K A P I T E L ♥️ 21
•MAGNY•
»Ich liebe dich.
Aber dein Leben liebe ich mehr.
Denn ohne dein Leben, könnte ich dich nicht lieben.
Und wenn ich dich nicht lieben könnte, dann ...«
"Es hat mir Angst gemacht.
Ständig hatte ich Alpträume und Bilder in meinem Kopf, die der absoluten Realität glichen.
Ich fand mich nachts an anderen Orten wieder. Ich begegnete realen Wesen in meinem Kopf, konnte sie hören, sie fühlen und sie einstweilig kontrollieren.
Es war gruselig.
Ich spürte, was die Leute in meinem engsten Familienkreis wollten. Ich hörte ihre Gedanken und tiefsten Wünsche zu mir rufen. Sie kommunizierten mit mir, während die Person selbst nichts davon mitbekam.
Ich dachte zunächst, ich sei verrückt. Ich traute mich nicht, mit jemandem darüber zu reden. Stephen und die anderen glaubten, ich sei krank. Sie beobachteten mich. Ich verhielt mich anders, komisch.
Ich merkte es selbst. Aber wusste nicht, wie ich sonst damit umgehen sollte.
Monate vergingen und ich glaubte an die stille Hoffnung, dass die Begegnungen meiner Träume wirklich nur Träume waren.
Ich lernte in dieser Zeit.
Es war mir nur möglich die Gedanken derer zu hören, die mir nahe standen und zu denen ich einen Bezug hielt.
Je enger mir die Person stand, desto lauter und weitreichender hörte ich ihre Seele, wenn sie auch nicht mit mir in einem Raum stand.
Stephens Gedanken schrieen am lautesten. Sie waren getränkt voll Sorgen um mich. Ich hörte sie, aber ich war gleichzeitig nicht fähig sie zu besänftigen. Wir distanzierten uns jeden Tag ein wenig mehr und es schmerzte unglaublich. Aber ich konnte noch immer nicht reden. Mein Sinnbild war einfach noch zu unklar.
Ich musste mir ein Bild von meinen Fähigkeiten machen, bevor ich jemandem davon erzählte.
Ich begann an etwas Anderes als den Zufall zu glauben und machte mich direkter auf der ganzen Welt auf die Suche nach Gestalten, die mir in meinem Gedankenhören weiterhelfen konnten.
Im hohen Norden fand ich nach wochenlangem reisen bei den Jade-Wölfen endlich eine Spur.
Der Medizinmann des Rudels lächelte mich an, als ich ihm den Standpunkt meiner Lage ans Herz legte.
Ich erzählte ihm alles, was in den letzten Monaten so plötzlich auf mich zugeflossen war und was ich von dort an nicht geschafft hatte zu kontrollieren.
Er hieß Mallay und war ein wahrhaftig faszinierender Mann. Er verstand und kannte die Gaben unserer Wesen, wie seine zehn Finger. Ich werde ihm mein Leben lang danken, dass er mir weiterhalf und mich segnete.
Nur durch Mallay lernte ich Kallie kennen.
Sie war die Perfektion einer Frau. Anmutig, sanft, mutig, klug – schön.
Eine beachtliche Frau.
Eine noch beachtlichere Wölfin.
Am beachtlichsten das, was sie aus unserer Gabe gemacht hatte.
Man nennt das, was wir können ›Seelenlesen‹.
Die tiefen Gedanken eines bekannten Herzens fallen vor unsere Augen, ohne das jemand etwas mitbekommt.
Menschen, die wir lieben, sind wie Bücher für uns.
Und wenn wir lernen uns zu kontrollieren und unsere Kräfte einig bündeln, dann können wir Wunder bewirken.
Kallie lehrte mich mit all meiner Ungewissheit zu leben.
Sie war eine sehr ruhige Seele, wie ich während meines Aufenthalts in ihrem Rudel bemerkte. Sie schottete sich ein wenig von den anderen ab, meditierte viel und schloss gerne für einen Moment die Augen. Ich konnte verstehen, wieso.
