3. Bitte keine Hexen
Obwohl die Kaiserburg ziemlich klobig im Vergleich zu Burgen anderenorts ist, ist sie ausgesprochen groß. In ihrem mächtigen Schatten schlendere ich eine gepflasterte Straße hinunter in die Altstadt. Von Zeit zu Zeit bleibe ich stehen, um in einem Schaufenster die Auslagen oder einen kunstvoll geschmiedeten Erker mit Zahnradlüftung zu betrachten.
Nach fünf Minuten verwünsche ich mich selbst schon dafür, nicht eher Marlenes Einladung angenommen zu haben. Mir weht solch eine herrliche Stadtluft voller Möglichkeiten um die Nase, dass meine Schritte sich wie von selbst beschleunigen.
Nürnberg entpuppt sich als ein wahres Wunder.
Breite Straßen mit mehrstöckigen Häusern münden in beschaulichen Plätzen, die mit plätschernden Fontänen, deren beweglichen Skulpturen Märchen zu erzählen scheinen, geschmückt sind. Lange, steile Gassen gehen von den breiten Straßen ab, die wiederum in betriebsamen Plätzen mit dampfbetriebenen Pferdetränken und hübsch geschnittenen Bäumen münden.
Ich streune ziellos, aber immer hügelabwärts.
In einer Hauptstraße gehen kleine Gruppen lachender Frauen in bunten Kleidern an mir vorbei. Ich lupfe meinen Zylinder und steige über ihre kleinen Hunde, wovon ein paar hochwertige mechanische Nachahmungen populärer Rassen sind.
Männer in den Schürzen der Bäckerzunft, die hinter Straßenverkaufstheken stehen, grüßen ihre Kundschaft lauthals und schneiden dicke, braune Brotlaiber auf. Gesellen eilen irgendwohin, Säcke auf dem Rücken tragend. Kinder spielen in Hinterhöfen fangen, oder werden von Erwachsenen gemahnt, bloß nicht unter die Räder vorbeirollender FBMs zu geraten.
Nach einer Woche am Hof in dem eher pompös anmaßenden München, habe ich in dieser Stadt wirklich nicht so viel ausgelassene Munterkeit erwartet.
An einer Ecke neben einem Schaufenster voller neuartigen Kochutensilien, werde ich von einem Gedanken regelrecht überfallen – ich bin ja nicht in Berlin! Mir flimmert das Gehirn und für einen Moment bin ich vollkommen sprachlos.
Ich starre mein Ebenbild im Schaufensterglas an.
Es kann es auch nicht fassen.
Das sehe ich an seinen, von der plötzlichen Erkenntnis geweiteten Augen, und an seinem aufgeklappten Mund. Dazwischen zittert sein kecker Schnurrbart leicht wie eine Antenne auf Empfang.
Tatsächlich. Ich. Bin. Nicht. IN BERLIN. Es gibt keine Frau K weit und breit, die meine eventuellen Vorhaben tadelt und mich auf die Benimmregeln in der Abteilungsfibel hinweist, oder sonst noch irgendwen, der mich kennt und petzt, wenn ich mich mal ungelenk schnäuzen sollte.
Ich habe praktisch dreieinhalb Tage geschenkten Urlaub!
Mir kribbelt es bis in die Haarspitzen und ich habe nicht schlecht Lust sofort etwas richtig Verrücktes zu unternehmen.
Nur so. Aus purer leichtsinnigen Freude.
Aber halt! So verrückt auch wieder nicht, weil ich rechtzeitig zum Abendbrot bei Marlene sein muss, Schwager Helmut kennenlernen. Na dann später mal. Es gibt auch ein Morgen (und noch eins und noch eins, jawohl).
Ich gehe fröhlich pfeifend weiter.
Kurz vorm Hauptmarkt halte ich jäh an einer Ecke an. Etwas oben in einer Hausnische fesselt meine Aufmerksamkeit. Da steht ein kleines Automaton in bischöflicher Aufmachung. Mit einer Hand, die ein elegantes Kreuz schlägt, segnet es die ganze Straße.
Ich schätze Qualitätsarbeit bei Automatonen, besonders seltene Exemplare, und dieses Bischöflein ist hervorragend.
Nachdem ich mich so an die zwanzig Mal segnen lassen habe, gehe ich weiter, Häuserwände nach weiteren von der Sorte absuchend.
