1. Drei Meister fallen vom Himmel
Deutschland, 1881
Wir haben uns nicht einmal eine Stunde von München entfernt, als ein fürchterliches Gequietsche durch den roten Teppich auf dem Fußboden des dienstlichen Luftschiffes dringt.
Frau Korlowski, die mir schräg gegenüber sitzt, hält mit dem Stricken inne, eine Länge puderrosa Garn um ihren erhobenen Zeigefinger geschlungen. An der anderen Seite des Ganges schaut Lutz von seinen Aktenpapiere hoch, die er vor sich auf dem schmalen Arbeitstischchen ausgebreitet hat. Ihm gegenüber sinkt die Sportzeitschrift, hinter der Theodor bis jetzt sein Gesicht versteckt hält, langsam runter.
Wir schauen einander fragend an, sagen aber nichts.
Wir von der Abteilung IIIb-k haben reichlich Übung in abwarten und Tee trinken.
Das Gequietsche verstummt.
Vielleicht war es nichts.
Ich schaue aus dem Panoramafenster und verfolge weiter, wie der lange, dunkle lila Umriss unseres Luftschiffes über die grüne Landschaft und Puppenstubendörfer hinweg gleitet.
Das Getriebe fängt gleich wieder zu stampfen an, wie ein um sich tretender Bergtroll. Ein starkes Beben, das durch die Stahlträger geht, bringt die hellen Innenwände der Passagierkabine zum Zittern.
Dann hören wir, wie die Luftschraube am Heck keucht, keucht, keucht...und aussetzt.
Ein paar Sekunden lang treiben wir geräuschlos durch den blauen, wolkengetupften Himmel Bayerns.
Mein Magen schaukelt irgendwo zwischen meinen Knien wie auf einem Trapez und mir rauscht die Stille in den Ohren.
„Also, das behagt...", setzt Theodor an, wird aber gleich unterbrochen von heftigem Fluchen aus der Pilotenkabine, die wenige Schritte von uns entfernt hinter einer Falttür liegt. „...das hier behagt mir gar nicht."
„Wem sagst du das", murmelt Lutz, seinen Blick auf den Teppich gerichtet.
Die Schraube setzt sich wieder, aber mit spürbar verminderter Kraft, in Bewegung, um dann nach ein paar Drehungen noch mal den Geist aufzugeben.
Das Fluchen geht in gebellte Sätze über. Stiefelgetrampel. Ein nicht-enden-wollendes Piepsen. (Sind das etwa Hammerschläge?)
Nach einer gefühlten Ewigkeit wird die Falttür ungestüm beiseitegeschoben. Ein Mann in grauer Uniform, sein Stehkragen mit der goldenen Möwe der Kaiserlichen Luftfahrt geschmückt, tritt in den Passagierraum ein und grüßt mit einem knappen Nicken.
„Achtung, die Herrschaften! Momentan haben wir mit einigen kleinen technischen Widrigkeiten zu kämpfen. Aus diesem ungünstigen Anlass bin ich den Herrschaften leider gezwungen mitzuteilen, dass unsere geplante Fahrt nach Berlin vorzeitig abgebrochen werden muss. Wir --"
„Wir stürzen ab, das wollen Sie uns mitteilen, oder junger Mann?", sagt Frau Korlowski, in genau demselben Ton, in dem sie für gewöhnlich nach dem Tagesgericht fragt.
„Wir, eh, versuchen eben jene bedauerliche Eventualität nach Kräften zu verhindern, gnädige Frau. Seien Sie versichert, Sie sind in den besten Händen, nämlich den kaiserlichen. Der Kapitän meint, eh, wir werden alsbald den Luftschiffhafen in Nürnberg ansteuern, um dort um Reparatur zu bitten."
„Verstehe", sagt Frau K trocken. Das Tagesgericht gefällt ihr nicht.
Mir auch nicht.
„Stets zu Diensten, die Herrscha--"
Eine Wolke zischenden Dampfs nebelt augenblicklich die Fenster beidseitig ein. Der Luftfahrtsmensch zuckt zusammen, starrt den schwefelgelben Dunst mit unverhohlenem Unglaube an.
„SCHEISSE!" ertönt ein Schrei aus der Pilotenkabine. „JETZT SÄUFT MIR AUCH NOCH DER VERTEILER AB. RADEMACHER! BEWEGEN SIE IHREN ARSCH HIERHER UND FUNKEN SIE NÜRNBERG WIEDER AN. SAGEN SIE DENEN WIR BRAUCHEN SOFORT FREIE BAHN, HERRGOTT NOCHMAL. WIR KOMMEN RUNTER."
