer haben.

Höchstwahrscheinlich den Mörder höchstpersönlich und wer auch immer Schindelmeyer zum alten Hexenrichtplatz hingekarrt hat.

Das heißt: Ich suche eine Frau und mindestens einen Mann, von denen nicht alle zwangsläufig noch am Leben sein müssen.

Oder noch in der Stadt.

(Sind das vielleicht Hänsel und Gretel?)

Nachdem ich zu dem Schluss gekommen war, dass die erste Frage, die ich in meinem Heft notiert habe, immer noch die wichtigste ist, bin ich aufgestanden und habe Marlene nach der Anschrift dieses Gruselkabinetts hier gefragt. Denn zuerst muss geklärt werden, wer der Tote in der Backstube überhaupt ist. Die Frage, warum die Polizei, zugegeben nicht die Eifrigsten, sofort angenommen hat, er sei Richard, muss warten.

Ich komme an der öffentlichen Galerie vorbei.

Dort hinter einem Glasfenster liegen unidentifizierbare Leichen ungefähr eine Woche aufgebahrt in der Hoffnung, dass ein von Sorgen gebückter Verwandter auftauchen wird und eine davon für sich reklamiert.

Falls nicht, freut sich normalerweise die wissenschaftliche Fakultät der nächstgelegenen Universität über die (mehr oder minder) frischen Studienobjekte.

Oder sie fahren in die Armengrube und es freuen sich die Krähen.

Bei dem Guckfenster steht ein Priester mit einem Zettel in der Hand. Hinter ihm steht ein Angestellter des Hauses. Das erkenne ich an der kennzeichnenden Schwarzglas-Schutzbrille auf der Krempe seines verkürzten Zylinders, der Schürze und dem professionell-gelangweilten Ausdruck in käsigem Gesicht.

Der Priester schaut auf seinen Zettel und schüttelt den Kopf. „Nein, passt keiner. Tja. Bis nächsten Dienstag, Herr Schramm."

Der Angestellte (Herr Schramm eben) nickt nur, schaut aber geschwind zu mir hinüber, als der Priester seinen Weg zum Ausgang einschlägt.

„Darf ich behilflich sein?", fragt er mit honigsüßer Stimme. „Vermissen Sie jemanden aus der Familie?"

Jetzt ist dreiste Schauspielerei angesagt.

„Nein, zum Glück. Ich bin ein von außerhalb zugezogener Beamter und helfe den Kollegen hier in der Stadt beim Fall Lebkuchenmord aus. Hauptkommissar Vogelhuber schickt mich. Ich muss mit dem Mediziner sprechen, der sich mit der Leiche des ermordeten Bäckerjungens Richard P beschäftigt hat, um ein paar offenstehende Fragen zu klären. Wo kann ich ihn finden?"

Ich halte mein Dienstausweis hoch und lächle wie ein fußmüder Wachtmeister, der bloß wenige Stunden bis zum Feierabend hat. (Mich vermisst eine Bühne irgendwo, das kann ich meinen Bewunderern flüstern.)

Herr Schramm sieht kaum hin. „Bitte folgen Sie mir."

Ich folge.

Die unteren Gänge sind mit Lampen hell erleuchtet (keine Fackel weit und breit), aber der Geruch, der oben leicht in der Luft gelegen hat, ist nun äußerst penetrant.

Ich ziehe mein Taschentuch heraus und halte es vor die Nase.

Das Hauptbüro, eine größere Kammer mit drei Schreibtischen und einem hübschen Getränkekühlfach mit Temperaturanzeiger und Seitenventilen aus Bronze in einer Ecke, ist nicht sehr weit von der Treppe entfernt.

Der Mediziner, Leichenmeister Haseneder mit Namen, ist da und weitaus penibler als Herr Schramm, der sich sofort zurückzieht.

„Aha, sehr von außerhalb würde ich meinen", sagt Haseneder, nachdem er meinen Ausweis kritisch beäugt hat. „Was gibt's noch dazu zu sagen? Er ist tot. Schlag gegen den Hinterkopf mit einem dumpfen Gegenstand. Vermutlich ein Nudelholz. Wumps. Hinüber. Vogelhuber hat meinen Bericht schon, was will er jetzt noch?"

„Dass ich die Kleidung der Leiche, wenn noch vorhanden, inspiziere und auch ein zeitungstaugliches Lichtbild machen lasse. Falls noch keines existiert."

„Was will er?", kreischt der Leichenmeister und ich habe augenblicklich Angst, dass er meinen Ausweis nach mir wirft.

„Ein Lichtbild haben wir schon rübergeschickt. Meint er, es ist nicht scharf genug? Dann kann er sich selbst hierher bemühen und mit seinem eigenen Automat eins ziehen. Sagen Sie dem Scherzkeks, ich ziehe nicht noch eines und meines bekommt er nicht! Was die Kleidung anbelangt...", er holt Luft und haut mir im Vorbeigehen meinen Ausweis an die Brust, „die dürfen Sie ruhig durchsuchen, aber Sie werden nichts finden. Wir arbeiten hier ordentlich."