Da ich nicht aufpasse, wohin ich meine Stiefel setze, kommt es wie es kommen muss — ich renne fast in eine Steinbrücke hinein.
In letzter Sekunde versuche ich mich wegzudrehen, um den eisenbeschlagenen Pfosten auszuweichen, stolpere aber über eine Unebenheit im Boden und lande schmerzlich - auf beiden Hände und dem Bauch - auf der breiten Brüstung .
„A bißla früh um scho' zu bechern, was?" lacht ein Mann in der roten Kluft der Heizer und schlägt mir im Vorbeigehen freundlich auf den Rücken.
Mir steigt die Schamesröte ins Gesicht.
Ich stehe auf und sehe auf meine Handflächen.
Ich blute nicht.
Die gestreifte Weste ist auch ganz, wenn auch etwas schmutzig.
Ich lehne mich gegen die Brüstung und klopfe den Dreck ab.
Unter mir fließt ein schmaler, grünlich-brauner Fluss träge dahin. Nach einer Pause, in der ich nichts tue außer auf den Strom zu schauen und mich selbst als einen Blechschimpanse zu beschimpfen, fühle ich mich wieder in der Lage, nach mehr Nischenautomatonen zu suchen.
Ich will gerade weiter, als ein langer, schmaler, rabenschwarzer Keil unter der Brücke hervor und in mein Blickfeld hineingleitet.
Was zum Kaiserbart...?
Ich lehne mich über die Brüstung, um besser zu sehen.
Nach dem langen Keil taucht eine Gruppe Passagiere auf Bänken sitzend auf, gefolgt von einem Mann in Hut und gestreiftem Hemd, der mit einer langen Stange das Gefährt lenkt.
Das gibt's doch nicht. Eine venezianische Gondel! Und zwar eine altmodische ohne Aquabetrieb!
Der Gondoliere steuert das Schiffchen Richtung Ufer, wo eine kleine Landungsbrücke neben einer steinernen Treppe angebaut ist. Da taut er an und die vor Glück strahlenden Passagiere klettern langsam heraus. Oben auf Straßenniveau hängt ein Schild, das 20-minütige Gondelfahrten zum günstigen Preis anbietet.
Eine Gondelfahrt in Süddeutschland! Na, wenn das nicht etwas Verrücktes wäre, das ich zu Hause weitererzählen könnte.
Ich hole meine Taschenuhr hervor. Noch reichlich Zeit bis zum Abendbrot.
Mir hallt immer noch ein leises Echo des Schocks in den Knochen, also beschließe ich, ruhig etwas mehr von der Stadt zu sehen, dann auf dem Rückweg das Angebot einer Fahrt anzunehmen. Das Schiffchen schwimmt mir ja nicht weg.
Als ich die Brücke überquere und mich wieder (vorsichtig!) nach Nischenautomatonen umschaue, kommen mir zwei Damen entgegen, die etwa in meinem Alter sind.
Die eine ist eine Brünette in einem flauschigen rosa Kleid mit Silberperlen und Schnickschnack aus Elfenbein besetzt, die ein zartes, herzförmiges Gesichtchen hat. Neben ihr geht untergehakt eine Schwarzhaarige mit einem eher quadratischen Gesicht, die ein schlichtes dunkelblaues Kleid aus irgendeinem glänzenden Stoff mit geschwärzten bronzenen Knöpfen am Aufschlag trägt.
Als sie an mir vorbeischreiten, rieche ich graziles Parfum. Ihre Sonnenschirmchen drehen sich leicht, wie Windräder auf einem Feld, und ich fühle mich irgendwie flau im Magen.
Hübsche Damen.
Ausgesprochen hübsche Damen.
Wirklich ausgespro....
Ich habe nicht vor, denselben Fehler zweimal hintereinander zu begehen und über meine eigenen Stiefel zu stolpern. Ich bin möglicherweise nicht immer der Hellste (ich heiße immerhin Mernick mit Nachnamen), aber ich lerne dazu und halte komplett an, bevor ich mich umdrehe, um den beiden engelsgleichen Geschöpfen nachzuschauen.
Als die Damen die Brücke erreichen, beobachte ich mit nicht geringem Erstaunen, wie sie sich beim Schild wenden und die Gondeltreppe hinuntersteigen.
Nun...wieso nicht gleich eine Fahrt? Warum warten?