Der Luftfahrtsmensch, (Rademacher eben) erbleicht, grüßt knapp, tritt hinaus und rammt die Falttür zu.
Von dem dicken Textil aus blickt uns ein welliger Reichsadler, der zwei fahrtüchtigen Zeppeline in seinen Klauen hält, mit verschreckten Knopfaugen an. Er kann nichts dafür.
Wir auch nicht.
Lutz reagiert als erster.
Hastig sucht er seinen Papierkram zusammen, stopfte ihn mit fahrigen Bewegungen in seine lederne Aktentasche mit den Kupfernieten hinein. Frau Korlowski verstaut gewissenhaft ihr Strickzeug in dem kleinen Reisekoffer aus geblümtem Gobelinstoff, den sie dann damenhaft auf ihren Schoß setzt. Theodor tut nichts, außer nervös seine Zeitschrift mit den Händen zu bearbeiten, und ziellos umher zu blicken, als ob er die Lage in ihrer ganzen Tragweite noch nicht ganz begriffen hat. Wahrscheinlich hat er das auch nicht.
Mein Magen schnellt wieder auf seinen Platz.
Wir stürzen tatsächlich ab! Endlich passiert mir was!
Man geht unter die Spione, um Abenteuer zu erleben, nicht wahr? Und nicht, um tagelang an einem Schreibtisch zu hocken und mehrseitige Berichte zu erfassen, in denen es um Nachrichten über die Lieblingskäsesorte des norwegischen Botschafters geht, oder dass die Tochter des Herzogs von Biederland-Schaumkrone-Wassermühle zu Kuhdorf leicht nach Hering riecht.
Ob solche Trivialitäten dem Reich tatsächlich dienen, oder dem werten Herrn Reichskanzler von Bismarck in irgendeiner Weise von Nutzen sind, sei dahin gestellt.
Mir hängen sie zum Hals raus.
Sogar der abenteurversprechende Einsatz in München der letzten Woche ist ein Schlag ins Wasser gewesen. Die ganze Zeit hatte ich nur einen einzigen Auftrag gehabt, und der ist binnen zwei stockfinsterer Minuten erledigt gewesen.
Ich kam mir wie menschliche Staffage vor.
Langsam glaube ich, mir wird die Abteilung niemals etwas Wichtiges anvertrauen.
Während die anderen sich auf das Unausweichliche vorbereiten -- Lutz presst seine Aktentasche an die schmale Brust, und flüstert ihr beruhigende Wörter zu. Theodor hat mittlerweile seine Zeitschrift fallenlassen, und sich an seinem Sitz festgekrallt wie ein Kätzchen vor einem tosenden Wasserfall. Frau K schaut mit grimmiger Miene aus dem Fenster -- sehe ich vor meinem geistigen Auge ein Lichtspiel aufrollen.
Ich sehe, wie das Luftschiff auf einem einsamen Acker zerschellt.
Da lodern Flammen auf!
Wir robben heldenhaft unter den verdrehten Metallstangen des Eingangs hindurch... über losen Kabeln...durch schwarzen Rauch...um endlich in die Freiheit zu gelangen...und vielleicht werden wir alle schnell genug sein und der Explosion des Gases entkommen!
Vielleicht aber auch nicht.
Vielleicht werden einige von uns auf der Flucht über Kaninchenlöcher stolpern und leider leider mitsamt protziger Aktentasche umkommen müssen. (Ich schiele zu Lutz rüber.)
Man kann nie wissen.
„Mernick!"
Ich schrecke hoch.
„Wischen Sie sich das dämliche Grinsen aus dem Gesicht", befiehlt mir Frau K, missgünstig über den Rand ihrer Brille blickend. „Es könnte bald ernst werden."
„Jawohl, Frau Korlowski", gebe ich kleinbei und mache sofort auf ernst.
Ich kann ernst. Nur meistens nicht sehr lange.
Mein rechtes Bein wippt von selbst auf und ab.
Das Getriebe heult und knirscht. Neu dazu kommen Klänge wie von einem sterbenden Hamster. (Das kann aber Theodor sein. Da bin ich mir nicht sicher.) Der Pilot bemüht sich sicherlich nach Kräften, die Heckschraube zu einem kontinuierlichen Drehen zu bewegen, aber letztendlich ohne Erfolg.
Wir sinken merklich erdwärts.
Frau K schaut wieder aus dem Fenster. Wir haben jetzt freie Sicht, obwohl die Scheiben immer noch wie verrückt zittern. „Wir werden den Hafen nicht erreichen", sagte sie zu niemand Bestimmtem. „An einem Kirchturm bleiben wir wahrscheinlich hängen, wenn wir Glück haben."
