TEIL I - Riley - 1
Eine Woche zuvor
Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe und starrte auf das undurchdringliche Grün des Unterholzes links und rechts der Straße, wenn man diesen holprigen Weg überhaupt als solche bezeichnen wollte.
Wir hatten uns mal sowas von verfahren! Jeder der Wege hier sah haargenau aus wie der andere, wurde von niedrigeren Büschen und undurchdringlichen Gehölzen flankiert, die sich an die Stämme der Bäume schmiegten. Hoch über uns schwankten die Baumkronen in einem warmen Wind der an einen Haartrockner erinnerte. Der Wald war uralt und die Bäume, die sicher schon einiges gesehen hatten, seufzten vermutlich über unser Unvermögen, zur Hauptstraße zurückzufinden.
„Meinst du hier gibt es Bären oder Raubkatzen?", erkundigte ich mich unbehaglich und erntete sofort ein belustigtes Schnauben von Lio.
„Wahrscheinlich schon, aber wenn sie keinen Dosenöffner haben, denke ich, sind wir im Auto recht sicher."
„Vielleicht fressen sie Dawson auf dem Weg hierher?", äußerte ich mit Blick aus der Seitenscheibe hoffnungsvoll.
„Damit willst du mir was genau sagen? Dass du dir wünschst, mein bester Freund würde als Katzenfutter enden?"
Ich seufzte tief und fühlte mich Lio zu Liebe ein klein wenig schuldig, weil ich über einen ausgeprägten Überlebenssinn verfügte. „Ja, lieber wird er gefressen, als dass er mir den Kopf abreißt."
Letzteres bereitete mir wirklich ernsthafte Sorgen. Dawsons Stimmungstiefs waren legendär und nach dem Kontaktabbruch vor zwei Jahren hatte ich nichts mehr von Dawson gehört, obwohl ich mich wochenlang um eine Aussprache zwischen uns bemüht hatte. Diese Fakten ließen nicht gerade darauf schließen, dass er scharf darauf war, mich zu sehen. Warum ich mich dennoch hatte überzeugen lassen, mit Lio nach Alabama zu fahren, wusste nur Gott allein. Ich musste einfach hoffen, dass Gott einen verdammt guten Plan hatte. Gut möglich, dass das hier andernfalls auf Platz zwei meiner dümmsten Ideen in die Familien-Chroniken einging. Auf Platz drei dicht gefolgt von der Idee, mich jemals in Dawson zu verlieben.
Auf Platz eins würden für immer die beschissenen Nacktfotos bleiben. Vielleicht bekamen die drei großen Fehler meines Lebens in Zukunft eine andere Reihenfolge. Das konnte ich aber bestimmt erst mit mehr zeitlicher Distanz richtig einordnen. Wenn ich fünfzig wäre, oder sechzig.
„So schlimm wird es schon nicht werden. Sam meinte, sie können jede helfende Hand brauchen und Dawson hat mir selbst erzählt, Chad ist wegen der Dialyse und seinen Medikamenten körperlich nicht richtig auf der Höhe."
„Ich bin nur ein Mädchen und kein Holzfäller! Was kann ich schon groß reißen?", kommentierte ich matt. Ich war viel zu angespannt, um das durchzukauen. Die Angst, Dawson würde ausflippen, wenn er mich sah, fraß meine Energie schneller als ein Tiger ein Pfund Rinderhack.
„Nun mach dir doch keine solchen unnötigen Gedanken. Dawson wird froh sein, wenn du Sam unter die Arme greifst. Außerdem bist du sportlich, schwindelfrei, immer gut drauf, halbwegs trinkfest und obendrein wunderschön anzusehen, wenn du dich bückst. Dein Arsch ist klasse, Süße."
Jedem anderen hätte ich es übelgenommen, wenn er mir den letzten Satz lasziv ins Ohr gesäuselt hätte wie Lio es gerade tat. Für ihn hatte ich nur ein genervtes Stöhnen übrig und schlug ihm mit der Hand gegen den Oberarm. „Dafür sind meine Brüste zu flach und mein Kreuz zu breit."
Diesmal war er derjenige der schnaufte.
„Riley, du hast auf Insta beinahe achthunderttausend Follower. Schätzungsweise neunzig Prozent männlich oder lesbisch. Glaub mir, die finden deine Titten alle total super. Und Dawson sicher auch. Außerdem sind die Titten egal. Du bist zum Arbeiten hier nicht zum Ficken."
Ich räusperte mich, weil Lionel mal wieder viel zu deutlich war. Ich war von meinen Kollegen aus dem Schwimmteam einiges an Obszönitäten gewohnt, besonders, wenn wir trunken von Adrenalin und Alkohol einen unserer Siege feierten. Entweder das Frauen-Team oder das Männer-Team gewann immer irgendwas, das man feiern konnte. Vor drei Wochen zum Beispiel hatten wir die Tatsache begossen, dass Justin in einem aussichtslosen Wettkampf nicht letzter wurde. Lionel toppte die Ausdrucksweisen der Jungs aus meiner Uni aber regelmäßig. Selbst dann, wenn er nüchtern war. Obwohl er fünfundzwanzig war und man annehmen konnte, er hätte sein loses Mundwerk langsam unter Kontrolle, rutschten ihm nach wie vor Sachen raus, die mein Gesicht in Krebsrot tauchten. Zerknirscht sah Lio mich an. „Falsche Wortwahl, oder?", fragte er mit zusammengekniffenen Augen und gerümpfter Nase.
„Ja, absolut sexistisch, du Chauvi!", schimpfte ich schon aus Prinzip.
„Ich gelobe Besserung!" Treuherzig sah Lio mich aus seinen schokoladenbraunen Augen an und klimperte mit seinen langen Wimpern. Plötzlich schnellte seine Hand nach oben an seine Lippen.
