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Wieder wechselte ich einen Blick mit Lio. Keine Ahnung was der Mist sollte, den er abzog. Warum er ihren Angriff stoisch hinnahm, anstatt sich zu verteidigen und ihr einfach zu sagen, dass man als Dialysepatient weder als Blut noch als Stammzellenspender in Frage kam. „Was wäre denn, wenn dein Freund Dawson einen Unfall hat? Oder Lio? Und sie Blut brauchen, nur leider hatte die letzten Wochen keiner Zeit zum Spenden?"

„Ich möchte sein Blut lieber nicht...", warf Lio ein, wurde aber harsch von Chad unterbrochen.

„Lass es. Niemand will hören, dass du nur Blut von schwarzen willst."

Lio verdrehte die Augen. „Wollte ich nie sagen!", behauptete er, hielt dann aber die Klappe, als Chad ihm einen bohrenden Blick zu warf.

„Können wir uns mal alle kurz beruhigen?", schritt Abraham ein und nahm seine Tochter zur Seite. Leise redete er auf sie ein. Die Wirkung seiner Worte war eher mäßig, denn Sam starrte stur und sehr grimmig auf ihre Schuhspitzen. Unschlüssig, was ich sagen oder tun konnte, sah ich zu meinem Kumpel, dessen graue Augen unglücklich auf Sam ruhten. Seine Taktik, ihr die Nierenthematik zu verschweigen, ging in meinen Augen inzwischen viel zu weit. Sam mochte ihn doch ganz offensichtlich um seiner selbst Willen. Was machte es denn noch groß aus, wenn sie es wusste? Ich kapierte es einfach nicht. Sam hatte ihm Izzie anvertraut, ihn an unserem Familienleben teilhaben lassen und nun tat er ihr weh. Einfach nur um ein Geheimnis zu bewahren das auf Dauer nicht zu bewahren war. Jetzt stand er jedenfalls mit dem Rücken zur Wand. Den Moment, in dem er es Sam unter vier Augen hätte erzählen können, hatte er definitiv mehrmals verpasst. Jetzt saß er auf dem Zug fest, der mit Höchstgeschwindigkeit Richtung der nächsten Haltestelle „Einsamkeit" raste und abzuspringen würde wehtun. Auch Lio und mir, die wie Fähnchen am Zug wehten. Wir, die Chad sechs Wochen lang gedeckt hatten. Vor Sam und vor allen anderen. Abspringen würde wehtun. Uns allen. Wenn ich jedoch eines in den vergangenen zwei Jahren gelernt hatte, dann das: Lügen und Geheimnisse waren eine schlechte Basis für jede Beziehung. Ob Freund oder die große Liebe. Wer uns am Herzen lag, verdiente Ehrlichkeit. Nicht brutal und ungeschönt, man konnte sie nett verpacken und ein Schleifchen dran binden. Aber verstecken, weglaufen, lügen, irgendwie war meine Bereitschaft dafür erschöpft. Ich warf Lio einen entschuldigenden Blick zu, den er gut verstand und resigniert mit den Schultern zuckte.

„Sam, Chad kommt als Spender nicht in Frage. Er ist dialysepflichtig. Schon seit vier Jahren."

„Du fällst mir also in den Rücken? Nach all der Zeit? Nach allem, was wir durchgemacht haben? Wie oft habe ich dich gedeckt, Dawson? Wie oft, hab ich dir Zeug aus der Apotheke geholt oder dich verarztet?"

Die Enttäuschung in Chads Gesicht war so entwaffnend, das mir die Worte fehlten und plötzlich wünschte ich mir Riley mit einer Intensität herbei, die mir den Atem verschlug. Sie konnte bissig sein, liebevoll, einfühlsam. Und sie wusste immer, was zu sagen war. Ich stand nur schweigend da wie ein Idiot und sah meinen Freund an.

