K A P I T E L ♥️ 24
•MAGNY•
»Atme und lass los.
Atme und lass dich fallen.
Atme und schließ die Augen.
Hinter der Dunkelheit wird es Licht geben.
Dieses Licht wird dich halten.
Dieses Licht wird dich fangen.
Dieses Licht wird dir die Augen öffnen.
Dieses Licht wird dich atmen lassen.
Du wirst dieses Licht lieben.
Und das Licht wird dich lieben.«
»Probier es noch mal!«
»Ach, das hat doch alles keinen Zweck! Ich mache das schon seit Stunden!«
»Mag', setz dich wieder hin und schließ deine Augen. Du weißt besser als ich, dass wir diesen Kontakt brauchen!«
Ich seufzte genervt und atmete tief ein und aus, ehe ich mich wieder auf den Teppich im Wohnzimmer sinken ließ und mit genervten Augen Tara beobachtete.
Sie saß wie gehabt im Schneidersitz, hielt die Finger meditativ verdreht und atmete tief ein und aus, dass ihr Oberkörper sich sichtbar hob und senkte.
Sie sah sehr entspannt aus, ganz im Gegensatz zu mir.
Seit drei Stunden versuchten wir vergeblich durch Erinnerungen Kontakt mit Hail und Asher aufzunehmen, aber ich kriegte es einfach nicht hin.
Wann immer ich die Augen schloss und an die schönsten Erinnerungen mit meinen Brüdern dachte, war da nichts als Schwärze und einfach ... nichts.
Das Geplante funktionierte einfach nicht und der Tagebucheintrag hatte uns damit auch kein bisschen geholfen.
Das alles war für den Müll und das machte mich wirklich kirre. Es schmiss alles über den Haufen, was gut hätte klappen können.
Wie sollte ich mein Rudel denn retten, wenn sie nicht wussten, dass ich überhaupt kam?
Nichts ergab Sinn, wenn sie nicht über mein Kommen informiert waren.
Scheiße, scheiße, scheiße ...
»Magny! Jetzt entspann dich und hol sie dir in den Kopf. Dieses Notizbuch ist doch keine Fiktion!«
Zum Millionsten Mal schloss ich die Augen und lauschte Taras Stimme, die sanft umher schwang und mich entspannen sollte, um alles richtig zu machen.
Wie aber auch die Male zuvor erschien nichts vor meinen Augen, das ich hätte losschicken und senden können.
Was auch immer Maggie Sherman getan hatte, ich konnte es nicht nachvollziehen. Es klappte bei mir nicht.
»Es reicht!«, entschloss ich nach einer weiteren Stunde, die ich nutzlos herumsaß und mich in Enttäuschung suhlte.
Mein Plan schlug fehl, meinen Brüdern lief die Zeit davon und ich musste alles umkrempeln und mir etwas Anderes ausdenken.
Und das schleunigst.
»Wenn du meinst. Magny, ich denke aber, wir sollten es weiter versuchen. Die Rettung wäre eine Millionen Mal einfacher, wenn dein Volk Bescheid wüsste. Vielleicht brauchst du einfach Ruhe und neue Kraft. Schlaf eine Nacht darüber.«
Ich nickte und lächelte Tara dann dankbar an. Sie hatte sich heute den ganzen Tag über meine Jammer-Rede angehört. Ich war wirklich froh, sie zu haben.
»Danke für deine Hilfe und all deine Hoffnung.«
Ich zog sie in meine Arme und lächelte ihr zum Abschied zu. Sie wank das Danke wie selbstverständlich ab.
»Kein Problem. Wir sehen uns morgen.«
»Ja, bis morgen.«
Anders als die letzten Abende lief ich heute allein zurück.
Der Abend war noch jung, es dämmerte erst und läutete die Nacht bloß ein.
Ich fühlte mich trotzdem meiner Kraft beraubt, obwohl ich eigentlich nichts außer einer kleinen Shoppingtour und den ersten Tag meiner Periode hinter mir hatte.
