K A P I T E L ♥️ 2

•MAGNY•

»Wir sind Geschwister.
Wir sind eine Familie.
Uns durchfließt dasselbe Blut.
Uns kann man nicht trennen.«

Sie kamen nicht.
Sie holten mich nicht.
Niemand kam.
Und niemand holte mich.

Ich war nach zwei Tagen bitterlichem Warten noch immer allein in der Eiseskälte des Januars und nur mein einstiger Strickpullover versuchte kläglich die Kälte auszusperren und meinen unterkühlten Körper zu wärmen und trösten.

Als ob das möglich wäre.
Als ob ich das gewollte hätte.

Mein Herz war vereist.
Die Billionen Tränen der Angst und Panik waren vereist und mein Innerstes fühlte sich tot an. Leblos. Verlassen. Ausgelöscht.

Ich wollte nicht länger warten.
Dass weder Asher, noch Hail noch sonst irgendwer des Rudels sich gemeldet hatte, konnte nur bedeuten, dass etwas geschehen war, was niemand vorhergesehen.

Ich war mir sicher, dass sie mich nicht vergessen hatten.
Das konnten sie nicht und das würden sie nicht. Niemals.
Nein, es musste etwas Anderes passiert sein.
Etwas viel, viel Schlimmeres.

Meine Beine knackten zerbrechlich, als ich mich erhob und taumelnd zum Feldspalt begab, der mich an die frische Luft retten würde.
Ich wusste, dass ich in einem Kampf zwischen Wölfen keine Hilfe war. Ich stand nur im Weg und war in Gefahr und das ließ mich respektieren, dass sie mich hier oben in Sicherheit gebracht hatten.
Zwei Tage der Funkstille ließen mich nun aber unruhig  werden und ich wollte nicht länger warten.

Die Angst plagte mich.
Nachts ließ sie mich schreien, wann immer ich versuchte zu schlafen, schlecht träumen und wenn ich nicht längst der Tränen vertrocknet wär', dann würde ich noch immer weinen.
Aber nicht einmal das funktionierte noch.

Mein Körper schien in einen Stromsparmodus gewechselt zu sein, dabei war ich erst auf dem Weg zu dem schlimmsten und schrecklichsten Anblick, der sich mir je im Leben bieten sollte.

Ohne die Schnelligkeit der Werwölfe dauerte meine Reise zurück ins Tal mehrere Stunden und das lag nicht zuletzt auch daran, dass ich ausgeknockt und versteinert geworden war.

Die schmale Höhle und die flehende Bitte, sie unter keinen Umständen zu verlassen, hatte mir nicht viel Freiheit für Bewegung gelassen und so ging ich, wie ein Kleinkind Schritt für Schritt und versuchte mich an einem aufrechten Gang, als sei ich nie zuvor gelaufen.

Fast drei Stunden brachte ich mit dem Nachhauseweg zu, den ich vor achtundvierzig Stunden noch in einer guten Viertelstunde zurückgelegt hatte, und das, was ich vorfand, als ich endlich ankam, raubte mir allen Atem.

Zwischen den Bäumen, mitten im Wald, auf der schneeweißen Lichtung auf der sich die kleine Siedlung unseres Rudels befunden hatte, qualmten letzte Reste von niedergebrannten Hütten im Winde umher. Blut färbte den Waldboden und den Schnee bedrohlich rot und ich musste mich bei dem Geruch von Krieg, Hass und Tod beinahe übergeben.

Mein einstiges Zuhause glich einer zerfallenen Geisterstadt und von dem lieblichen Dörfchen unseres Rudels war kaum noch etwas übrig.
Vereinzelt standen noch Häuser zwischen niedergebrannten aufrecht, aber ich konnte keines entdecken, dass den Angriff vollkommen unbeschadet überlebt hatte.

Zersplitterte Fenster, aufgetretene Türen, Asche, Glut, Feuer.
Das Schlachtfeld sah mörderisch aus und ich war mir sicher, dass sich hier ein Kampf ausgetragen hatte, den so mancher mit seiner Seele bezahlt hatte.
Ein kühler Schauer durchfuhr mich und Tränen verschleierten meine Sicht, als ich durch die Trümmer lief, vergeblich versuchte mich an die Schönheit dieses Ortes zu erinnern und einen Menschen zu finden, der mich überzeugen würde, das ich bloß träumte.

Ich musste träumen!
Das konnte nicht wahr sein!

Ein Drang durchbrannte mich und ich sprintete durch all den Schutt, um zu dem Haus zu gelangen, das sich ganz offiziell das unsere nannte.
Es konnte nicht wegsein!
Sie konnten nicht wegsein!

Aber genau so war es.
Auch an unserer Hütte zeichneten sich Reste des Kampfes und trotz der Tatsache, dass es nicht verbrannt war, war es nicht mehr, wie ich mich daran erinnerte.
Möbel waren umgeschmissen, zertrümmert und überall an den Wänden zeichneten sich Kratzspuren. Ja sogar Blut klebte an allem, was mir lieb und teuer gewesen war.

Und niemand war mehr Zuhause. Das Blut war vertrocknet, roch bloß widerlich und verkündete unheilvoll, was ich nicht wagte zu denken.

Nein, nein, NEIN!

Ich wimmerte auf, als ich stundenlang durch die Siedlung irrte und vergeblich versuchte, sie zu finden.
Der gesamte Wald war verlassen.
Kein Asher.
Kein Hail.
Kein gar nichts.

Die Trümmer waren zurückgelassen und ich wollte nicht glauben, dass sie in dem tosenden Feuer womöglich alle umgekommen waren.
Das durfte nicht sein.
Sie durften nicht tot sein!

