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„Nee, alles super", beruhigte ich ihn und bemühte mich um einen entsprechend freundlichen Ton.

„Warum hast du mich dann beim Essen angestarrt, als sei ich dem Tod geweiht?"

„Ich habe nicht gestarrt!", verteidigte ich mich, obwohl ich es sehr wohl getan hatte, schwenkte dann aber sofort auf ein anderes Thema um. „Das hier", ich deutete kopfschüttelnd auf den Rest Auflauf, „ist das völlig falsche Essen für dich. Du verlierst Proteine durch die Dialyse. Die musst du wieder auffüllen." Das war mal wieder mit der Tür ins Haus. Toll, Riley, echt super. Ich kannte den Typen nur von einem äußerst kurzen Besuch im Wohnheim, der Jahre zurücklag und gab ihm ungebeten Ernährungsratschläge, die er ohnehin kannte. Chads Gesichtsausdruck zeigte mehr als deutlich, was er von meiner Meinung hielt, nämlich nichts.

Chad sah über seine Schulter. „Lass uns das klären, wenn Sam nicht da ist", bat er mit gesenkter Stimme. „Ich will einfach die paar Wochen normal rüberkommen. Sam hasst Fleisch. Ich will nicht, dass sie denkt, sie muss wegen mir welches kochen oder essen."

„Aber...", begann ich.

„Ich esse später einfach ein Wurstbrot", wimmelte er mich ab und verschwand. Wurst? Wohl besser nicht! Kopfschüttelnd sah ich ihm nach. Das war doch kompletter Schwachsinn! Er wusste das. Ich wusste das. Dawson und Lio sicher ebenfalls. Warum Sam es nicht wissen sollte, war mir ein Rätsel.

„Soll ich dich nach Hause fahren?", erkundigte Dawson sich bei mir und riss mich aus meinen Versuchen Chads Verhalten zu enträtseln.

„Nein, brauchst du nicht", wiegelte ich ab. „Sam kann mich sicher mitnehmen oder ich kann ein Taxi rufen."

Entgeistert sah Dawson mich an und begann tatsächlich zu lachen. „Was glaubst du, wo wir hier sind? In dem kleinen Kaff, in dem Sam wohnt, gibt es nicht einmal eine Scheiß-Tankstelle geschweige denn einen Supermarkt. In zwanzig Jahren ist dieser weiße Fleck auf der Landkarte mit Glück groß genug, damit ein Taxifahrer nicht in der ersten Woche bereits verhungert. Du könntest aber den Bus nehmen. Ich glaube, der nächste fährt übermorgen. Und Sam ist heute Abend übrigens mit Freundinnen unterwegs."

Ganz langsam dämmerte mir die Problematik: ich war in manchen Dingen einfach ein wenig realitätsfern. Am Waldrand zu wohnen, mitten im Nichts, hatte etwas romantisch-idyllisches, brachte aber gleichzeitig die zwingende Notwendigkeit mit sich, einen fahrbaren Untersatz aufzutreiben, wenn man nicht auf den guten Willen anderer angewiesen sein wollte.

„Oh. Dann müssen wir uns was überlegen, damit ich mobil bin. Kann man hier irgendwo ein Auto mieten?", fragte ich wenig hoffnungsvoll und schob dann gleich eine Erklärung nach: „Ich möchte niemandem zur Last fallen, nur weil ich regelmäßig Schwimmen muss."

Nachdenklich sah Dawson mich an. Das erste Mal seit ich hier war, entdeckte ich etwas wie Verständnis in seinen Augen, nicht nur Spott, Zorn oder Ablehnung.

„Hm. Denk schon, dass es eine Möglichkeit gibt. Glaub Dave vermietet für einen Auto-Verleih. Aber sicher finden wir ohne Dave eine Lösung. Hier im Hof gibt es genug Motorräder, damit du überall hinkommst, wohin du willst. Nur eben nicht vor morgen früh. Ohne Abraham kann ich nicht entscheiden, welches Bike du nehmen kannst. Du hast doch inzwischen einen Führerschein? Oder willst du lieber kein Motorrad?"

„Klar hab ich meinen Schein. Ich hatte einen tollen Fahrlehrer für meine erste Stunde." Ein kurzes Lächeln huschte über Dawsons oft undurchschaubares Gesicht. Offenbar war ihm meine erste Fahrstunde ebenfalls noch in Erinnerung.