Die Stimmen im Kopf machten auf Dauer wirr und ließen Dunkelheit aufkommen.
Aber Kallie trainierte mich, um nicht verrückt zu werden.
Sie hatte einen Weg gefunden, die seligsten Wünsche der Menschen auszuschalten, sie wegzusperren. Ich bewunderte sie. Nach einigen Wochen sah ich sie wie eine enge Vertraute, wie eine Schwester.
Wir kamen uns freundschaftlich näher. Aber ich hörte niemals, was ihre Seele schrie.
"Die Fähigkeit zur Kontrolle ist simpel.
Setz dich hin.
Such dir eine Position, die dich vollkommen entspannt.
Lass dich nicht ablenken.
Kontrolle heißt nicht mehr, als Klarheit im Denken.
Schließ die Augen.
Lass die Stimmen und Bilder auf dich zu kommen, behandle sie wie du einen Hundewelpen behandeln würdest.
Wirf und tritt sie nicht von dir. Sie kommen sowieso.
Freunde dich mit ihnen an. Hör ihnen zu.
Und wenn du den Moment fühlst, du die Kraft spürst, die sie dir geben, dann bitte sie zu gehen – leise.
Oder bitte sie zu gehen, aber dabei etwas mitzunehmen. Bitte sie, ihrer Seele eine Botschaft zurückzubringen."
Kallie trainierte mich.
Ich konnte ihr nicht glauben, was sie mir über das erzählte, was ich monatelang wie einen Fluch betrachtet hatte.
Meine Reise auf der Suche nach Antworten lohnte sich.
Ich meditierte mit ihr zusammen. Sie half mir Ruhe aufzubauen und mir klare Bilder in den Kopf zu rufen.
"Am leichtesten fällt Seelenkommunikation, wenn du an den Körper, in dem die Seele wohnt, denkst.
Stell dir deinen Stephen vor.
Ruf dir die schönsten Erinnerung mit ihm in deinen Kopf. Mach sie so real wie möglich und ruf dann die Stimme, die von ihm ausgehend zu dir ruft, zu dir.
Erzähl ihr, was du willst.
Schenk ihr in Gedanken einen Körper. Und dann bitte ihr zu übermitteln, was du Stephen sagen willst.
Er wird es hören.
Wenn er dich wirklich liebt, dann wird er dich hören und in all seinen Knochen spüren."
Sie log niemals.
Kallie log niemals.
Durch vollkommene Ruhe und viel Geduld war es wirklich möglich die Stimmen in meinem Kopf und die Träume auszusperren.
Ich war nach einigen Wochen vollstens fähig sie zu ignorieren oder ganz zu löschen.
Auch im Nachrichten versenden übte ich mich mit Geduld an die Spitze.
Stephen erhielt nach meinem plötzlichen und unbegründeten Aufbruch endlich ein Lebenszeichen von mir. Ich versprach ihm, schon bald nach Hause zu kommen.
Mir fehlte in meinem Training nur noch eines zu wissen.
Was war mit dem Ruf meiner eigenen Seele?
Konnte ich mich selbst schreien hören?
Und wenn ja, konnte ich das aufhalten? Auch für andere Seelenleser?
Kallie schmunzelte, als ich sie das fragte.
Dann nickte sie.
"Du kannst alles, was dich nervt, kontrollieren. Laute Stimmen im Kopf, die dir Schmerzen bereiten, sind davon keine Ausnahme, Maggie. Mach es so, wie mit allen anderen Stimmen auch.
Gib dir selbst eine Gestalt im Kopf. Konzentriere dich auf sie. Sei mit ihr im Reinen.
Und dann bitte sie, zu gehen.
Schenk ihr ein Zuhause in deinem Kopf, an das niemand herankommt, außer dir selbst.
Wenn du ein Geheimnis für andere sein willst, dann sei das Geheimnis.