In meinem Kopf tobten die Optionen, was mit ihnen geschehen sein konnte.
Aber keine gefiel oder ersparte mir die Bauchschmerzen oder das schreckliche Gefühl innerlich zerrissen und erschossen zu sein.

Ich fühlte mich tot. Und ich wollte mit jeder Minute tot sein, wenn es hieß, dass auch sie hier gestorben waren.
Ohne Asher und Hail konnte und wollte ich nicht leben. Sie waren die einzigen Wesen, die mich auf dieser Erde hielten und die einzigen, die mich atmen und leben ließen. Ich wollte ohne sie nicht sein.
Ich konnte ohne sie nicht sein.
Das Leben ergab keinen Sinn ohne ihre brüderliche Liebe, ohne ihre Augen, ohne unsere Ausflüge, ohne ihre Gute-Nacht-Küsse, ohne das »Baby« aus ihren Mündern.

Nein, das Leben war der Tod ohne sie beide.

Als ich die Hütte ein zweites Mal betrat stellte ich erleichtert fest, dass trotz der Zerstörung einige wichtige Dinge vom Kampf verschont geblieben waren.

Das Obergeschoss mit dem riesigen Doppelbett, auf dem wir Geschwister jede Nacht zu dritt geschlafen hatten, stand nach wie vor an Ort und Stelle und ergab den Mittelpunkt in dem Zimmer voller Bilder und Erinnerungen an ihre Liebe.

Auch das Ankleidezimmer im Anschluss hatte jegliche Attacke überlebt und so riss ich weinend, wimmernd und von Verlassenheit erstickt ihre Kleider von den Stangen und warf mich damit aufs Bett, um ihren Erinnerungen so nahe wie möglich zu kommen.

»Ihr seid nicht weg.
Ihr seid nicht tot.
Ihr seid nicht verbrannt.
Ihr seid nicht weg.
Ihr seid nicht verletzt.
Ihr seid nicht tot.
Ihr seid nicht tot!«

Meine Gedanken kreisten wie ein Wirbelsturm in meinem Kopf umher und ich begann unwillkürlich zu zittern und zu schreien, als ich ihre Körpergerüche, die an der Kleidung hängengeblieben waren, wahrnahm und darin versank.

Tränen flossen, meine Glieder zuckten und mein Körper verfiel der unendlichen Trauer nicht zu wissen, wo sie waren oder ob ich sie je wiedersehen würde.

Ich schrie ihre Namen, hoffte ein Lebenszeichen durch die wimmernde Stille zu hören, versuchte mir ihre Gesichter vor die Augen zu rufen, aber alles verblasste nach einiger Zeit und nur ich blieb darin zurück.

Stunden vergingen und ich war unfähig mich zu bewegen.

Müde hallten ihre Stimmen in meinem Kopf und ich schaffte es nach Erinnerungen zu greifen und sie in meinem Kopf abzuspielen, als seien sie real. Aber das waren sie nicht. Und das machte mich unendlich traurig.

»Das ist kein Abschied, Baby. Wir sehen uns wieder. Das schwöre ich dir.«

Wie hatte Hail ausgesehen, als er mir das versprochen hatte?
Die Bilder von vor zwei Tagen schienen mir weit entfernt. So, als seien wir schon seit Jahren voneinander getrennt.

Hatte er geweint?
Hatten seine Augen so bläulich geschimmert, wie sie es oft taten, wenn er mit mir redete?
Hatte er seine Finger gekreuzt?
Er musste seine Nase krausgezogen haben, das machte er immer, aber auch damals?

Und was war mit Asher?

Wie hatten seine Haare gelegen?
Hatte er die Unterlippe vorgezogen gehabt?
Hatte er den Kiefer zusammengebissen, wie er es immer machte, wenn er mit etwas in seinem Inneren kämpfte?

So viele Details.
Details, die ich glaubte, nicht vernünftig in mich aufgenommen zu haben, um sie jetzt, wo sie weg waren, dennoch zu besitzen.

Ich bereute und trauerte um alles, was ich nicht genug wertgeschätzt hatte.
Um alles, was ich nicht genossen hatte. Ich weinte, um vergangene Tage, um Dinge, die ich nicht mehr besaß und Menschen, die nicht mehr um mich waren.

Wie lange ich zusammengerollt auf dem Bett lag, wusste ich nicht.

Ich sah nur wie das Tageslicht mit dem des Mondes tauschte und das immer und immer wieder.
Ich bewegte mich keinen Zentimeter.
Ich verließ das Bett nicht, ignorierte meinen Körper und seine Bedürfnisse und krallte mich so stark an die Kleidung meiner Wölfe, als wäre da jemand, der gleichzeitig versuchte sie mir wegzunehmen.

Alles Glück, das ich jemals empfunden hatte, war in mir aufgebrannt und erloschen.
Ich spürte keinen Funken Lebenslust und ich wusste, das das meinen Tod bedeutete.

Ich gab den Krieg ohne weiteres auf.
Und was war man schon, wenn man sich ergab?
Was blieb einem, wenn man um nichts mehr kämpfte?

Ich wusste, sie hatten mich zu jemand anderem erzogen.
Ich wusste, sie hätten diesen Anblick niemals toleriert.
Diesen Anblick, der sich niemandem bot, weil niemand kam, um nach mir zu sehen.

Niemand achtete auf meine Träume.
Niemand zog mich an sich, um mich zu wärmen.
Niemand umarmte mich.
Niemand amüsierte mich.

Niemand, niemand, niemand.
Niemand liebte mich.

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