„Ich möchte dir ungern deine Zeit stehlen, Dawson. Aber unter den Umständen wäre es nett, wenn du mich heimfahren könntest."

Unschlüssig, wie ich mich verabschieden sollte, als Dawson mich abgesetzt und mit seinem Schlüssel die Tür zu Sams Haus für mich geöffnet hatte, stand ich da. Umarmen? Ihm die Hand geben? Nichts tun?

Dawson sah ebenfalls befangen aus. Seine Hände hatte er in den Taschen seiner Shorts vergraben. Wie immer, wenn ich nervös oder nachdenklich war, kaute ich auf meiner Lippe herum.

Scheiß drauf, was soll's, lautete mein Endergebnis. Ein bisschen Normalität sollte schon drin sein nach zwei Jahren ohne Kontakt.

„Bis morgen!", verabschiedete ich mich, bevor ich einen Schritt auf Dawson zu wagte und ihn kurz umarmte. Der unverwechselbare Duft nach Duschgel stieg in meine Nase und das viel besser als zuvor unter der Dusche. Diese ganz spezielle Mischung aus Dawson, Waschmittel und Cool Water. „Schlaf gut!", murmelte ich und widerstand mit Mühe der Versuchung, an seinem Shirt zu schnuppern. Das hätte Dawson sicherlich ebenso merkwürdig gefunden, wie ich meinen Wunsch, es zu tun.

„Du auch." Unbeholfen tätschelte Dawson meine Schulter, dann trat er einen Schritt zurück. Zeit für mich, meine geröteten Wangen ins Haus zu retten und die Tür zu schließen. Innen lehnte ich mich gegen die Tür. Atmete erst mal ganz tief durch. Wer hätte das gedacht. Eine kurze Umarmung brachte mich mehr durcheinander als ein Schleudergang meine Wäsche?

Schwierig war es zwischen Dawson und mir schon immer gewesen. Aber eher schwierig, weil wir beide wollten, was nicht sein konnte. Nun konnte alles sein, was keiner mehr wollte. Oder er nicht wollte und ich nicht mehr wagte. Oder... zur Hölle. Einfach zur Hölle mit ihm, den hypnotisierend grünen Augen und all diesen Blicken, die mich nervös machten. Zur Hölle mit seinem Duft, der die seltsamsten Bedürfnisse in mir weckte. Zur Hölle mit den schmerzenden Armen, meinem verspannten Rücken und dem verkrampften Nacken.

Ich schälte mich an diesem Abend nur noch aus meiner Kleidung, stopfte sie in den Rucksack und dann legte ich mich ins Bett. Keine Ahnung, ob und wann Sam nach Hause kam. Ich war völlig erschossen und als mein Wecker mich mit dem Hinweis „Krafttraining" am folgenden Morgen weckte, konnte ich nur über den Text lachen. Ich spürte bereits jeden einzelnen Muskel in meinem Körper. Krafttraining hatte ich gestern wohl genug genossen. Im Sitzen schaltete ich den Wecker aus und zum ersten Mal seit Jahren stand ich nicht sofort auf, sondern gönnte mir drei Minuten des stillen Jammers und entschied dann, einen spontanen Regenerationstag einzulegen. Zumindest was meinen Trainingsplan anging, war es Regeneration, denn Staudenbeete und Rosenrabatten anlegen, klang in meinen Ohren nicht wirklich nach Erholung pur. Was ich mir wünschte, war eine Liege im Schatten oder noch besser eine Liege in einem Massagestudio und die Hände eines erfahrenen Physiotherapeuten, der mich ordentlich durchknetete.

Sam nahm mich um halb acht mit zur Werkstatt, wo ich mich zunächst in Arbeitsklamotten warf und anschließend unter Aufbietung meiner Kraftreserven den unendlich langen Gartenschlauch durch das Gras zog. Hund beäugte mein Tun äußerst skeptisch und beschnüffelte den Schlauch, mich, meine Schuhe, dann die Löcher, die Dawson am Vortag ausgehoben hatte. Scheinbar zufrieden mit den gewonnenen Erkenntnissen, trottete er davon und setzte sich in einiger Entfernung von mir auf die Wiese. Seine dunklen Augen folgten mir, als ich zurück zum Haus ging, um den Wasserhahn zu öffnen.