Du musst niemandem deine Gedanken auf den Präsenntierteller legen. Sperr sie aus deinem Kopf, verschließe deine Tore.
Wenn du Kraft hast, Mut hast und Selbstvertrauen, dann kann dir niemand – wortwörtlich – in die Karten sehen."
[Maggie Sherman 1654]
»Das ist unglaublich! Und du kannst das auch, Magny?«
Tara schien begeistert von dem Tagebucheintrag, den Gilbert uns soeben vorgelesenen hatte.
Ich war mehr benommen, als von allem begeistert.
Seelenlesen?
Ich hatte tausende Fragen.
Aber außer dem Bericht dieser Maggie Sherman fand sich in dem kleinen Notizbuch keine Aufzeichnung zu meinen Träumen.
»Ich bin nicht sicher«, stammelte ich mir irgendwann von den Lippen und umfasste die heiße Tasse Tee auf dem Esstisch der Morrisons – Taras und Gilbers Familie – ein wenig fester.
»Diese Maggie beschreibt hunderte Gedanken, Stimmen und Bilder, die sie einholen. In meinem Kopf ist von alldem aber nichts zu hören und ich sehe nur nachts die Gesichter meiner Brüder so klar. Vielleicht ... ist es doch bloß Zufall.«
Ich sah von Tara zu Gilbert und dann hinter die beiden ins Wohnzimmer wo es sich der Rest der Rasselbande vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte.
Ich hatte schnell erfahren, dass zu dieser Familie leider keine Mutter mehr gehörte.
Sie verfiel kurz nach der Geburt des jüngsten Kindes einer schweren Lungenentzündung.
Tara erzählte mir davon.
Sie schien kein Problem damit zu haben, einer noch beinahe Fremden ihre Lebenslage zu beschreiben. Sie war aufgeschlossen, nett und frei.
Ich bewunderte sie, für ihre redsamen Lippen.
Ich musste direkt weinen, als ich auch nur über das Thema Eltern zu sprechen kam.
Noch heute durchlief es mich warm, wenn ich daran dachte, wie nah ich mich an Nate gekuschelt hatte, um mich von ihm trösten zu lassen.
Er hatte das alles hier nicht verdient.
»Das glaube ich nicht, Magny.
Alles auf unserer Erde passiert aus einem guten Grund. Dinge, die aus der Rolle fallen, sind eindeutige Zeichen dafür.
Ein normaler Traum hätte dich nicht weit über die Grenzen unseres Rudels mitten ins Nirgendwo katapultiert. Du bist dort gewesen, um deinem Ziel näher zu kommen.«
Gilbert schien von Zusammenhängen mit dem Eintrag und mir überzeugt.
»Und wieso höre ich dann bloß die Stimmen meiner Brüder?«
Wir überlegten eine Weile.
Dann fiel es mir selbst ein.
»Weil ich noch kein Wolf bin.«
Gilbert und Tara sahen mich mit nachdenklichen Mienen an.
»Natürlich! Ich bin noch nicht verwandelt. Bestimmt kann ich deswegen auch nur meine Brüder hören. Sie sind am meisten in meinem Herzen vertreten und wenn ich schlafe, kann ich mich am besten an sie erinnern.«
Dieser Grund schien uns allen plausibel. Vater und Tochter nickten mir zu.
»Kommen wir zum eigentlichen Thema. Maggie umschreibt das Bearbeiten ihrer Fähigkeiten mit Meditation und dem fokussieren auf die gewünschte Person.
Wenn du deine Brüder benachrichtigen willst, musst du dich darin üben.
Wie viel Zeit glaubst du, wirst du noch haben?«
Ich sah auf meine Finger, dann ging ich in mich und rief mir vor Augen, was ich zuletzt geträumt und gesehen hatte. Noch wirkten sie kraftvoll. Zu mächtig, um sich zu ergeben.
Mein Schein mochte mich trügen, aber ich glaubte an die Kraft von von mindestens einer Woche.