Die Hände tief in den Taschen der Jacke vergraben, dachte ich an Hail und Asher und das, was ihnen wohl gerade widerfuhr.
Schlug man sie? Misshandelte man sie? Erpresste man sie?
Ich hatte keine lebhaften Träume mehr gehabt, aber mich beschlich das quälende Gefühl, dass sie mir noch auflauern würden.
Und ich hatte sie nicht unter Kontrolle. Denn ich kriegte das, was Maggie Sherman getan hatte, einfach nicht auf die Reihe.
Missmut erfüllte mich. Missmut mit Angst, dass ich einfach zu schwach war, um derartig magisches zu tun.
Wie sollte ich meine Brüder je auch nur heile aus dieser Sache bekommen?
Wie konnte ich sie retten?
Die Fragen löcherten mich wie einen Käse und ich fühlte mich mit kiloschwerem Ballast beladen.
Nate hielt meine dementsprechend missmutige Miene einige Minuten später für ein Resultat meiner Erdbeerwoche.
Ahnungslos machte er sich die Mühe und bettete mich auf dem Sofa, kaum das ich die Haustür hinter mir geschlossen hatte.
Mit Wärmflasche und Kakao umwarb er meine dunklen Gedanken und tappte nebenher in vollkommener Dunkelheit.
Meine Periode war wirklich das letzte Problem, das ich hatte. Und Nate hatte keinen Schimmer. Oder er ignorierte ihn geflissentlich.
Ich fühlte mich auf beiden Wegen schlecht, schrecklich und trügerisch.
Aber das Einzige was ich deswegen tat, war mich dankend der Tasse zuzuwenden.
Ich konnte einfach nicht anders. Mein Kopf war viel zu voll für Schuldgefühle.
»War es nett bei Tara?«
Nate schaltete den Fernseher ein und setzte sich neben mich aufs Sofa.
Du hast ja keine Ahnung.
»Ja. Es war ganz lustig. Wir haben mit ihren Geschwistern getobt und dann noch ein bisschen gequatscht.«
Ich hasse es zu lügen.
»Klingt nach einem netten Abend.«
Er schloss die Konversation damit irgendwie.
Eine Talkshow im Fernsehen nämlich schluckte unsere Aufmerksamkeit und richtete sie auf den flimmernden Bildschirm.
Bei keinem von uns beiden blieb sie dort allerdings lange.
Meine Gedanken schwirrten um all meine Probleme und die knappe Zeit, die mir für meine Aktionen nur noch blieb.
Nate war einfach müde.
Nach einiger Zeit legte er sich aufs Sofa und bettete seinen Kopf auf meinen Oberschenkeln und fiel so ins Land der Träume.
Schlaf gut, Baby.
Ich schaltete den Fernseher irgendwann aus. Die Geräusche und das Gelächter der Menschen machten mich fertig und ich konnte es wirklich nicht gebrauchen, noch tiefer in mein Loch zu sinken.
Mit starren Augen starrte ich auf den dunklen Bildschirm und kraulte nebenbei Nates Gesicht.
Er sah so süß aus, wenn er schlief. Seine Nase krauste sich im Schlaf, seine Lippen waren gespalten und er atmete so gleichmäßig und ruhig, dass sein Körper davon mitschwang.
Er war einfach niedlich.
Ich fragte mich noch die ganze Nacht, was ich falsch machte.
Es war natürlich kein Katzensprung sowas zu trainieren. Aber ich hatte irgendwie darauf gehofft.
Denn mir blieb wirklich keine Zeit mehr.
Es war nach Mitternacht und somit Anbruch des Mittwochs.
Spätestens Samstagmorgen musste ich mich auf die Reise machen. Bis dahin musste ich noch die notwendigen Kräuter pressen, Nates Mutter mit ins Boot holen und die genaue Höhle lokalisieren, in der man meine Brüder gefangen hielt.
Wenn ich allerdings nicht mit ihnen in Kontakt treten konnte, wurde das nahezu unmöglich.
Hail, Ash, wo seid ihr nur?
Ich vermisste die beiden mit jedem Tag ein bisschen mehr.