„So ist das nicht", sprang Lio mir bei. „Aber du bist nun mal dialysepflichtig und du kannst das nicht bis ans Ende Deiner Tage verstecken. Und ja, ich habe ebenfalls immer wieder für Dawson gelogen, um es ihm leichter zu machen. Das hat niemanden verletzt. Niemanden gefährdet. Aber das hier geht zu weit. Du verschweigst eine ernst zu nehmende Krankheit und das nur, um ein Mädchen zu beeindrucken. Da mache ich nicht mehr mit, Chad."

Unsicher sah Chad zwischen den Anwesenden hin und her. Sein Blick gefiel mir gar nicht. Der sah zu sehr danach aus, als ob da was in ihm arbeitete und knapp unter der Oberfläche brodelte.

„Was noch, Chad?", schnappte ich säuerlich. Ich wartete seit zwei Wochen, darauf Riley zu sehen. Sie war seit drei Stunden hier und ich hatte nichts anderes zu Wege gebracht, als ein paar nicht völlig belanglose, aber an zwei Händen abzählbare, Sätze mit zu sprechen. Meine Geduld hier auf dem Rasen zu stehen und Probleme zu wälzen, die nichts, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was ich mit Riley zu klär-

„Ich hab Hepatitis."

Der Satz explodierte in meinem Inneren und die Druckwelle presste mir die Luft aus den Lungen. Er lief hier in aller Seelenruhe herum, ohne uns zu informieren, dass er meine Tochter infizieren könnte. Sam. Mich. Lio. Uns alle!

„Du verdammtes Arschloch!", brüllte ich und stürzte mich auf ihn. Ohne zu zögern verpasste ich ihm einen rechten Haken.

„Dawson, das dulde ich nicht!", brüllte Abraham und packte mich resolut mit beiden Armen um den Oberkörper. Für einen alten Mann war er erstaunlich kräftig. „In meinem Garten verprügelst du niemanden!"

„Und wie ich das tue! Er hat es verdient." Mühevoll kämpfte ich mich frei und packte den überrumpelten Chad am Kragen. „Wie konntest du meine Tochter in Gefahr bringen!"

Rourke, der bisher stoisch zu gesehen hatte, schritt nun ein, genau wie Terence, der meine Hände von Chad löste und ihn aus meiner Reichweite zog.

„Ihr ist nichts passiert", verteidigte sich Chad. „Ich war doch vorsichtig! Selbst Riley..."

Bei der Erwähnung ihres Namens wurde mir eiskalt. „Was ist mit Riley?", knurrte ich. Im gleichen Moment begriff ich, konnte aber nichts tun, weil mich sechs Hände festhielten. Gut möglich, dass ich Chad sonst umgebracht hätte. Er hatte seine Verletzung von ihr verarzten lassen, als er geblutet hatte.

Wieder versuchte ich mich loszureißen.

„Sie hat Handschuhe getragen. Sie war nie in Gefahr."

„Ich hätte sie verlieren können, Chad. Weil du gelogen hast! Lasst mich los. Ich will... lasst mich einfach los. Ich hab keine Lust mehr mir den Scheiß hier zu geben!", fauchte ich wütend.

„Lasst ihn los", bat nun Sam und nahm Izzie sanft vom Rasen hoch. Dann sah sie mich an. „Mir reicht es für einen Tag. Kannst du uns bitte nach Hause fahren?"

Verzweifelt fragte ich mich, was noch alles passieren würde, bevor ich endlich Zeit für Riley hatte. Trotzdem nickte ich ergeben und ging mit ihr ins Büro. Leroy musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. „Die anderen kommen gleich", kündigte ich an und beobachtete, wie Sam ihren Fragebogen ausfüllte und ihre Speichelprobe abgab.

Dann war ich an der Reihe.

„Hast du Riley gesehen?", fragte ich Leroy anschließend.

