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Nachdem Leroy aufgelegt hatte, fühlte ich mich, als hätte mir jemand Watte in die Ohren gestopft. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag laut in den Ohren, fühlte ihn im Hals und irgendwo zwischen den Schulterblättern pulsieren, so hart schlug mein Herz in der Brust.

Ich wollte das ‚ping' meines Handys nicht hören. Das Vibrieren nicht fühlen, das meine Hände beben ließ. Am liebsten wollte ich meine Augen schließen und sie nie wieder öffnen. Einfach nicht sehen, ob das, was Leroy geschickt hatte, das war, was ich befürchtete.

Taub für alle Geräusche in meiner Umwelt und seltsam gefühllos öffnete ich den Chatverlauf mit Leroy und blickte in das Gesicht meines jüngeren Ichs. Ein Mädchen, keine siebzehn, das schüchtern in die Kamera sah und nichts weiter trug, als zarte weiße Spitzenwäsche. Meine Haare fielen über meine Schulter, verdeckten ein Teil des weißen BHs.

„Wie kannst du es wagen!", flüsterte ich leise. Dabei wusste ich nicht einmal genau, wen ich meinte. Leroy, weil er mich unter Druck setzen wollte, oder Thomas, weil er meine Fotos weitergegeben hatte. Ebenso wenig war ich in der Lage, mich sofort zu entscheiden, wen ich als erstes zur Rede stellen sollte. Ob ich sie zur Rede stellen sollte, geschweige mit welchen Worten. Vor Wut war mein Sprachzentrum wie gelähmt, vor Angst meine Gedanken. Was konnte da schon rauskommen?

Mit klappernden Zähnen und schlotternden Knie saß ich frierend in meiner nassen Badekleidung in einem Korbstuhl und versuchte eine Art Strategie zu entwickeln, wie mit dem Foto umzugehen war. Mir gelang es aber nicht mal, den Schaden einzuschätzen, den das Foto anrichten konnte. Mit starrem Blick saß ich da, beobachtete, wie sich meine Fingerkuppen und Nägel langsam vor Kälte von einem hellen zu einem tiefen violettblau verfärbten. Aus purer Vernunft rappelte ich mich auf und ging duschen. Das heiße Wasser prasselte auf meine Haut bis diese rosig wurde und die rein körperliche Kälte schwand. Gegen den Eisblock in meinem inneren vermochte das Wasser nichts auszurichten und unvermindert klapperten meine Zähne weiter.

In einen flauschigen Hotelbademantel gehüllt trat ich aus dem Bad und eine Dampfwolke folgte mir wie ein Brautschleier bis zum Bett, wo ich unter die Decke kroch. Hungrig, müde, und so ausgebrannt, dass ich mich wie tot fühlte, starrte ich auf mein Handy. Verabscheute den Gedanken, es nur in die Hand zu nehmen. Um das Telefon auszublenden, schloss ich die Augen, fühlte, wie sich im Augenwinkel Tränen formierten und dann langsam über meine Wange rannen.

Ich hatte überhaupt keinen Plan, was ich nun anfangen sollte. Mit welcher Begründung sollte ich das Abschlusstraining schwänzen? Wie sollte ich den Flug nach Madrid am Sonntagnachmittag erwischen und woher spontan Flüge nach Alabama und zurück bekommen? Wenn ich meine ganze Teilnahme an dem Wettbewerb ohne triftigen Grund absagte, war meine Karriere am Arsch. Wenn Lee das Foto veröffentlichte, dann vermutlich genauso. Coach Morgan war an die sechzig und erzkonservativ. Er würde mich sofort aus dem Kader streichen.

Eine schwere Krankheit wäre die einzige gangbare Lösung, die mir gerade einfiel. Besser ich wäre nicht duschen gegangen. Meine Option auf eine Lungenentzündung hatte ich dank des heißen Wassers leichtfertig verspielt.

Wenn ich wenigstens jemanden um Rat fragen könnte. Der einzige, der außer Thomas und Leroy, denen ich gerade keinen Steinwurf weit traute, von den Fotos wusste, war Dawson. Der Gedanke an ihn ließ meine Tränen schneller rinnen. Ich saß bis zum Hals in der Scheiße, dafür, dass er das verblödete Motorrad nicht einmal mehr fuhr. Das war doch wirklich zum Heulen. Mehr als alles andere sogar. All dieser Stress war für nichts.

Erschöpft vom Weinen setzte ich mich schließlich auf. Meine Nase war komplett verstopft und ich bekam langsam Atemnot. Von der ganzen Aufregung war mir obendrein schlecht. Mit schweren Schritten tappte ich zum Fenster und ließ frische Luft herein. Das hatte schon mal geholfen. Damals als Dawson mich getröstet hatte. Nach dem Schwimmunfall. Ich wünschte mir, er wäre jetzt hier und ich könnte mich in der Sicherheit seiner starken Arme wieder fangen und beruhigen, wie nach Leroys Unfall.

Während ich unbewegt auf den Außenpool starrte, durchdachte ich noch einmal meine Lage und kam zu einem Ergebnis, für das ich mich nicht bereit fühlte: egal, wofür ich mich entschied, würden Dawson und ich früher oder später über die Fotos sprechen müssen. Denn wenn ich bei der Präsentation erschien, würde er Fragen stellen. Würden die Fotos in der Öffentlichkeit auftauchen, naja, würde Dawson Fragen stellen.

Ich schluckte gegen das eklige Gefühl im Hals an, als meine Nase einen Schwall Rotze meinen Schlund hinunter schickte. Wir wissen wo wir stehen.