Nate schaffte es hervorragend mich abzulenken, aber in allem was wir unternahmen, sah ich ihre Gesichter. Sie waren überall und sie verfolgten mich.
Und irgendwie machten sie mir damit die schönsten Erinnerungen kaputt. Einfach, weil sie bloß Erinnerungen waren und nicht wirklich da.
Erst heute in der Stadt war ich kurz davor gewesen in Tränen auszubrechen.
Vor Nate hatte ich es überspielt, aber sein verlorener Blick vor all den Frauenprodukten hatte mich exakt an Hail erinnert, der vor vier Jahren genauso ausgesehen hatte.
Nachdem wir alle drei zunächst gedacht hatten, ich wäre dabei zu sterben, weil das Bett voller Blut gewesen war und sie förmlich ausgerastet waren vor Angst, hatte unsere Nachbarin uns schmunzelnd aufgeklärt und eines besseren belehrt.
Wir waren zu dritt losgefahren und hatten ratlos vor all den verschiedenen Größen von Binden und Tampons gestanden.
Hail und Asher hatten keinen blassen Schimmer gehabt und kurzerhand hatten sie zu den bestmöglichen Dingen gegriffen und damit den Wagen gefüllt.
Der Vorrat hatte bis heute gereicht und wäre ich damals nicht so ahnungslos gewesen, hätte ich mich vermutlich geschämt, als wir diese übertrieben vielen Dinge gekauft hatten.
Aber ich war jung und ahnungslos. Ich hatte keine Mutter und keinen Vater gehabt, die mich hätten warnen können. Da waren nur meine herzallerliebsten Brüder, die sich nach ihrer Panikattacke und dem Großeinkauf einen guten Rat und Hilfe bei unserer Nachbarin suchten und mich dann aufklärten.
Sie handelten all unsere Probleme immer hervorragend.
Sie waren so schnell, so erwachsen. Ich hatte ein riesiges Glück, sie zu haben.
Sie übernahmen die Rolle der Eltern perfekt und auch, wenn sie Mum und Dad niemals ganz ersetzen konnten, waren sie grandios in allem, was sie taten.
Meine Brüder waren meine Vorbilder.
Sie waren mit ihren neun Jahren zu meinem Lebenssinn geworden. Ohne sie wäre es mir niemals möglich gewesen, nach dem schrecklichen Unfall zu überleben.
Sie waren immer da.
Als ich im Krankenhaus erwacht war, bis hin zu dem schwarzen Tag der Beerdigung meiner Eltern, über meinen ersten Schultag, meinen ersten BH, meine Periode und in jeder dunkelsten Minute.
Einfach immer.
Und nebenbei rissen sie sich selbst durchs Leben.
Brachten sich kochen bei, wuschen die Wäsche, sorgten dafür, dass wir Geld hatten, trainierten ihren Wolf, lernten für die Schule, absolvierten die Highschool.
Für mich gaben sie eine Menge auf.
Aber ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem ich das Gefühl hatte, wie würden es bereuen.
Sie waren mir selten böse.
Sie waren niemals abweisend und stießen mich von sich.
Wir hatten keine Geheimnisse voreinander. Wir liebten uns bedingungslos.
Und wir kämpften immer füreinander.
Bei uns gab es keinen Streit.
Spätestens am Abend rauften wir uns wieder zusammen, denn wir wussten, wir hatten nur uns drei und schneller als wir denken konnten, konnte es anders sein.
So wie jetzt.
Jetzt war alles anders.
Und ich war darauf nicht eingestellt gewesen.
Ein Leben ohne meine Brüder.
Wochenlange Trennung.
Das war die reinste Folter.
Es war das Schlimmste überhaupt.
Denn ich brauchte die beiden um mich.
Nur sie konnten mir das Gefühl geben, dass ich nicht allein auf dieser Welt war.
Nur sie konnten jeden Schmerz nachvollziehen, den ich empfand.
Nur sie kannten mich wirklich.
Denn nur ihnen gab ich alles von mir.
Nur meinen Brüdern.
Ich liebe euch.