„Hörst du das? Klingt wie eine Kettensäge auf Speed!", murmelte er. Lauschend starrte ich aus dem Fenster des schwarzen Lexus, den sich Lio von seinem Dad geliehen hatte. „Das ist sicher die moderne Version eines Axtmörders", behauptete Lio und seine bedrohlich verstellte Stimme verursachte mir tatsächlich ein Horrorfilmgefühl.
Mit seiner grundsätzlichen Einschätzung der Lage sollte Lionel Recht behalten. Zwar handelte es sich bei dem Geräusch, das wir in der Ferne gehört hatten, um keine Kettensäge, sondern um eine Enduro. Das Gesicht, das unter dem Helm hervorkam, wurde meiner Vorstellung eines Mörders jedoch mehr als gerecht. Dawsons grimmige Miene schwankte zwischen Überraschung, Unglauben und Wut.
Der erste vernichtende Blick aus Dawsons moosgrünen Augen funkelte mir entgegen und bescherte mir selbst im Sitzen Gummiknie. Der zweite, der den er Lio zuwarf, kündete von einem Haufen Ärger und ich wollte nicht in Sams Haut stecken, wenn Dawson erfuhr, dass sie Lios Idee, ich könne bei den Vorbereitungen helfen, zugestimmt hatte. Ohne nur ein Wort zur Begrüßung zu verlieren, rollte Dawson an unserem Auto vorbei und deutete mit dem Winken seines rechten Armes an, dass Lio wenden und ihm folgen sollte, dann brauste er den schmalen Weg hinunter.
Dass wir an der Abzweigung, die zur Werkstatt führte, vorbeigefahren waren -und das mehrfach- verwunderte im Nachhinein weder Lio noch mich. Die Straße war nur ein ausgefahrener Feldweg mit Schlaglöchern und trockenen Grasbüscheln in der Mitte. Das Schild, das Richtung Werkstatt deutete, verdiente den Begriff „verwittert" nicht einmal mehr und war zur Hälfte von Bäumen und Sträuchern verdeckt. Lio und ich warfen uns einen besorgten Blick zu, als wir den Weg entlangholperten.
Dawson heizte mit seinem Motorrad vor uns her und wirbelte dabei gelbbraunen Staub auf, der einem Sandsturm gleich auf uns zuschwebte, das Auto umschloss und erst im Hof in Tarnfarbe wieder ausspuckte. Der schwarze Lack war erdbraun, als wir ausstiegen.
Mit einem Ruck nahm Dawson den Helm ab und noch ehe wir die Wagentüren zugemacht hatten, war er in dem Flachbau verschwunden, der vor uns lag. Lio und mich ließ er einfach im Hof neben der hohen Hecke, die diesen Teil des Grundstückes begrenzte, stehen. Wie bestellt und nicht abgeholt. Oder in meinem Falle wie eine Falschlieferung.
„Was macht er denn heute wieder für einen Aufstand?" Lio sah Dawson ratlos nach. Ich enthielt mich einer Antwort. Was hätte ich dazu sagen sollen? Ach übrigens, Dawson und ich waren kurz ein Paar und ihm hat nicht gefallen, dass ich Nacktaufnahmen gemacht habe, damit er sein Motorrad zurückbekommt. Statt sich für meine Hilfe zu bedanken, hat er mir unterstellt, ich hätte mit dem Fotografen geschlafen und ward Minuten später nicht mehr gesehen oder gehört.
Wohl eher eine Geschichte, die ich weiterhin für mich behalten sollte.
Statt der unschönen Erklärung, was es mit Dawsons Wutausbruch auf sich hatte, sagte ich: „Komm lass uns mal reingehen. Vielleicht können wir Sam vor dem Tod durch Erwürgen retten. Godzilla hat die Krallen schon ausgefahren."
Lio schob die Sonnenbrille in seine Rasta-Zöpfe, eine Eigenart, die er mit seiner Schwester und meiner besten Freundin Stacey teilte. „Gut, sehen wir mal, was wir für Sam tun können", stimmte er nickend zu und steuerte auf den Eingang zu, den Dawson kurz zuvor ebenfalls benutzt hatte.
„Sag mal, wie spät ist es eigentlich?", fragte Lio eine Sekunde später.
„Kurz vor sieben. Wieso?" Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, den er mit einem Schulterzucken quittierte und dann erklärte: „Nur, falls jemand nach Sams genauem Todeszeitpunkt fragen sollte."
„Spinner!", gab ich grinsend zurück. Hoffentlich konnte ich mit der aufgesetzten Fröhlichkeit meine Nervosität überspielen. Ein wütender Dawson konnte sehr verletzend und gemein werden. Ich hatte ehrlich eine Heidenangst davor, was er mir alles an den Kopf werfen könnte, worauf mir keine Erwiderungen einfielen.
Mutiger als ich mich fühlte, öffnete ich die Tür mit Glaseinsatz, hinter der wir uns in einem Wartebereich mit Empfangstresen sowie dahinter liegenden Schreibtischen wiederfanden.
Linker Hand gab es eine weitere Tür, die sperrangelweit offenstand. Durch diese folgten wir den lauten Stimmen, die uns den Weg wiesen, bis wir in einer riesigen Wohnküche auf Dawson und Sam trafen. Die Dunkelhaarige hatte zornblitzende Augen, Dawson stand kurz vor einer Kernschmelze. Sein Gesicht war rot vor Wut, an seinem Hals pochte eine Ader und an seinen Schläfen pulsierte eine geschlängelte blaue Linie unter der Haut. Genau der Zustand, den ich mehr fürchtete, als der Teufel das Weihwasser.
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