»Sieben Tage.«
»Dann müssen wir langsam zur Sache kommen.«
Ich nickte.
»Gilbert, sag, wo glaubst du befindet sich die Höhle, von der ich dir erzählt habe.«
Taras Vater stand auf und kam mit einer Karte zurück.
Auf dem Rückweg nach Hause vor einigen Tagen konnte er mir eine Menge über Kensville sagen.
Die Stadt lag weit hinter den Bergen, die das Blood-Moon- Rudel umgeben.
Gilbert hatte mir erzählt, dass das Rudel keines derer war, mit denen Nathaniel wirklich Frieden hielt.
Es war bloßer Respekt, der den feindlichen Alpha in seinem Revier ließ.
Nathaniels Rudel war groß.
Seine Anhänger treu und friedlich, aber darum keineswegs ungefährlich.
Auf einen Angriff waren sie jederzeit vorbereitet. So genau kannte ich meinen Mate mittlerweile. Er machte keine halben Sachen.
Wenn das Rudel, in dessen Gefangenschaft meine Brüder geraten waren, tatsächlich so klein war, wie Gilbert es mir vor einigen Tagen beschrieb, dann machte es auch Sinn, warum sie gewaltsam kleinere Rudel in ihre Gewalt brachten.
Sie wollten wachsen und dann an Macht kommen, die ihnen nicht zustand.
Vielleicht, wollten sie sogar dieses Rudel stürzen. Ein weiterer Grund, warum ich schnellstmöglich meine Pläne verwirklichen musste.
»Wenn ich recht denke, dann vermute ich deine gefangenen Brüder in einem dieser Höhlen. Sie sind damals von Siedlern auf wertvolles Gestein ausgehöhlt worden und ziemlich tief gebaut. Noch dazu ist ihre Lage von der eigentlichen Stadt abgelegen und ein hervorragendes Versteck.«
Gilbert deutete auf kleine Punkte am südlichsten Punkt der Karte.
Kensville selbst schien nächstgelegen, aber für einen geheimen Unterschlupf doch zu weit entfernt.
Ich kaute auf meiner Unterlippe herum.
Dass sie in einer Höhle hausten, war perfekt.
»Wie stabil glaubst du, sind diese Felsen?«
Gilbert überlegte eine Weile.
»Es sind Felsverwachsungen, aus den Händen von Mutter Natur. Ich bin mir sicher, dass sie Stand halten und noch mehr in sich tragen können.«
»Je weniger Licht sie hineinlassen und je weniger frische Luft sie in sich trägt, desto besser wäre es«, murmelte ich.
»Was hast du vor?«, meldete sich Tara wieder dem Gespräch.
»Willst du sie lebendig begraben?«
Ich lächelte.
Ein verlockender Gedanke.
Ich wollte jedem Wesen, das meinen Brüdern auch nur ein Haar krümmte, gerne den Tod wünschen.
Aber ich war kein Barbar und auch kein Mörder.
»Nein, auch wenn das verlockend klingt. Ich habe etwas Anderes mit ihnen vor. Etwas, was vielleicht viel zu harmlos ist.«
Ich sah viele Fragen in Taras Gesicht. Aber die Zeit lief uns für heute davon.
Nathaniel konnte jeden Moment von seiner kleinen Reise zurückkehren und meine Abwesenheit registrieren. Es konnte nicht mehr lange dauern und er lief hier auf.
»Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Als erstes möchte ich mich bei euch, für all eure Hilfe heute bedanken. Ihr geht ein Risiko für mich ein und ich will euch versichern, dass ihr bei jedem eurer Probleme auf mich zählen könnt. Ich stehe schon jetzt tief in eurer Schuld.«
Ich sah Gilbert und Tara widersprechen, aber hob rechtzeitig eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen.
Das war keine Aussage gewesen, auf die man zu antworten hatte. Das war ein Versprechen.