Ich ließ Nate allein auf dem Sofa zurück.
Ich brauchte frische Luft und wollte verdammt nochmal weinen.
Mir war danach.
Aus dem Schlafzimmer holte ich mir Ashers Pullover und schlüpfte unter seine Obhut.
Wenn ich den Pullover anzog, fühlte es sich an, als sei er direkt neben mir.
Als läge ich in seinen Armen – so wie ich es die letzten zwölf Jahre getan hatte.
Jede Nacht war ich in seiner und in Hails Umarmung eingeschlafen. Es gab keine einzige Ausnahme.
Mit der Kapuze über den Haaren und dem Stoff bis hoch zur Nase gezogen, setzte ich mich barfuß auf die Treppenstufen vor dem Haus und starrte in die dunkle Nacht hinaus.
Anders als am Tag war nun keine Seele mehr draußen.
Kein einziges Licht brannte mehr in einem der vielen Häuser um mich.
Die Wölfe des Blutmonds schliefen tief und fest.
Nur mich hielt der Vollmond wach. So, wie er es immer getan hatte.
Denn der Vollmond war mein Mond, unser Mond.
»Da war eine Sternschnuppe!«
»Wirklich, Baby?«
»Ja, ja! Da war eine Sternschnuppe! Direkt neben dem Mond!«
Hail sah mich begeistert an und zog mich dann auf seinen Schoß.
»Wenn das so ist, dann musst du deine Augen schließen.«
Ich kicherte und wandte mich in seinem Griff.
Er ließ mich nicht los.
»Wieso das denn?«, ergab ich mich schließlich und lehnte mich mit dem Rücken an seinen Oberkörper.
Er gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Weil man sich etwas wünschen kann, wenn man eine Sternschnuppe sieht«, verriet er und sah dann hinauf zum Himmel.
Er lächelte. Und ich wusste nicht, wieso er das tat. Aber er lächelte ständig in den Himmel. Genauso wie Ash.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.« Er lächelte liebevoll und hielt mir dann mir der Hand die Augen zu.
Ich kicherte auf.
»Los, wünsch dir was, Baby!«
»Okay, okay!«
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich.
Und dann sprach ich meinen Wunsch aus. Leise und bloß in Gedanken.
»Fertig?«
Ich öffnete die Augen und nickte.
»Soll ich es dir verraten?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, Baby, man darf seinen Wunsch nicht laut aussprechen. Sonst geht er nicht Erfüllung.«
»Schade. Es war so ein schöner Wunsch. Er hätte dir gefallen.«
»Das glaube ich dir.«
Er sah wieder zum Himmel hinauf.
Ich folgte seinem Blick.
Irgendwann würde ich sicher verstehen, warum er immer nach dortoben lächelte ...
Heute verstand ich es tatsächlich.
Nicht zuletzt, weil sie mich im Älterwerden in ihre Himmelsblicke eingeweiht hatten.
Ich verstand sie mit Haut und Haaren.
Der klare Sternenhimmel lag wie ein Meer aus Kerzen über mir und umarmte mich.
Der Polarstern blinkte, der Vollmond schien nur für mich.
Und auf seinem Antlitz glaubte ich sie tatsächlich zu sehen.
Mum und Dad.
Mit Hail, Asher und mir.
Wir alle zusammen.
Tanzten auf dem Mond.
Darum sahen sie immer hinauf.
Darum starrten sie immer in den Himmel.
Der Mond – Vollmond – war ein Teil von uns allen.
Er war ein Teil von Mum, ein Teil von Dad, ein Teil von Grandma, ein Teil von Grandpa. Er war ein Teil von Hail, ein Teil von Asher und ein Teil von mir.
Zusammen ergaben wir eins.
Ein Ganzes.
Einen Vollmond.
Und in jeder Nacht in der der Mond sein ganzes Gesicht zeigte, waren wir irgendwie wieder zusammen.
Wir waren beieinander, konnten uns sehen, spüren uns fühlen.
Wir waren in dieser Nacht niemals allein.