Als ich die Treppe erreiche, ist der Gondoliere gerade dabei, den beiden beim Einsteigen zu helfen. „Vorasichta, de Damen. Willkommen aufa de Gondol Fornetti!"
Während die Brünette die Röcke rafft und sich hinsetzt, höre ich, wie sich die Schwarzhaarige bedankt und gleich danach fragt: „Was würde es kosten, nur uns zwei zu fahren?"
„Nura zwei?" Der Gondoliere tut überrascht, indem er die fülligen Augenbrauen mitten auf der Stirn zusammenpresst und die Achseln zuckt. Dann streichelt er sein Kinn nachdenklich, als ob er einen angemessenen Preis erst einmal überlegen müsse.
Was für ein Schmierenkomödiant! Dabei muss er solche Bitten schon hundertmal gehört haben und eine detaillierte Preisliste für Sonderwünsche im Kopf gespeichert haben. Zu Hause gibt's von solchen zweifelhaften Exemplare eines in jedem Toreingang. Auf die muss man keine Rücksicht nehmen. Ich bin schließlich bei der Abteilung, ich erkenne meine Pappenheimer auf den ersten Blick.
Zeit, den edlen Herren herauszukehren.
Ich räuspere mich.
„Gibt's noch Platz für Einen?", frage ich höflich - aber bestimmt - in Richtung Gondoliere. „Wie die Damen bin ich auch bereit etwas mehr zu zahlen, um ausgiebige Beinfreiheit zu bekommen."
Beide Damen schauen zu mir hoch, wie zwei Mäuse, die nicht erwartet haben, einen Kater so nah bei dem Käse zu erblicken. Ich verspüre den Drang, meinen Zylinder zu lupfen und ihnen charmant zuzulächeln, lasse es aber bleiben.
Das hier ist eine ernste Angelegenheit unter Männern.
Ich will in das Boot.
„Beh...." Der Gondoliere schaut uns abwechselnd an. Da sehe ich förmlich, wie sich der Teufel des Kundenschröpfens zu seinem Ohr runterbeugt und ihm etwas von frühem Feierabendbier flüstert.
Ich gehe dem Teufel zur Hand und starre den Mann eindringlich an. (Ich kann eindringlich. Frag mal Theodor.)
Es ist die Schwarzhaarige, die den Kampf entscheidet. „Aber gewiss doch!", ruft sie freundlich. „Steigen Sie freilich ein der Herr, Raum gibt's zur Genüge. Möglicherweise ist es auch zu dritt noch lustiger als zu zweit."
Das hoffe ich doch sehr!
Glücklicherweise sind während unserer kleinen Unterhaltung keine anderen Lustfahrtswillige die Treppe runter gepoltert und ich steige als einziger Mitfahrer ein. Der Gondoliere kassiert (und das nicht schlecht) und macht die Taue vom Poller ab.
„Sie sind nicht von hier", stellt die Schwarzhaarige fest, als wir langsam weg vom Ufer treiben. Die Damen sitzen in Fahrtrichtung mir gegenüber in der Mitte der Gondel.
„Nein", antworte ich. „Ich komme aus Preußen. Nicht unweit von Berlin."
Die Brünette schaut mich kurz, und wie ich meine gelangweilt an, um sich dann ganz der Szenerie zu widmen.
„Berlin! Wie reizend", sagt die Schwarzhaarige. Sie lächelt mich an, die schön geschwungenen Augenbrauen hochziehend. "Und was führt Sie in unsere bescheidene Stadt?"
"Familienbesuch." Ich berichte ihr kurz von Marlene und meine schmachvolle Vernachlässigung familiärer Pflichten. Einigermaßen humorvoll. Oder auch nicht, das kann ich nicht recht beurteilen.
Mir ist immer noch flau im Magen.
„Und Sie sind von hier?", frage ich zurück.
„So gut wie. Darf ich Ihnen die Sehenswürdigkeiten erklären, wenn Sie unsere Stadt zum ersten Mal mit einem Besuch beehren?"
„Aber gerne. Ich heiße übrigens Mernick. Leopold Mernick."
„Vianna. Und das ist Lydia", sagt Vianna und schaut die Brünette kurz an. Sie reagiert nicht mal mit einem Wimpernschlag auf ihren Namen, sondern überlässt die Last des höflichen Geplänkels ganz ihrer Freundin.