»Als zweites. Ich werde mich der Beschreibungen dieser Maggie widmen und versuchen mich auf die schönsten Tage meiner Brüder zu konzentrieren.
Sobald ich Kontakt zu ihnen aufgebaut habe – und ich hoffe das funktioniert irgendwie – kann alles klappen, was ich mir vorgenommen habe.
Mir fehlt nur noch das Kraut aller Wunder, aber ich weiß schon, wo ich das bekomme.«
»Soll ich dich fahren?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, ich weiß schon wessen Hilfe ich beanspruchen werde. Ihr müsst nicht auch noch meinen Chauffeur spielen, ihr habt schon viel zu viel für mich getan.«
Tara griff nach meiner Hand.
»Wir machen das gerne, Mag'.«
Ich lächelte sie dankbar an.
Sie war wirklich eine herzensgute Freundin.
»Ihr müsst mich trotzdem nicht fahren. Wozu habe ich denn sonst meinen Seelenverwandten gefunden?«
Ich grinste sie schief an und zwinkerte ihr zu.
»Stimmt auch wieder. Lass den Jungen ruhig ein wenig arbeiten.«
Wir verstehen uns, meine Liebe.
Auch, wenn Nate es überhaupt nicht verdient hatte, mal wieder für meinen Eigennutz zu schuften.
»Genug geblödelt Kinder. Der Junge ist auf dem Weg hier her.«
Gilbert sah uns schmunzelnd an – er war uns nicht der Worte böse – und erhob sich dann. Wie auf's Stichwort klingelte es an der Tür und ich spürte, dass Nate in der Nähe war. Mein Herz hatte diese verrückten Aussetzer.
»Kommst du uns morgen besuchen?«, fragte Tara und ließ mit dieser Frage auch ihre Geschwister hellhörig werden.
»Ja! Magny! Du musst morgen kommen!«
Die Kinderschar quietschte begeistert aus dem Wohnzimmer zu uns hinüber, während ich Gilbert die Tür aufmachen hörte.
Ich lachte bei den vielen begeisterten Kinderaugen und nickte dann ergeben.
»Ich komme gerne morgen, sobald ich alles andere erledigt habe.«
Tara sah mich wissend an.
Dann umarmten wir uns zum Abschied. Ich wank den Kindern zum Abschied und traute mich endlich aus der Wohnung in den Flur.
Es war früher Abend.
Nates Silhouette hob sich aus dunklem Hintergrund hervor.
Kaum trat ich in sein Sichtfeld lagen seine Augen auf mir.
Und wie sie auf mir lagen.
Sie bohrten durch meine Haut, packten mein Herz und schleuderten es förmlich in alle Richtungen.
Ich schluckte merklich.
Verdammt sah dieser Mann gut aus.
Er trug einen maßgeschneiderten dunkelblauen Anzug.
Das weiße Hemd darunter schien förmlich zu leuchten.
Die Krawatte um seinen Hals saß perfekt. Er war der geborene Geschäftsmann und Anführer.
Seine Augen verschlangen mich förmlich und ich wusste, am liebsten würden wir beide jetzt aufeinander zugehen und uns küssen, wie niemals zuvor.
Wir spürten beide dieses unbändige Verlangen, diese unglaubliche Sehnsucht.
Ich fragte mich, ob wir wohl jemals fähig waren es zu stillen? Konnten wir uns irgendwann so lieben, wie wir es verdient hatten?
Ich wünschte mir nichts mehr.
Stumm, ohne ein Wort, lief ich zum Kleiderhaken und zog meine Jacke an, ehe ich in die gefütterten Boots schlüpfte und mich umdrehte.
»Danke für den Abend. Wir sehen uns morgen.«
Ich schüttelte Gilbert die Hand, bedachte ihn mit einem Blick, der mehr sagte, als meine Worte angedeutet hatten und ging dann zur Tür.
Nate verabschiedete sich ebenfalls. Ich bekam eine Gänsehaut bei seinem dunklen, rauen, harmonischen 'Auf Wiedersehen'.
