TEIL II - Dawson - 21

Einen Monat zuvor

„Ich passe immer auf", zwinkerte ich Sam munter zu. „Du kennst mich doch!"

„Eben!", sagte sie gequält.

Rourke trat neben sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn, bevor er der Dunkelhaarigen beruhigend den Arm um die Schultern legte. Wie ein Schluck Wasser hing unsere Tochter Izzie in Sams Armen und kuschelte sich an die Schulter ihrer Mama. Den kleinen Daumen zwischen ihre Lippen geschoben, musterte sie mich müde. Die brütende Hitze erschöpfte sie noch mehr als uns Erwachsene.

Voller Zuneigung fuhr ich der Kleinen über die feuchten Haare. Dann trank ich das Wasser, das Abraham seit zehn Minuten in den Händen drehte. Es war inzwischen pisswarm und schmeckte leicht nach Plastik. Ziemlich widerwärtig, aber es half gegen den Durst und ermöglichte meinem Körper neue Rinnsale von Schweiß zu produzieren, die sich meinen Körper hinunterschlängelten und wahrscheinlich in den Motorradstiefeln zusammenflossen und dort am Grund Seen bildeten.

„Wenn du kein gutes Gefühl hast, dann...", begann Abraham zum gefühlt hundertsten Mal, seit wir das Motorrad heute Morgen auf meinen Truck geladen hatten.

„Ist gut jetzt", unterbrach ich ihn. „Irgendwann muss sie jemand austesten." Woher ich den Mut nahm, derjenige zu sein? Keine Ahnung. Ich hatte einfach Vertrauen in das Teil, das wir in mühevollster Handarbeit zusammengeschraubt hatten. Das rotschwarze Bike und ich hatten schon einige hundert Testkilometer hinter uns. Heute wurde es Zeit, mal bis an die Grenzen zu gehen. An meine körperlichen und an die technischen des Motorrades.

Ich nahm den Helm von der Ladefläche, setzte ihn auf. Dann warf ich Izzie einen Blick zu. Mein Herz wurde schwer, als sie mich müde anlächelte. Sie war ein süßes Würmchen und ich liebte sie von Herzen. Wenn ich das hier verbockte, dann würde sie im schlimmsten Falle ohne Vater aufwachsen. Ich schluckte das ungute Gefühl runter. Wenn ich meinen Zweifeln Raum gab, dann würden sie mich umschlingen wie klebrige Ranken und meinen Willen, das hier durchzuziehen, ersticken. Wir hatten keine Zeit mehr für Zweifel und keinen Spielraum für Rückzieher.

„Wir können einen Testfahrer nehmen", begann Sam wieder mit dünner Stimme. Jeder, der neben uns im Gras stand und sie hörte, wusste, dass wir keinen Testfahrer finden würden. Weder hatten wir das nötige Renommee, noch das Geld dafür. Die Zeit, jemanden zu suchen, hatten wir schon gar nicht. Ich wich Sams Blick und der kalten Angst darin aus, schwang mich auf die Maschine.

Das hier war mein Baby, mein Geschöpf. Niemand würde dieses Teil fahren, bevor ich nicht sicher war, dass es nicht unter meinem Arsch explodierte oder sich schon bei hundertneunzig in einen Bausatz zerlegte. Für die anderen ging es um Zeit und Geld. Für mich zusätzlich um meine Ehre.