Wir segeln links an kleinen, baumbewachsenen Inseln und unzähligen Sehenswürdigkeiten vorbei, bevor der Fluss sich plötzlich ausbreitet und windgetriebene Mühlräder die Landschaft beherrschen. Die Stadtmauern tauchen auf und wir fahren unter eine Zugbrücke. Der stille Gondoliere (er singt nicht einmal) dreht das Schiffchen um und wir fahren zurück, diesmal rechts an den Inseln vorbei.
Alles ist richtig malerisch, aber eigentlich lausche ich nur dem Tonfall von Viannas Stimme, denn sie redet wie ein Wasserfall. Ein zutiefst beruhigender, angenehmer, gurgelnder Wasserfall, der mit den Geräuschen des Flusses zusammenschmilzt.
Man fühlt sich wie auf Zauberkissen gebettet.
Ich höre nicht die Hälfte von dem, was sie sagt, schaffe es aber doch, im passenden Moment zu nicken und oh und tatsächlich? zu murmeln.
Lydia ignoriert mich immer noch geflissentlich. Sie zieht einen Handschuh aus und lässt eine blasse Hand ins Wasser gleiten, wo sie sie leicht hin und her bewegt, wie ein Fischchen. Mir kommt langsam der Verdacht, sie hatte gar keine Lust, überhaupt eine Fahrt auf dem Fluss zu unternehmen.
Oder sie ist einfach immer so.
„Ich habe eine Idee!", platzt es aus Vianna auf einmal heraus, als wir fast das andere Ende der Altstadt erreicht haben. Sie dreht sich zu dem Gondoliere um. „Würde es Ihnen was ausmachen, uns die Stelle zu zeigen, wo früher die Hexen in den Fluss geworfen worden sind? Den Hexenrichtplatz? Den soll unser Gast aus Berlin doch auch zu sehen bekommen. Und ich glaube, der ist nicht weit."
Dann sagt sie zu mir, mit schäumender Begeisterung, "Das ist natürlich schon lange her, aber der Ort ist immer noch schaurig. Das müssen Sie einfach gesehen haben."
Oh nein, das muss ich nicht!
Bitte keine Hexen. Ich hasse Hexen.
Damals hat unsere Oma selig uns Kindern aus jenem großen schwarzen Märchenbuch vorgelesen, das sie an einem besonderen Ort bewahrt hat und nur hervorgekramt hat, wenn wir zum Besuch bei ihr und Opa waren. Und was für Geschichten haben meine fiesen kleinen Geschwister immer hören wollen? Jawohl, die Hexengeschichten! Je gruseliger, desto besser, denn sie haben gewusst, wie sehr ich mich vor diesen bösen Alten in dunklen Wäldern fürchte.
Denen hat Oma aber jedesmal hinterhältig zugezwinkert und gleich mitgemacht, ohne an die Folgen zu denken. (Eine Mernick eben.)
Der Gondoliere zögert. Diesmal ist es kein Schauspiel.
Ich wittere meine Chance und starre ihn bedeutungsschwer an.
„Vielleicht sollten wir den guten Mann nicht überstrapazieren", sage ich, um bei ihm ein paar Teufel zu begünstigen. „Die zwanzig Minuten sind fast schon um."
„Wir haben aber extra bezahlt", sagt Vianna entschieden. Und dann zum Gondoliere: „Bitte?"
„Ummm....Issa siechte dort. Schwierig zua navigieren. Aber ich fahre so nahe anna Ort wiea mögelich, inna Ordanung?"
Nein, nicht in Ordnung!
„Vielen dank der Herr, das wissen wir sehr zu schätzen", sagt Vianna fröhlich. Sie schaut zu mir herüber. „Was ist, Herr Mernick? Fühlen Sie sich nicht wohl?"
„Nein, nein, alles in bester Ordnung." Ich versuche ihr bezauberndes Lächeln zu erwidern, gelingt mir aber nicht ganz.
Hör auf, Leopold, schelte ich mich stumm. Du bist erwachsen und im kaiserlichen Dienst und hast schon gefährlichere Einsätze erlebt als das hier und willst du dich wirklich vor Vianna wie ein Angsthase benehmen und überhaupt, das sind alles bloß Geschichten und Oma hat nur Spaß gemacht und Hexen gibt es doch nicht in Echt oder wenigstens nicht heute noch, Himmel Herrgott nochmal.
Hilft alles nichts.
Wir segeln weiter, den Hexen entgegen.
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