Dieser Mann war mein absoluter Untergang.
Als sich die Haustür hinter uns schloss, umfing sich Stille.
So lief es seit unserem Kuss vor Tagen häufig.
Ich glaubte, keiner von uns konnte so richtig sagen, was er davon gehalten hatte, dass wir uns so intensiv abgeknutscht hatten.
Heiß und gut war es allemal gewesen.
»Tara und du seid wahre Freunde geworden, was?«
Nate versuchte nach hundert Metern ein Gespräch aufzubauen.
Ich konnte förmlich spüren, wie sehr er sich wünschte, wir würden anders miteinander umgehen.
Mir ging es ähnlich.
Wie schön musste es sein, wenn man frei verliebt sein konnte.
Begrüßungsküsse, Dates, Filmabende, Kuscheln.
All dieses kitschige Pärchenzeugs schien so perfekt in der Vorstellung mit ihm.
Aber ich konnte mich dem nicht hingeben.
Oder etwa doch?
Wieso hielt ich mir das überhaupt vor?
Hatte er nicht gesagt, dass es sowieso viel zu spät war?
Dass er, egal was ich tat, sowieso längst in mir verliebt war?
Wem machte ich hier eigentlich etwas vor?
Ihm oder mir selbst?
Er liebte mich. Ich liebte ihn.
Unser Happy End stand in den Sternen. Aber unser Jetzt ...
Unsere Gegenwart konnte anders laufen.
Wieso hielt ich mich dann so auf?
Wenn wir einander verloren, dann sowieso für immer.
Wieso hielt ihn dann jetzt, wo wir uns noch hatten, ebenfalls auf Abstand?
Ich fühlte mich hin- und hergerissen.
Konnte ich das wirklich tun?
Mich einfach fallen lassen?
Waren wir sowieso schon so weit ineinander verloren?
»Ja. Ich habe sie und ihre Familie ehrlich gern.«
Nate nickte.
Dann war da wieder Stille.
Ich drohte zu platzen.
Konnte das möglich sein?
Ich spürte unsere Anziehungskraft. Aber keiner von uns wollte einen nächsten Schritt machen.
Nate schien Angst davor zu haben, dass ich mich nach jeder Nähe noch weiter von ihm zurückzog und ich hatte Sorgen, um jede seiner dämlichem Taten, die auf meinen Tod folgen könnten.
Scheiße dieses Leben.
»Wie lief es bei dir heute?«
Himmel, diese Fragen brachten mich selbst auf die Palme.
Unser beider Tage waren üblich langweilig gewesen.
Womit hielten wir uns eigentlich auf? Uns blieben sechs Tage!
Sechs Tage!
Dann spielte ich mit meinem Leben. Es war keine gottverdammte Zeit für plänkelnden Smalltalk!
»Gut. Es bleibt alles vertraglich so, wie gehabt.«
Wieder Stille.
So wird das nichts.
Wir redeten wie ein altes Rentnerpaar.
Dabei waren wir das Gegenteil. Wir standen am Anfang und gleichzeitig am möglichen Ende unserer Beziehung.
Wohin war die Romanze verschwunden?
Auf der Hälfte unseres Weges hielt ich schließlich an.
So ging das nicht weiter.
Vor zwei Tagen hatten wir uns die Lippen geschwollen geküsst, dann hatten wir uns wie zwei Magnete abgestoßen und sogar in verschiedenen Zimmern geschlafen, weil wir zu feige zum Reden waren und jetzt hielten wir Distanz, als bekämen wir eine Krankheit, sobald wir einander berührten.
So wollte ich Nate nicht in Erinnerung behalten. So wollte ich mir die Vorstellung von wahrer Liebe nicht kaputt machen lassen.
Wenn er keinen ersten Schritt wagte, dann sollte ich dieses Problem selbst lösen.
Wozu sollten wir uns jetzt quälen? Die Zukunft hielt noch viel davon für uns bereit.