Der satte Sound des Motors verursachte mir wie jedes Mal Gänsehaut, meine Nerven nahmen die Vibration der Maschine auf, als ich das Visier zuklappte. Kurz durchatmen. Langsam Gas geben. Eine Runde auf dem heißen Asphalt gönnte ich mir und dem Motorrad zum Warmwerden, die zweite nahm ich schon sportlicher, aber noch vorsichtig. Der Plan war Grenzen auszutesten, nicht über den Asphalt und dann durchs Kiesbett in ein frühes Grab zu schliddern. Die Tachonadel kratzte inzwischen an der hundertfünfzig. In der dritten Runde gab ich dann Vollgas. Die Geraden wurden verdammt kurz, die Kurven unglaublich eng. Ich spürte die gnadenlose Kraft des Motors bis ins Mark. Die Tachonadel driftete stetig auf die dreihundert zu und mein Körper stand unter Strom, als ich über die leere Rennstrecke preschte, in dem Bewusstsein, dass ein Stein reichen könnte, um mein Leben zu beenden. Ich würde Riley nie wiedersehen. Woher kam denn der Scheißgedanke? Fuck. Konzentration. Aber mit der war es grad nicht weit her. Ich legte mich in die nächste Kurve und vor meinem geistigen Auge tauchten Bilder auf, die ich gründlich verdrängt hatte. In der folgenden Geraden gab ich wieder ordentlich Gas, doch die Bilder waren schneller als die Maschine. Problemlos holten sie mich ein, überfielen mich knapp vor einer engen Kurve, als ich das Tempo drosselte. Licht und harte Schatten, kleine feste Brüste, die sich in die Höhe reckten, die Wölbung eines Rückens und Rileys Hände, die ihrer Mitte gefährlich nah waren. Gerne hätte ich meine Augen geschlossen, die Bilder aus meinem Kopf vertrieben, die mich an meine erste und einzige Freundin erinnerten. Bei knapp zweihundert Sachen eher keine gute Idee, die Augen zuzukneifen. Schon gar nicht, wenn man gerade durch eine Haarnadelkurve preschte und langsam selbst Angst vor der Geschwindigkeit bekam. Nur mit purer Willenskraft und schmerzenden Muskeln kam ich durch die Kurve. Das hier war wie Fallschirmspringen ohne Fallschirm.

Aber ein Rückzieher war jetzt nicht mehr drin. Die lange Gerade lag vor mir und wollte genutzt werden. Ich gab Gas, schüttelte die unerwünschten Gedanken ab.

Bei zweihundertneunzig nach Tacho war Schluss, langsam ging ich vom Gas, bremste und gönnte mir zum Runterkommen zwei weitere aber langsamere Runden auf der Maschine, die wir in wenigen Wochen auf unserer Hausmesse präsentieren würden. Dann hielt ich neben der kleinen Entourage, die mich hierher begleitet hatte.

Als ich den Helm abnahm, lief mir der Schweiß über die Stirn, wie Sam die Tränen über die bleichen Wangen. „Tu das nie wieder!", wisperte sie und schlang ihre Arme um meinen Hals. Adrenalin pulsierte durch meine Adern und bescherte mir, zusammen mit Sams weichem Körper, der wie eine Briefmarke an mir klebte, eine pochende Erektion. Erschrocken ließ ich sie los und trat einen Schritt zurück. Konzentriert sah ich Abraham entgegen, der auf mich zukam. Überspielte den unangenehmen Moment und hoffte, Sam hatte nichts bemerkt.

„Und?", fragte Sams Vater.

„Bei zweihundertneunzig war Ende", berichtete ich und bei dem Gedanken an die irrwitzige Geschwindigkeit geriet mein Puls ins Stolpern. Mühsam kratzte ich mein Gehirn zusammen, das noch im Geschwindigkeitsrausch war, und formulierte meine größte Hoffnung für meinen Chef. „Denk, wenn wir sie noch ein bisschen frisieren, schafft unser Baby die Schallgrenze von dreihundert."

Abraham klopfte mir auf die Schulter. „Lass mal gut sein, Grady. Wir wollen unsere Kunden nicht von der Straße kratzen."

„Dad!", fauchte Sam und Abraham sah zerknirscht zu mir.

„Sorry", murmelte er. „War blöd." Er pulte verlegen an seinem Bart. Aber ich konnte es Abraham nicht mal übelnehmen. Warum sollte er ständig Rücksicht nehmen auf einen Verlust, der hier, weit weg von meiner Familie, nur für mich von Bedeutung war.

„Sollen wir losmachen, bevor wir zerfließen oder Terence die Werkstatt abfackelt?", fragte Rourke, der immer um Harmonie und Ausgleich bemüht war. Sein Ablenkungsmanöver funktionierte dank jahrelanger Übung nahezu perfekt. Der letzte Teil der Bemerkung von Rourke, die auf den Nachfolger eines unserer Techniker anspielte, löste bei uns die Anspannung mit einhelligem Gelächter.