Mum und Dad und alle anderen würden immer auf uns aufpassen. Sie saßen auf dem Mond und beschützten uns mit ihrem Tod. Dieses Leben hatte viele Engel verloren und zu einer Ewigkeit gemacht.
Die Tränen kullerten wie Schneeflocken aus meinen Augen und rannen in sanften Wellen über meine Wangen.
Ich ließ sie fließen.
Schickte jeder Träne einen Kuss mit auf den Weg und verabschiedete sie mit Freude.
Ein Lächeln zierte meine Lippen als ich mein Leben reflektierte, an jedes kleinste Detail meiner Kindheit, an jeden Streit, an jede Verletzung, an jede Umarmung und an jeden Akt der Familienliebe dachte.
Ich weinte aus Trauer, aus Verlust, aus Sehnsucht und aus Freude.
Ich weinte, weil ich weinen musste, weil ich weinen konnte und weil ich weinen wollte.
Irgendwann schloss ich die Augen dabei.
In Gedanken spielte ich alte Erinnerungen durch meinen Kopf.
Mein Sturz mit dem ersten Fahrrad.
Meine erste Standpauke, weil ich einen Jungen aus dem Kindergarten geschlagen hatte, der meinte, Schwestern seien besser als Brüder.
Mein erster Wackelzahn, den ich unter das Kopfkissen legte und für ein schickes Sommerkleid austauschte.
Meine ersten Versuche, die Namen meiner Brüder zu schreiben – ein Desaster.
Meine ersten Tränen, weil alle meine Freunde sich langsam in Wölfe verwandelten und ich nicht.
Mein erster Geburtstag ohne Mum und Dad, den wir auf dem Friedhof verbrachten und jedes Jahr wiederholten.
Mein erster Schultag.
Mein erster Streit mit der besten Freundin.
Mein erstes Mal länger aufbleiben.
Mein erster Versuch Nudeln zu kochen.
Jeder Tag meiner Kindheit fiel mir in Erinnerung und formte meine damals noch so kleinen Jungen mit jeder Sekunde zu den erwachsenen Männern, die sie heute waren.
Es war wie ein Wirbelsturm von Farben der Vergangenheit, die mehr und mehr Gegenwart wurden bis sie plötzlich wirklich vor mir standen.
Meine Brüder.
Sie saßen in Ketten gelegt an der Wand.
Ihre Hand- und Fußgelenke waren wundgeschwollen von dem engen Metall, dass sich in ihre Haut schlitzte.
Ihre Oberkörper noch immer nackt konnte ich die dicken Striemen und die magere Figur genau sehen.
Ich zählte dreißig Überlebende meines Volkes.
Dreißig ...
Sie alle sahen fürchterlich schwach aus. Ihre Haut schwang fahl um ihre knochigen Körper. Sie waren ausgehungert und geschwächt.
Sie alle litten unter den Lebensumständen, bluteten aus offenen Wunden und waren verunstaltet.
Aus Fassungslosigkeit konnte ich nicht weinen.
Sie erschütterten mich einfach viel zu sehr.
Und es war, als sei ich zu ihnen teleportiert worden.
Ich befand mich mit ihnen in der Gefängniszelle. Ich roch das Blut, den Dreck und die schlechte Luft.
Meine nackten Füße spürten den feuchten und dreckigen Boden und mich überlief eine Gänsehaut, weil es so kalt war.
Die meisten von ihnen schliefen. Leises Geschnarche fiel von den Wänden ab, Arme hielten sich umschlungen und versuchten sich zu wärmen.
Ich drehte mich um meine eigene Achse, sah durch die Gitterstäbe der Zelle hinaus und versuchte mir die Abzweigungen und Wege zu merken. Von einer Wache war nichts zu sehen.
Alles war seelenruhig.
Aber in mir brodelte es.
Denn das hier war kein Leben.
Das war reinste Folter und ich wollte nicht respektieren, dass man mein Rudel so behandelte. Das war abartig.
Auch für uns Wolfsgestalten.