Entschlossen stellte ich mich Nate in den Weg und hob meinen Kopf.
Er war deutlich größer als ich. Sein muskulöser Körper umwarb mich wie eine Wand. Eine attraktive Wand.
Stirnrunzelnd und erwartungsvoll blieb er vor mir stehen. Die Luft wurde dünner. Das wurde sie immer, wenn er mir so nahe war.
»Ich hasse mich für meinen Egoismus. Ich hasse mich für alles, was ich dir antue.
Für jeden Zentimeter Schmerz, Nate.
Aber ich hasse mich nicht, für meine Gefühle zu dir.
Immer wenn wir in einem Raum stehen, schreit alles in mir, deinen Namen und ich will – so leid mir das tut – seid wir uns geküsst haben, nicht mehr auf irgendetwas verzichten. Du weißt, dass es Dinge gibt, die uns trennen können. Aber – Scheiße! – das können sie nicht jetzt und solange sie das nicht können, will ich nicht auf dich verzichten! Ich will keinen jämmerlichen
Rentner-Smalltalk führen! Ich will, dass du mich küsst, mir noch viel mehr von dir erzählst, mich abends in den Arm nimmst! Und ich will dir das alles zurückgeben, solange ich noch kann. Weil du das verdient hast. Und weil ich weiß, dass du es von mir bekommen willst.
Ich sage es dir jetzt, Nate, weil ich der Teufel in unserer Beziehung bin: Nutze die Zeit, die dir bleibt.
Irgendwann rennt sie uns nicht mehr hinterher, sondern vor uns weg.«
Ich konnte gar nicht mehr weiterreden, da unterdrückte mein Gebrabbel der sündhafte Geschmack seiner Lippen.
Überrascht von der Intensität erwiderte ich den Kuss und kriegte die Bestätigung, dass es ihm ging wie mir.
Wenn wir uns nicht für immer haben konnten, dann zumindest jetzt.
Und zwar das volle Programm.
Nach einigen Minuten lösten wir uns keuchend voneinander.
Nates Augen sahen zufrieden auf mich herab.
Etwas in ihnen hatte sich verändert. Er schmunzelte sogar.
»Ich habe den ganzen Tag darauf gehofft, dass du unser Schweigen endlich brichst. Mann wollte ich dich heute schon gerne küssen! Ich hab' an nichts anderes gedacht.«
Ich kicherte.
Mir ging es sowas von genauso, mein Schatz!
»Ich hab dich so vermisst, Engelchen. Diese zwei Tage Anschweigen waren die absolute Hölle. Nie wieder schlafe ich getrennt von dir. Mach das nicht nochmal mit mir.«
Ich hatte mich tatsächlich selbst auf das Sofa verbannt. So schlecht hatte ich mich gefühlt nach unserer Knutscherei.
Ich war einfach unsicher.
Unsicher in verdammt nochmal allem.
Irgendwie schien es mir, als hätte ich jegliche Kontrolle über mein Leben verloren.
Alles lief schief.
Alles war scheiße.
Nichts funktionierte mehr.
Ich hatte vergessen, wie sorglos und perfekt mein Leben einst gewesen war.
Und wie kompliziert und schrecklich es sich entwickelt hatte.
Ich konnte einfach nicht beurteilen, ob es Segen oder Fluch war, dass ich Nate gefunden hatte.
Vielleicht war ich auch der Fluch.
Ja, das allemal!
»Es tut mir leid, Nate. Ich habe dich total unfair behandelt.«
Mir tat noch so viel mehr leid.
Sogar Dinge, von denen er noch keine Ahnung hatte.
Ich fühlte mich absolut miserabel.
»Weiß du, Engelchen, eigentlich ist mir das alles egal. Mir ist jedes Mal egal, bei dem du mir das Herz brichst. Ich bin so vernarrt in dich, dass ich mich lieber von dir verletzen lasse, als Abstand zu dir zu halten.«
Damit brach er mir das Herz.