Kirchturm? Noch besser! Wie werde ich das den Jungens bei der Arbeit erzählen? Stellt euch mal vor, wir hingen an einem Kirchturm fest...
Die Falttür wird wieder aufgerissen und ein stark schwitzender Rademacher schreit uns an. „Schnallt eure Sicherheitsgurt fest! Wir landen gleich und zwar nicht gerade angenehm!"
Ich schaue nach unten. Die Dächer der Häuser und Baumkronen sind jetzt so nah, dass wir die staunenden Gesichter der Menschen, die draußen stehen und ihre Gesichter nach oben gedreht haben, deutlich sehen können.
Dann auf einmal verschwinden sie und das Ende einer erdenen Landebahn kommt uns eilig entgegen.
Das Luftschiff setzt hart auf.
Wir hüpfen zwanzig Meter über den rauen Boden, schießen über den Rand der Landebahn hinaus ins hohe Gras und kommen endlich, komplett durchgerüttelt und halb auf die Seite gekippt, zum Stehen.
Stille. Ein leises Knarren.
Ich schaue Frau K an.
Frau K schaut Lutz an.
Lutz schaut mich (widerwillig) an.
Und Theodor fängt laut zu jammern an.
Es gibt keine Explosion. Wir müssen nicht um unsere Leben rennen. Rademacher kommt, entriegelt die Außentür und wir gehen ordentlich vom schräg liegenden Bord.
Etwas vom Luftschiff entfernen wir uns doch - man geht immer auf Nummer sicher - aber es ist eher wie ein gemütliches dahin Schlendern im Charlottenburger Schloßpark. Es hat nichts mit einer dramatischen Flucht gemein.
Ich fühle mich enttäuscht, wie jemand, der seine Wette sicher wähnte, aber schließlich einsehen muss, dass er daneben getippt hat. Wahrscheinlich werde ich einige Ausschmückungen an dieser Geschichte vornehmen müssen, denn das bißchen Gehüpfe gerade ist nicht mal ein Freibier im Studentenverein wert.
Bald kommt das gesamte Bordpersonal nach, und wirft sich müde ins Gras. Der Kapitän, ein hageres Exemplar mit langen Armen und passablem Schnurrbart, schiebt seine Grünglas-Schutzbrille auf die Stirn seines Helmes, entledigt sich seiner Handschuhe (die er weit von sich wirft), fischt einen Flachmann aus irgendeiner Tasche seiner grauen Uniform und fängt an zu stemmen.
Wir schauen zu, sagen aber nichts. Obwohl wir alle auch einen Schluck verkraften könnten.
Frau K setzt sich natürlich nicht, (also dürfen wir auch nicht) sondern steht mit angegrautem Dutt, Hütchen, Schirmchen und Gobelintasche mitten auf dem Feld, wie auf einem Bahnsteig.
Es geht eine leichte Brise. Der Geruch nach feuchtem Waldboden weht uns aus einer entfernten Ansammlung von Bäumen zu, der sich mit dem unnachahmlichen, und viel näheren, wie ich merke, Geruch nach Kuh zu mischen scheint.
Wir befinden uns eindeutig auf einer Kuhweide.
Ich schaue auf meine Stiefel, nur um sicher zu gehen, dass ich sauber stehe.
Tue ich.
„Nun, ich nehme an, das wird nichts mit einer Reparatur", sagt Frau K in die Stille hinein, nachdem sie zuerst das Schiff und dann das saufende Flugpersonal gründlich taxiert hat. „Wir müssen einen anderen Weg finden, um nach Berlin zu kommen."
„Vorhin, in München, habe ich die Rückfahrt mit der Reichsbahn vorgeschlagen", sagte Lutz. Er hält noch seine Aktentasche umklammert und blickt glasig in die Ferne. „Das schlag ich jetzt, mit Verlaub, nochmal vor."
Ein ungeduldiger Seufzer aus Frau K.
„Gewiss. Und ich meinte, man sollte sich nicht so leicht von dem Angebot der Gratisschmalzkringel in den Erste-Klasse-Waggons verführen lassen, wenn Sie sich daran erinnern wollen, Dobler. Die Fahrt mit einem Luftschiff der Armee ist nicht nur schneller, sondern auch kostenlos, weil wir offiziell immer noch im Dienst sind. Bahn, pah. Ein Transportmittel für Zivilisten, nicht für pflichtbewusste Reichsbeamten. Wie Sie eigentlich wissen sollten."