Weil ich nicht wusste, wie lange ich die Konzentration und Situation aufrecht halten konnte, lief ich schnell auf Asher und Hail zu und beugte mich über die beiden, um sie zu wecken.
Ihre Köpfe lehnten erschöpft aneinander. Ihre Lider waren entspannt geschlossen, aber ich sah sie zucken und unter ihrer Haut mit Alpträumen kämpfen.
Sie hielten gegenseitig ihre Hände. Ein Schweißfilm perlte von ihren Gesichtern ab.
Ihr Anblick brach mir das Herz.
Aber für Tränen hatte ich keinen Moment.
Es war an der Zeit die Dinge richtig zu machen.
»Hail, Asher!«
Ich flüsterte leise und ruhig.
Ich wollte niemanden sonst wecken oder doch noch eine Wache anlocken.
Jedes Aufsehen würde mich fortschicken.
Als sie auf meine Stimmen nicht reagierten, kitzelte ich beide unter dem Ohr.
Seit sie Babys waren reagierten sie dort empfindlich und ich hatte sie als Kind oft deswegen aufgezogen.
Heute kam mir das alles zum Vorteil, denn sie reagierten sofort darauf.
Müde Augen hoben ihre Lider und brachten die Diamanten ihrer Seelen zum Vorschein.
Orientierungslos glitten ihre Augen durch den Raum, fanden einander und dann im selben Moment mich.
Asher zuckte erschrocken zusammen.
Hail rieb sich die Augen und richtete sich langsam auf.
Ihre Verwunderung und der Schock wandelten sich in blanke Angst.
»Magny ...«, hauchte Ash leise und riss die Augen auf. Hail schien es immer noch nicht glauben zu können.
»Wie ... wie haben sie dich erwischt, Baby? Wie konnten sie dich kriegen? Haben Sie dir wehgetan?«
Seine Stimme klang so weinerlich. Er sah aus, als sei er den Tränen nahe, weil sein einziger Lichtblick meine Sicherheit gewesen war.
»Ich schwöre, ich bringe diese Bastarde persönlich um!«
Ash floss eine Träne über die Wange, während er wütend an seinen Ketten riss und versuchte sich loszumachen.
Ich streckte eilig meine Hand nach ihm aus und versuchte ihn zu besänftigen.
Trotz der Eiseskälte war seine Haut warm und weich.
Mich überlief ein Schauer als ich seine Wange berührte und sein Gesicht daran schmiegte.
»Beruhige dich, Ash.«
Ich lächelte ihn und dann Hail an.
»Mir geht es gut«, fuhr ich fort und berührte nun auch Hails Wange.
Sie beide starrten mich bloß an, lehnten ihre Köpfe an mich und betrachteten mich von oben bis unten.
Es tat so gut sie wieder zu haben.
Meine Wölfe.
»Ihr müsst mir gut zuhören. Das, was ich euch erzähle ist sehr wichtig und darf unter keinen Umständen schiefgehen. Bitte konzentriert euch.«
Sie sahen sich an, dann zogen sie mich auf ihre Beine und nickten.
Ich grinste unwillkürlich.
Es war so typisch für die beiden, dass sie mir bloß zuhörten, wenn sie mich gleichzeitig necken konnten.
So waren sie immer gewesen.
Nicht mal die härteste Bedingung konnte daran etwas ändern.
»Was darf nicht schiefgehen? Mag', ich verstehe nichts. Wie kommst du hierher?«
Sie waren verwirrt. Das war verständlich. Aber ich wollte es ihnen erklären, wenn ich sie gerettet hatte.
»Wie ich hier her komme, tut nichts zur Sache. Wichtig ist bloß, dass ich gleich nicht mehr hier sein werde.
Ich bin ein Gedanke. Ich bin eine Botschaft eurer Schwester. Ich bin ein Wunsch, ein Schwur, ein Versprechen – reine Illusion.
Ich bin hier, um euch zu sagen, dass es mir gut geht.
Ich mache mir große Sorgen um euch und bin schockiert von dem, was ich sehe. Aber es geht mir gut. Hervorragend.