Solche Worte.
»Bist es wirklich du, der in mich vernarrt ist, Nate? Oder ist es unser dämlicher Seeleneid? Sei ehrlich. Wie wahr kann unsere Liebe sein, nach so kurzen Tagen?
Wenn ich nicht deine Seelenverwandte wäre, sondern eine andere. Du würdest sie lieben.
Können wir dann überhaupt von echten Gefühlen zueinander sprechen?«
Diese Sache beschäftigte mich ebenfalls seit Tagen.
Ich war überzeugt davon, dass ich Nate auf eine Weise liebte.
Aber das alles konnte nur mit unserer Seelenverwandtschaft zusammenhängen, die uns zur Liebe zwang.
Wie ehrlich also, liebte ich ihn wirklich?
Zu meiner Überraschung, schien Nate nicht sauer über meine Zweifel.
Er lächelte auf mich nieder, legte dann einen Arm um meine Taille, zog mich an sich und führte unseren Weg fort, während er nach Worten fasste.
»Du bist die faszinierendste Frau, der ich je begegnet bin.
Du denkst an alles.
Du machst dir einen riesen Kopf, Millionen Gedanken und zweifelst alles an.
Ganz ehrlich? Ich finde, dass macht dich unheimlich nervig und auf dieselbe Weise attraktiv.
Du bist neugierig.
Du willst immer alles wissen.
Und für dich gibt es keine Dinge, die man nicht erklären kann. Du brauchst eine Antwort.
In diesem Fall, kann ich dir aber keine geben.
Es gibt nämlich keine.
Du kannst auf alles im Leben eine Antwort suchen und alles anzweifeln. Aber du wirst schnell bemerken, dass du dir damit selbst die Kraft raubst.
Dinge, wie die Liebe, sind nicht berechenbar. Sie geschehen oder sie geschehen nicht. Menschen lieben sich oder sie lieben sich nicht. Gefühle entstehen, wenn wir es am wenigsten erwarten oder gebrauchen können.
Du hast natürlich vollkommen recht. Die Seelenverwandtschaft schweißt zwei Menschen zusammen.
Aber die Seelenverwandtschaft ist keine Voraussage, für romantische Gefühle.
Es gibt viele Mates, die bloß befreundet sind.
Es ist selten, aber nicht unmöglich.
Liebe kommt nicht durch Umweltfaktoren oder das Schicksal.
Die Liebe musst du schon selbst in die Hand nehmen.
Viele Seelenverwandte lieben sich, weil sie vieles gemeinsam haben. Sie teilen sich nunmal einen Stück ihres Körpers. Das ist auf irgendeine Weise natürlich ein kleiner Schubs in die derartige Richtung.
Aber wirklich lieben, ... dass müssen die zwei Personen schon selbst auf die Reihe bekommen. Das kann auch die Seelenverwandtschaft nicht vorprogrammieren.«
Er drückte mir einen Kuss auf's Haar.
Ich dachte seiner Worte nach.
Hatte er damit ehrlich recht?
Er liebte mich also, wegen mir und nicht nur bloß, weil ich mit ihm verbunden war?
Als hätte er meine Fragen im Kopf gehört, fuhr er plötzlich fort.
»Ich liebe dich, gerade weil du so kompliziert bist. Frag mich nicht wieso, Engelchen. Ich liebe es eigentlich, die Kontrolle über alles zu haben. Als Alpha eines so großen Rudels kann ich es mir auch nicht anders leisten.
Aber bei dir ist mir die Kontrolle aber egal. Ich mag dich, weil du dich nicht berechnen lässt. Du bist einen Moment so und dann plötzlich so.
Außerdem bist du eine Frau von Verstand. Du bist mutig und unbeugsam und du weißt, was du willst. Du hast mich mehr als nur einmal umgehauen und auch wenn das zu Anfang wirklich ungewohnt war, heute möchte ich nichts mehr, als bis an mein Lebensende von dir umgehauen zu werden.«
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