Die Kleidung ist in einem Fach einer engen, tiefen Kammer aufbewahrt. Der Leichenmeister schnauzt mich an, ich könne selbst hinausfinden und überlässt mich brummend meiner Pflicht.

Ich brauche nur ein paar Sekunden, um die zweite Frage zu beantworten: Die weiße Kleidung ist die eines Bäckergesellen. Sogar der runde Hut ist da. (Oder besser gesagt, ehemals weiße, denn ein großer Teil davon ist mit dunklem, getrockneten Blut und klumpigem Lebkuchenteiggeschmiere überzogen.)

Natürlich. Wer sich wie ein Bäcker kleidet, ist zwangsläufig ein Bäcker. Eine Annahme so bequem wie alte Schuhe. Kein Bestätigen vonnöten. Deckel drauf und fertig.

Um die weitere Bedeutung dessen zu verarbeiten, bleibt mir aber leider keine Zeit.

Ich muss an das Lichtbild von Haseneder herankommen.

Ich schleiche zu der Tür der Kammer, schaue nach links, nach rechts und dann... husch in den Gang hinaus.

Der ist leer.

Das Hauptbüro auch.

Glatt wie eine Ölspur auf Eis schlüpfe ich in das Büro hinein und zu dem Schreibtisch, von dem ich glaube, dass es der von Haseneder ist.

Vier Stapel Papierakten liegen darauf.

Obschon es mindestens fünf Grad unter null sein muss, ist mir unerträglich heiß. Ob ich nur fürchterlich aufgeregt bin oder Angst habe, kann ich nicht sagen, aber es ist, als ob sich jedes noch so kleine Geräusch verdreifacht, während ich hastig die Stapel durchsuche.

Das Zischen der Rohre.

Ein Klirren, als chirurgisches Besteck in eine Metallschüssel fällt.

Ein Schlager vom letzten Sommer, der irgendwo geträllert wird.

Ein fernes Husten, gefolgt von einem Lachen (du, das hier ist nicht lustig. Ich bin in einem Keller von Kadavern umgeben und schwitze wie ein Schwein).

Als das Getränkekühlfach sich mit einem Rattern anwirft, schmeiße ich fast den ganzen Stapeln um.

Aber es lohnt sich. Ich werde fündig.

Der dreiseitige Bericht über Persson, Richard mitsamt Lichtbild befindet sich im zweiten Stapel.

Das Lichtbild verschwindet in meiner Jackentasche.

Ich überlege, den ganzen Inhalt mitzunehmen, aber entscheide mich dagegen. Eine leere Akte fällt eher auf als eine nicht ganz vollständige.

Auf dem Weg hinaus gehe ich an Herrn Schramm vorbei. Er steht einer älteren Dame zur Seite, die am Guckfenster bitterlich in ihr Taschentuch weint.

Wir nicken uns zum Abschied zu.

Der Polizistenhasser schaut das Lichtbild lange und intensiv an.

Dann schüttelt er bedauernd den Kopf.

„Nein, den kenne ich nicht. Trotzdem scheint's mir, als hätte ich ihn doch ein oder zwei Mal hier in der Gasse gesehen. Der ist etwas älter als Richard, aber nicht viel älter, stimmt's?"

„Ich schätze ihn auf 19 oder 20 Jahre."

„Ja, das passt. Weit über 20 kann er nicht gewesen sein. Ein hübscher Bursche war er, das kann man deutlich erkennen. Es muss irgendwo eine ganze Schar untröstlicher Mädchen geben. Bestimmt."

Er schaut das Bild immer noch an, aber ich merke an seinen Augen, dass er über etwas ganz anderes nachdenkt.

„Im Etherradio haben sie gesagt", meint er auf einmal, „die Leiche der Hanna sei gefunden worden. In der Pegnitz. Sie nehmen an, sie sei nach dem Mord ins Wasser gegangen. Schuldgefühle."

„Sie soll sich selber umgebracht haben? Wer sagt das, die Polizei?" Den Unglauben, der in meiner Stimme mitschwingt, scheint er nicht zu hören.

„Ha! Die doch nicht, Scheißgeheimniskrämer wie sie sind. Nein, die Besserwisser im Etherradio, die sich neuerdings Medianten schimpfen. Danke fürs Zeigen. Jetzt kann ich aufhören, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, wer alles möglicherweise unter dem Tuch gelegen hat."

Er reicht mir das Lichtbild zurück.

Es verschwindet wieder in meiner Jackentasche.

„Übrigens", sagt er zu mir, als ich halb zur Tür hinaus bin, „gestern hat keiner in der Gasse Hähnchen gegessen. Dachte, das interessiert Sie vielleicht."