Wo sie Recht hat, hat sie Recht.
„Aber unter den gegebenen Umständen", setzt Frau K wieder an, "wüsste ich nicht, wie wir ein anderes kaiserliches Luftschiff finden können. Das heißt, wir müssen entweder mit einer kommerziellen Linie weiter fliegen oder auf die Bahn umsteigen. Aber wenn Sie erste Klasse fahren wollen, Dobler, dann aus dem eigenen Portemonnaie! Das Reich wird Ihr Schlemmen nicht bezahlen."
Ab und zu mal werde ich gefragt, ob es normal bei unserem Verein sei, Frauen als Vorgesetzte zu haben.
Nein, ist es nicht. Aber ich bin der Meinung, falls man doch eine vorgesetzt bekommt, sollte man sich in Acht nehmen und sich keine, noch so kleinen, noch so heimlichen, Annehmlichkeiten erlauben.
Die Gesellschaft sieht vielleicht in den Frauen vor allem eher harmlose Geschöpfe, die sich für Kinder und Glitzertand übermäßig interessieren, aber die Regierung im Allgemeinen, und der werte Herr Bismarck insbesondere, wissen die Stärken des schwachen Geschlechts wie einen todbringenden Säbel einzusetzen. Man ist von seinem sorglosen Kopf schneller getrennt als man den kalten Stahl spüren kann. Und dann findet man ihn - mit nicht geringem Erstaunen - auf einem Pfahl vor ihrer Bürotür wieder, den Schädel als Blumentopf umfunktioniert.
Das weiß ich leider aus Erfahrung, nicht aus Klugheit.
Lutz anscheinend nicht.
Er hat nicht mal den Anstand, rot zu werden, unter dem Vorwurf, sich auf Staatskosten mit Leckereien vollstopfen zu wollen. Er blickt immer noch geistesabwesend in der Ferne, leicht an dem Rand seiner blöden Aktentasche kauend.
Ich schaue seinem Blick nach und sehe die Dampfschwaden zweier pferdloser Fortbewegungsmaschinen, die über die Landebahn auf uns zu rollen.
Es sieht so aus, als ob wir gleich abgeholt werden.
Der werte Herr Rademacher, der seine Gesichtsfarbe zurückbekommen hat, jedoch immer noch etwas wackelig auf den Beinen ist, muss die FBMs auch gesehen haben, da er aufsteht und ihnen entgegen tappst. Die Maschinen halten an. Das matte Metall bebt und Dampfwölkchen entweichen aus dem seitlichen Schorstein. An die fünf Männer in Overall und Arbeitszylinder steigen langsam aus, als ob sie an Gliedersteifheit leiden.
Sie sprechen kurz miteinander, dann dreht sich Rademacher um und deutet auf uns.
Ein kleiner Mann mit Schmerbauch kommt herüber, während seine Kameraden das Luftschiff in Augenschein nehmen.
„Willkommen in Nürnberg." Das Begrüßungslächeln spart er sich. „Die Herrschaften werden in die Ankunftshalle gefahren, wo sie sich ausruhen und etwas zu sich nehmen können."
„Vielen Dank, sehr gern", antwortet Frau K mit einem höflichen Nicken. „Schreibstubenmeister Dobler, Mernick und Kürn, folgt mir."
Wir folgen Frau K.
Aber halt... Nürnberg!
Wie einen Schlag aus einer hochgeladenen Elektropistole fährt mir der Schock durch die Knochen. In dem ganzen Wirrwarr, hatte ich glatt vergessen, wo wir uns befinden -- Nürnberg, wo meine jüngere Schwester, Marlene, jetzt seit ein paar Jahren wohnt!
Ach, du Schreck. Marlene liegt mir ständig in den Ohren, ich müsse sie mal besuchen kommen, ihren neuen Ehemann kennenlernen. Und jetzt schau, ich bin ihr, sozusagen, direkt im Schoß gelandet. Was ist das denn für ein verrückter Zufall?
Kein Zufall, würde unsere Mutter sagen. Schicksal.
Da darf man nicht nein sagen. Geschenkte Gäule und alles.
Das Flugpersonal lehnt es ab, mit uns zu fahren, also steigen wir zu viert mit unseren Koffern in die FBM ein und tuckern Richtung Ankunftshalle über die staubige Landebahn los.
(2.173 Wörter)
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Danke fürs Lesen! Deutsch ist nicht meine Muttersprache, also falls Du grammatikalische Fehler im Text findest, lass es mich bitte wissen! (Thank you very much 🎩)
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