„Ist draußen. Thomas hat lohnende Motive im Auge. Feuerschalen, Fackeln, was weiß ich", brummte Leroy genervt und hielt sich die Seite.

„Wenn du sie siehst, dann sag ihr doch bitte..." Mit einem Schnaufen, das einem Walross Konkurrenz gemacht hätte, unterbrach er mich.

„Eher unwahrscheinlich. Oder hast du sie heute schon mal in meiner Nähe gesehen? Also ich meine länger als ein tödlicher Blick dauert?"

Irritiert musterte ich Leroy.

„Eigentlich hab ich sie den ganzen Abend überhaupt nicht gesehen", gestand ich. „Weder in deiner Nähe noch sonst wo!"

„Du meine Güte, Grady! Dann wird es aber Zeit. Such dein hübsches Mädchen, bevor sie jemand anders angräbt. Ich meine, die anderen Männer sind auch nicht blind und ein paar von ihnen haben sich sicher schon Mut angetrunken, weißt du? Am Ende trifft sie einen jungen Hupfer in ihrem Alter und schwupp ist sie weg!"

Keine schöne Vorstellung, dennoch wollte ich mich nicht aus der Verantwortung für unsere gemeinsame Tochter stehlen.

„Und wie kommst ihr beiden nach Hause?"

Vorsichtig streichelte ich über Izzies Pausbäckchen und ihr rundes Kinn. Musterte ihre Mutter, deren blaue Augen matt und enttäuscht wirkten. Kleine rote Äderchen zierten das Weiß ihres Augapfels. Ungeweinte Tränen oder nur Erschöpfung, beides war gleich wahrscheinlich.

„Dad kann mich fahren, oder Rourke. Vielleicht auch Lio."

Bevor sie mir weitere Namen aufzählte schlug ich ihr einen anderen Weg vor.

„Oder du fragst Chad? Ich denke ihr solltet..."

Sam legte eine Hand auf meinen Arm. „Ich weiß deine Sorge zu schätzen, Grady. Wir sollten und wir werden. Aber nicht heute. Und jetzt such deine Riley. Ich kümmere mich um unsere Kleine." Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und schob mich Richtung Tür. „Wir sehen uns morgen und holen unseren Freitagabend nach, ja?"

Auch ich gab erst ihr, dann unserer Kleinen einen Kuss. „Gib ihm eine Chance, es zu erklären", mahnte ich nochmal, als ich in den Garten hinaustrat. Aus dem Augenwinkel nahm ich ihr Nicken wahr. Müde rieb ich mir über das Gesicht. Für einen Abend war das wirklich genug Drama gewesen. Ich sehnte mich nach Ruhe und einem Bier an einer der Feuerschalen, einer kurzen Hose, statt des Anzugs. Am besten noch Riley auf meinem Schoß.

Suchend scannte ich den Garten. Die meisten, die noch da waren, kamen aus den umliegenden Dörfern, stellte ich fest. Ob jemand von ihnen unsere Izzie kaufen würde, konnte ich schlecht einschätzen. Sicher wusste ich aber, dass die Presse weg war. Nur Moretti stand noch herum, ein Bier in der Hand und unterhielt sich mit ein paar Leuten. Wenn man ihn in der Dunkelheit stehen sah, konnte man fast vergessen, dass er millionenschwer und der Anzug maßgeschneidert war. Er fügte sich nahtlos ins Bild. Auf einem Motorrad konnte ich ihn mir deswegen immer noch nicht vorstellen.

Mein Blick wanderte weiter und fand die, die ich suchte, schließlich neben Bowbridge sitzend an einer Feuerschale. Seine Anwesenheit hielt die Biker, die noch umherstanden und Bier tranken, von Riley fern. Nicht dass ich den Forografen aus dem Grunde plötzlich ins Herz schließen würde, aber er gab mir zumindest mit seinem Verhalten keinen Grund zum zweiten Male an diesem Tag handgreiflich zu werden.

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