„Dann lass uns das Baby mal verladen", schlug Abraham vor. Doch ich schüttelte den Kopf. „Ich fahr sie nach Hause", gab ich bekannt und warf Sam den Schlüssel meines Pick-ups zu. Nachdenklich musterte Abraham mich. „Wir haben noch keine Zulassung", wandte er ein.

Ich zuckte mit den Achseln. Sollten die Bullen doch mal zusehen, ob sie mich einholen konnten. Ich wusste, was die Maschine konnte. Wie sie mit unbändiger Energie aus Kurven heraus beschleunigte. Wie sie auf das Bremsen reagierte. Ich wäre flüchtig wie ein Blitz: erst beeindruckend und raumgreifend, dann einfach weg, als hätte ich nicht existiert.

„Daddy, mitfahren?" Izzie, die auf Sams Hüfte saß, streckte mir ihre kleinen pummeligen Ärmchen entgegen. Ich drückte der Kleinen einen Kuss auf die schweißfeuchte, rosig rote Wange. „Jetzt nicht, Süße. Heute Abend." Ich schloss das Visier, erweckte das knurrende Monster unter mir mit dem Zündschlüssel zum Leben und preschte Richtung Straße.

Schon lange hatte ich mich nicht mehr lebendig gefühlt, wie heute. Die pure Kraft und die Geschwindigkeit hatten mich aufgeputscht wie eine Partydroge und noch Stunden später spürte ich die Energie wie einen heftigen Rausch. Am liebsten wäre ich noch um die Häuser gezogen, aber hier gab es weder Häuser noch jemanden, der mit mir hätte darum herumziehen können. Somit beschränkte mein Abendprogramm sich darauf, Izzie nach dem Abendessen mit dem Motorrad nach Hause zu bringen. Sie saß vor mir auf dem Tank meines untermotorisierten Kinderfahrrades und ich hielt sie mit einem Arm fest umschlungen, während wir im zweiten Gang gemütlich in Richtung Sonnenuntergang zuckelten. Sam, die mit ihrem Auto viel schneller gewesen war, erwartete uns an der Haustür.

„Bleibst du noch?", fragte sie, als ich mit Izzie auf dem Arm zu ihr trat. „Auf ein Bier oder ein Glas Wein?"

Kurz zögerte ich. Dann schüttelte ich den Kopf.

„Besser nicht, Sam. Ich bin heute nicht ganz ich selbst."

Sie schnaubte belustigt. „Ich glaube eher, du warst schon lange nicht mehr so sehr du selbst." Sams Augen funkelten im Licht der untergehenden Sonne und nicht zum ersten Mal in den vergangenen Monaten, wünschte ich, ich könnte es. Könnte mich wenigstens für kurze Zeit, eine Nacht oder zwei, nochmal in ihren weichen Kurven verlieren.

Ich fuhr mir durch die Haare, die trotz Dusche wieder feucht in meinem Gesicht klebten, rief mir Sams Tränen ins Gedächtnis, als sie mich vorhin umarmt hatte. Für sie wären es mehr als nur ein paar Augenblicke der Lust. Es wäre nicht fair, würde den Status Quo gefährden, den wir uns über die letzten Monate erarbeitet hatten.

„Ich sollte besser fahren", äußerte ich und strich Izzie zum Abschied über die Haare, Sam gab ich einen unverbindlichen Kuss auf die Wange.

„Bist du sicher, dass du gehen willst?" Ihr Blick löste sich vom meinem Gesicht und ohne ihren Augen zu folgen, wusste ich genau wohin sie sah. Am liebsten hätte ich mich zusammen gerollt wie ein kleiner Igel und die empfindliche Stelle am meinem Arm geschützt. Nicht die Haut, aber das was darunter lag.

„Ich mache mir Sorgen, Dawson. All die Termine, die Testfahrten, der Druck...", flüsterte sie. Die Frage und die Sorge in ihrem Blick ließen ein flaues Gefühl in mir aufsteigen.

„Mir geht es gut, Sam", log ich.

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So, da ist es; das erste Kapitel aus Dawsons Sicht.

Und Rileys Perspektive endet zunächst mit einem Cliffhanger....

Also dranbleiben, weiterlesen und in ein paar Kapiteln erfahrt ihr, wie es mit Leroy weitergeht.

Habt noch ein schönes sonnigens Wochenende und bis bald!

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