Ich habe in einem neuen Rudel Unterschlupf gefunden, Leute, die sich um mich kümmern und mir helfen, euch zu befreien.«
Jetzt schienen sie endgültig wach und aufmerksam.
»Hail, Asher, ich habe einen Plan. Einen Plan um euch alle hier rauszuholen und das so harmlos wie möglich.
Erinnert ihr euch an das dunkelblaue, sternenförmige Kraut von dem Oma uns immer erzählte?«
»Das Mondscheinkraut.«
Ich nickte.
»In einer geringen Menge wirkt es wie eine Schlaftablette. Aber ihr bloßer Geruch in hoher Dosis lässt dich augenblicklich in Ohnmachtszustände fallen, die dich für Stunden ausknocken und deine Erinnerung der letzten Tage ordentlich durcheinander bringen.«
»Exakt das meine ich und es könnte eure Rettung sein.
So selten es auch ist, ich habe es finden können.
Die Wirkung der Pflanze eignet sich perfekt für einen Angriff, der leise und gewaltlos über die Bühne läuft. Bevor jemand verletzt wird, sprühe ich ihn mit dem Präparat einfach in den Schlaf.«
»Das könnte funktionieren.«
»Es wird funktionieren. Aber nur, wenn ihr euch bereit haltet. Die Wirkung lässt schneller nach, als man denkt und bis ich eure Ketten befreit habe, vergeht seine Zeit. Außerdem müsst ihr euch die Nasen zuhalten.
Die Dämpfe schlängeln sich bestialisch durch Räume und schneller als man denkt, atmet man sie selbst ein.
Ich werde am Samstag kommen. Heute ist Mittwoch.
Zählt die Nächte und weiht die anderen ein. Wir werden es nur gemeinsam hier herausschaffen.«
»Wir sind nicht alle hier, Baby. Sie haben die Frauen und Kinder in eine andere Zelle gebracht. Wir ... wir wissen nicht, wie viele von ihnen noch leben.«
Ich schluckte. Das waren gute und schlechte Nachrichten zugleich.
»Hoffentlich leben sie noch alle«, sagte ich und biss die Zähne zusammen.
Es war falsch, jetzt vom Schlimmsten auszugehen.
»In jedem Fall werde ich jeden befreien, dessen Herz in dieser Höhle mit meinem Blut schlägt.«
Davon war ich fest überzeugt.
»Du? Kommst du nicht mit Hilfe, Baby? Und überhaupt ... Wer ist das überhaupt, bei dem du lebst?«
Ich lächelte.
»Ich komme allein. Das hier ist mein Kampf und ich werde ihn ohne die anderen gewinnen. Ich habe es mir geschworen, euch zu retten, bin extra deswegen losgezogen und ich werde nicht aufgeben, bis ihr in Sicherheit seid.«
»Das ist unsere Schwester. Waghalsig, mutig und unbeugsam. Hoffen wir, dass die Mondgöttin mit dir ist.«
Sie lächelten nun auch.
Was diesen Segen angeht ...
»Ich glaube nicht, dass sie mir beistehen wird. Ich habe schon einige Tage Mist gebaut, seid ihr weg seid.«
»Was ist geschehen?«
»Naja ... ich ... ich ...«
Ein Kribbeln ging durch meinen Körper und ich sah überrascht auf meine Hände, die sich vor meinen Augen in Luft auflösten.
Unglaublich.
»Ich muss gehen!«, bemerkte ich und brach meine Erzählung ab.
»Magny was ...?«
»Denkt nicht daran. Ich werde euch alles erklären, sobald ihr wieder ganz bei mir seid. Wir sehen uns am Samstag. Haltet durch bis dahin und macht euch bloß keine Sorgen. Ich bin wohlauf und auf dem Weg.«
Mein Körper verflog wie eine Windböe und wurde immer durchsichtiger.
Als sie nichts mehr von mir hielten, hauchte ich ein »Ich liebe euch!« durch die dunkle Höhle und wachte in nächster Sekunde wieder auf der Treppe vor Nates Haus auf.
Wie war das bloß möglich?
Wow.
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