Von wegen. Mit fahrigen Bewegungen strich ich meine feuchten Haare nach hinten. Meine Finger zitterten, bei dem Gedanken, wie unabwendbar es war, mit Dawson über die Fotos zu sprechen. Vielleicht früher als später? Vielleicht jetzt gleich? Dann hatte ich es hinter mir. Schlafen konnte ich mit der Guillotine über meinem Nacken doch sowieso nicht.

Hasenfüßig bewegte ich mich zum Bett und griff in Zeitlupe nach meinem Handy. Es war schon viertel nach elf. Du meine Güte. Keine Ahnung, wo die Zeit geblieben war. Ob Dawson überhaupt noch wach war? Vielleicht könnte ich morgen... sofort schämte ich mich für den Gedanken, mich wieder feige wegzuducken.

„Bist du wach? Können wir kurz reden?" Sekundenlang schwebte mein Daumen über dem Senden-Button wie der Finger am Abzug einer Waffe und ich las meinen kurzen Text noch einmal durch. Dann senkte ich meinen Daumen und wartete bangen Herzens auf die Antwort, die in einem Klingeln meines Telefons wenige Sekunden später bestand.

Mein Herz machte einen Satz. Panik mischte sich mit Freude, als ich den Anruf annahm.

„Hey", begrüßte mich Dawson. „Schön, dass du geschrieben hast. Hund und ich beraten seit schon eine ganze Weile, ob wir dich anrufen sollen, oder ob das zu aufdringlich ist."

Nur zu gut konnte ich mir ausmalen, wie Dawson am Fuße der Holztreppe saß und auf den ruhigen, dunklen Garten blickte, Hund dabei an sein Bein gekuschelt. In meiner Phantasie kraulte Dawson gerade das hellbraune, struppige Fell hinter den Schlappohren. Kurz lachte ich auf, bei dem Gedanken, er würde wahrhaftig mit Hund sprechen, doch das Geräusch ging dank meiner verstopften Nase in einen erstickten Laut über, den ich mit einer hastigen Frage überspielte.

„Warum wollte Hund mich den sprechen?", erkundigte ich mich.

„Oh, er wollte dir sagen, dass er sich freut, dich bald wiederzusehen. Er hofft, du könntest ihn noch mal duschen."

Wie ein Schwamm sog ich die oberflächliche Plänkelei in mich auf. Gleichzeitig war natürlich klar, dass Dawson nicht von Hund redete, sondern davon, dass er sich freute. Sein Ton sprach Bände. Bände von Zuneigung, Vorfreude und ein paar Kapiteln Aufregung. Allein in seiner Stimme konnte ich lesen wie in einem Buch. Ich musste ihn nicht einmal sehen.

Meine Lust, über die Fotos zu sprechen schrumpfte auf die Größe einer Erbse.

„Und wolltest du auch etwas, oder ging es nur um Hunds Reinlichkeitsbedürfnis?" Auf meinen Flirtversuch reagierte Dawson überraschend ernst. Ob ich nicht den richtigen Ton getroffen hatte, oder er zu angespannt war, vermochte ich erst nach seiner Antwort einzuordnen.

„Nein, Riley, es ging eher um mich. Ich wollte dir sagen, dass ich mich verdammt freue, weil du nun doch kommst. Und da wollte ich wissen, ob du wirklich im Hotel schlafen möchtest. Vom Alter, also es wäre kein Problem mehr, wenn du bei mir übernachtest. Wir könnten am Abend noch fernsehen oder reden. Oder... ach, keine Ahnung. Falls du willst. Wenn es dir unangenehm ist, lassen wir es. Ich will mich dir nicht aufdrängen oder so. Ich dachte nur, wenn wir uns so lange nicht sehen, es wäre vielleicht... schön. Ich meine Zeit miteinander zu verbringen. Also, ja..."

Sein Herumgedruckse wurde langsam zu einem Gestotter und ich beschloss, den armen Kerl von seinem Elend zu erlösen.

„Ich würde gerne bei dir schlafen."

Ein Lächeln huschte über mein vom Weinen verquollenes Gesicht, als ich hörte, wie er aufatmete und dann flüsterte: „Sie hat ja gesagt, Kumpel! Gut, dass wir sie gefragt haben."

Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, wie Hund den Kopf schräg legte und die Ohren verdrehte, während Dawson leises auf ihn einredete. Vermutlich verstand der arme Kerl kein Wort von dem Gequatsche. Ich meine, er war ein Hund nicht wahr? Er brauchte klare Befehle, hatte ich gelernt!

„Wann kommst du denn an?", riss Dawson mich aus der Erinnerung an Hunds Schlammbad im Blumenbeet.

„Ich weiß es noch nicht genau. Morgen muss ich klären, ob ich das Abschlusstraining sausen lassen kann. Danach kümmere ich mich um die Flüge", behauptete ich ganz dreist gerade so, als hätte ich tatsächlich einen Plan. Dem war nur nicht so. Ich hatte nach wie vor nicht mal den Hauch einer Ahnung, wie ich mein Fernbleiben vom Training erklären sollte.

„Aber Riley, dein Training ist doch gerade vor einem Wettkampf ungeheuer wichtig. Warum willst du das denn sausen lassen?"

Den Moment der Momente zu sagen: „weil Lee mich erpresst", ließ ich ungenutzt verstreichen in dem vollen Bewusstsein, mich später deswegen zu ärgern. Stattdessen antwortete ich ziemlich patzig: „Ich weiß, wie man schwimmt, Dawson!"

Etwas eingeschnappt kam seine Antwort durch das Telefon: „Schon gut. Ich will mich nicht in deine Angelegenheiten mischen. Du weißt hoffentlich, was du tust."

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