Ich stehe draußen an der Ecke der Brezelgasse, wie bestellt und vollkommen vergessen.

Und so fühle ich mich auch.

Ich versuche Ordnung in meinem Kopf zu schaffen, indem ich resümiere, was mir der Tag bislang an Nachrichten beschert hat. Genau wie man es mir beigebracht hat.

Der Tote war zwar als Bäckerjunge gekleidet, aber in der Brezelgasse unbekannt (also vermutlich überhaupt kein Bäckerjunge).

Er war ungewöhnlich gut aussehend (ist das irgendwie wichtig?).

Die Polizei hat ein Lichtbild von ihm, zeigt es aber nicht herum (aus gutem Grund oder aus Schlampigkeit?).

Die Kunde vom Fund der Schindelmeyer ist in den Radionachrichten gewesen, aber als Suizid und nicht Mord vermarktet (polizeilich herausgegebene Falschnachricht oder einfaches Raten seitens der Medianten? Könnte beides sein.).

Hm.

Eine Sache ist aber Taschenleuchter-auf-Vollstrahl-gestellt-klar: Ich bin der Einzige, der einen korrekten Überblick der Fakten hat.

Der Einzige, außer den Mördern.

Aber für wie lange?

Morgen um 10:15 Uhr geht mein Zug. Ich darf ihn unter keinen Umständen verpassen (mein Schädel soll nicht nochmal Frau Ks Blumentopf werden, nein danke).

Mir bleiben keine Blasebälge voller Zeit, Gretel zu finden und zu stellen.

Knapp 24 Stunden.

Allmählich fällt es mir auf, der Betrieb um mich herum ist hektischer... und lauter... als gestern.

Eine Menschentraube hat sich in der Mitte der Gasse gebildet. Die Lebkuchenbäcker versuchen die Aufmerksamkeit der Passanten durch Pfiffe und Rufe auf sich zu ziehen, manche mit Erfolg.

Da ich im Moment keine Ahnung habe, was ich als nächstes unternehmen soll, gehe ich mit der Menge dorthin.

Schrecklich. Die Stadt ist nicht mehr sicher, sag ich euch. Mir läuft es kalt den Rücken runter bei dem Gedanken, dass ich bei ihr gekauft habe. Wer tut denn sowas? Ja, ihre Erzeugnisse schmeckten auch irgendwie komisch, nicht? Mir haben sie überhaupt nicht geschmeckt. Mir auch nicht. Ich bin froh, bei ihr nicht Kundin gewesen zu sein. Ich habe nie von ihr gekauft. Sie war mir gleich ungeheuer. Der arme Junge. Sie hat ihn dann wohl doch letztendlich umgebracht. Man kann's nie wissen, mit wem man es zu tun hat, nie. Ja, der Arme.

Die gleiche Mischung aus Empörung, makabrer Neugier, Schadenfreude, Wichtigtuerei und echter Anteilnahme, die man immer nach solchen Meldungen hört. Alle schauen das Haus an und aalen sich in dem köstlichen Gefühl knapp entronnener Lebensgefahr.

Ich auch, um nicht aufzufallen...und bemerke den Wachtmeister nicht, bis es zu spät ist und ich fast über seine Füße laufe.

Es ist der, der mich in seinem Büro so lange hat warten lassen.

Als ob nichts wäre, gehe ich an seinem Rücken vorbei, beobachte aber aus dem Augenwinkel, wie sein Kopf von rechts nach links schnellt und er mich mit dem Blick verfolgt.

Offensichtlich erinnert er sich auch hervorragend an mich. (Wie schmeichelhaft. Ich sollte ihm zu Weihnachten ein Kärtchen schicken, ihn fragen, ob er sich unterdessen eine neue Taschenuhr zugelegt hat.)

Als ich das Ende der Gasse erreiche, habe ich einen ungebetenen Begleiter.

Auch diesmal einen in Uniform.

In dem Glas der Schaufenster reflektiert, beobachte ich, wie ein großer, fassartiger Wachtmeister etwa zwölf Meter hinter mir her schlendert, Hände lässig hinter dem Rücken verschränkt.

Fehlt nur, dass er gutmütig pfeift und Straßenhändler lächelnd beim Namen grüßt, um das Bild eines Polizisten in heimlichem Verfolgermodus zu vervollständigen. (Was bringen sie hier den Kadetten bei? Ist ja zum Heulen.)

Ach, was soll's.

Du hast deine Befehle Herr Wachtmeister und ich habe nicht so recht Ahnung, wohin des Weges.

Deswegen schlage ich vor, wir machen einen ziellosen, irreführenden Bummel durch die Stadt, bis ich zum Abendbrot zurück zu meiner Schwester promeniere und du nichts, aber gar nichts, zu berichten hast.

Was sagst du dazu?

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