Möglicherweise nahm ich das mit dem vorbereitenden Wässern zu ernst, vielleicht nahm der trockene Boden das Wasser aber einfach nicht richtig auf. Jedenfalls schwamm innerhalb kürzester Zeit in Dawsons Pflanzlöchern graubraune Suppe, die nur in Zeitlupe, aber immerhin doch, versickerte. Völlig verkehrt schien meine laienhafte Bewässerungstechnik folglich nicht zu sein. Motiviert bis in den kleinen Zeh, zog ich den Schlauch zum nächsten vorbereiteten Beet. Man mochte kaum glauben, was das für einen Gewichtsunterschied ausmachte, ob viele Meter Gummischlauch leer oder prall mit Wasser gefüllt waren. Gerade drehte ich an dem Aufsatz, damit das Wasser sich über das nächste Beet verteilen konnte, als fröhliches Bellen erklang. Vermutlich war Dawson im Anmarsch und Hund begrüßte ihn.

Auf ein mürrisches Gesicht und einen blöden Kommentar vorbereitet, sah ich von dem Beet auf, das ich begoss. In der Bewegung erstarrte ich. „Oh, Scheiße!", murmelte ich. Nicht sein verdammter Ernst! Dann schrie ich: „Hund, nein! Aus! Pfui!" Damit zog ich bereits das ganze Repertoire der mir zur Verfügung stehenden Befehle. Hund interessierten diese aber nicht die Bohne. Glückselig wälzte sich das dämliche Vieh mit Schwung und einer Menge Enthusiasmus in der nassen, dunklen Erde. Er sah aus wie ein Schwein. Doch schlimmer war, dass man von den Löchern, die Dawson am Vortag ausgehoben hatte, nichts mehr erahnen konnte. Hunds massiger Körper hatte alles eigeebnet und plattgewalzt.

Mit dem Mut der Verzweiflung rannte ich über die Wiese und packte Hunds Halsband. Ich zerrte und zog daran, für das Tier war es offenbar die unmissverständliche Aufforderung zum Spielen. Er sprang mit seinen dreckigen Pfoten an mir hoch und gemeinsam gingen wir zu Boden.

„Hund!", fluchte ich ungehalten. „Pfui! Aufhören!" Meine Wünsche interessierten ihn keinen Pfifferling. Hund sprang fröhlich über mich hinweg und im nächsten Augenblick lag er wieder im Dreck!

„Verflucht! Hund! Aus!", schrie ich ihn an und meine Stimme kippte dabei ins Verzweifelte. Oder Hysterische. Wie man's nahm. Sicher war, dass ich jetzt auf hundertachtzig war und das bekam Hund zu spüren. Ich rappelte mich hoch, krallte meine Hand in das nasse, dreckige Fell und brüllte dem Hund meinen ganzen Frust entgegen. „Du dämlicher Köter! Raus aus dem Beet!" Keine Ahnung, warum er es jetzt kapierte. Wegen der Wortwahl? Oder weil er an meiner Stimme erkannte, dass meine Geduld am Ende war und ich im Gegensatz zu Sam sehr wohl Fleisch aß? Warum auch immer, ich konnte ihn zurück auf die Wiese dirigieren. „Platz, Hund!", fauchte ich und schuldbewusst legte er sich dort ab, wo ich es befohlen hatte.

„Du bist ein ganz böser Hund!", stellte ich fest und besah mir die Bescherung. „Wenn Dawson das sieht, sitzen wir richtig in der Scheiße, du dämlicher Köter!" Ich wischte mir mit dem Handrücken ein paar Strähnen aus dem Gesicht. Hund wedelte bestätigend.

„Dawson hat das bereits gesehen!" Ich drehte mich um und begegnete mit einem schlechten Gewissen Dawsons zornfunkelnden Augen.

„Tut mir leid", sagte ich zerknirscht. „Ich dachte, ich wässere die Beete schon mal bis du kommst, damit wir die Blumen gleich einpflanzen können, wenn du von der Kinderfrau zurück bist. Aber Hund fand nasse Erde irgendwie gut zum Spielen."

„Ist nicht zu übersehen!", pflaumte Dawson mich an. „Und du hättest natürlich nicht besser aufpassen können?"

„Ich kann neue Löcher...", begann ich, doch Dawson winkte ab. „Wasch Hund. Das mit den Beeten mach lieber ich."

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