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Einen Augenblick hörte ich nur Dawsons stockenden Atem. „Ich glaube ich mag es genauso wenig, wenn er dich anfasst", verkündete Dawson überraschend. „Ich nehme aber mal an, das gehört irgendwie zu eurem Job, oder? Leroy hat das doch auch gemacht?"
Kurz überlegte ich, wie ich Dawson den kleinen feinen Unterschied klar machen sollte. Denn der war nicht unerheblich.
„Bei Lee war das was anderes. Ihn kannte ich schon seit den Fotos für Moretti. Und wir hatten mehr Zeit, uns vorher miteinander vertraut zu machen und an die Situation heranzutasten. Dass Stanley spontan für Leroy einspringen konnte, ist riesen Glück. Aber er hat einen supervollen Terminkalender. Da kann man halt nicht auf die Befindlichkeiten einer unerfahrenen kleinen Schwimmerin Rücksicht nehmen."
Dass Dawson sich aufmerksam meine Sorgen anhörte, war unglaublich beruhigend und endlich fiel ein Teil der Anspannung, die mich seit dem Morgen begleitete, von mir ab.
„Wenn man Angst vor Vorträgen hat, dann soll man sich die Leute doch in Unterwäsche vorstellen. Vielleicht hilft dir das ein bisschen?", schlug er vor und amüsiert lachte ich. „Ne, ich glaub, dann würde ich erst recht im Erdboden versinken!"
„Dann eben was anderes", schlug er nachdenklich vor. Er schien ehrlich bemüht mir zu helfen.
„Stell dir vor, er wäre jemand, den du kennst. Bei dem es dich nicht stört. Oder bei dem du es vielleicht mögen würdest, wenn er dir näherkommt. Vielleicht Leroy. Oder Justin. Oder Terence."
„Ich könnte einfach an dich denken", schlug ich etwas unbedacht vor. Mein Gehirn war bestimmt unterzuckert, wenn mir diese Idee ungefiltert herausrutschte.
„Magst du es denn noch immer, wenn ich dich berühre?"
Ich dachte an den Moment, als Leroy den Unfall hatte und Dawson mich in den Arm genommen hatte. An die Sicherheit, die es mir vermittelt hatte, überstehen zu können, was immer da kam und dann glitten meine Gedanken rastlos weiter, zu der Nacht danach. Wie Dawson mich getröstet hatte, bevor wir gestritten hatten. Dann landete ich zwangsläufig auf der Straße vor der Pension. Dem Abend, an dem er mich geküsst hatte und wie sehr ich mir gewünscht hatte, er würde es noch einmal tun. Jäh flammte eine schmerzhafte Sehnsucht in mir auf und plötzlich kam es mir im Zimmer reichlich stickig vor und ziemlich warm.
„Ja", gestand ich ihm leise. „Ich mag es."
Einen Moment war es ganz still, eher Dawson sich leise räusperte. Trotzdem klang seine Stimme noch immer ein bisschen belegt, als er mir antwortete: „Dann denk morgen an mich, Riley. Vielleicht hilft es dir wenigstens ein bisschen, wenn du weißt, dass ich sehr gerne mit Stanley tauschen würde."
Mir wurde noch wärmer. Mit der Klimaanlage stimmte doch was nicht. Ich hatte 25 Grad eingestellt, weil ich es hasste zu frieren. Vielleicht hatte ich aber aus versehen 35 gewählt?
„Wirklich?", fragte ich und versuchte meine Hitzewallungen unter Kontrolle zu bekommen und nicht zu atemlos zu klingen.
„Natürlich. Ich könnte mir gerade nichts schöneres vorstellen, als dich in den Arm zu nehmen, deine warme weiche Haut unter meinen Fingern zu fühlen, wenn ich einschlafe."
Schlagartig hatte ich einen riesen Kloß im Hals und egal wie oft ich schluckte, er wollte nicht verschwinden. Die Frage, die ich stellen wollte, steckte quer in meinem Hals und der Satz „Vermisst du mich manchmal?", kam nur sehr stockend heraus.
„Nein, Riley." Ich zuckte zusammen bei der Antwort die Dawson mir gab. Da hatte ich blöde Kuh mich offenbar zu weit vorgewagt und mit einem heftigen Schlag hielt mich Dawsons Elektrozaun wieder emotional auf Abstand.
„Nicht manchmal. Immer."
Erleichterung erfasste mich und mir wurde schwindelig. Das war einfach zu viel Achterbahn für einen Tag mit zu viel Sonne am Strand. Für einen Tag ohne Essen.
„Du fehlst mir jede Minute. Bei jedem Atemzug", ergänzte er noch und ich atmete zittrig an dem Knödel in meinem Hals vorbei.
Ohne dass ich mich hätte stoppen können, tropften Tränen auf meine nackten Oberschenkel und leise schluchzte ich.
„Wein doch nicht, Riley. Bitte. Ich wollte nicht... warum kann ich eigentlich nichts richtig machen?", fluchte er verzweifelt. „Es tut mir leid, Riley. Ehrlich. Ich hätte nicht davon anfangen sollen."
Mit dem Handballen wischte ich meine Glückstränen aus den Augen und verrieb die nassen Tropfen auf meinen Beinen. Dabei schniefte ich ganz leise. „Ist schon wieder gut. Es war nur... weil... ich dich vermisse... und..." Wieder stieg ein blödes Schluchzen in mir auf, das ich nicht unterdrücken konnte.
„Und?", fragte Dawson sanft. „Was wolltest du noch sagen?"
„Ich weiß nicht, wann wir uns überhaupt wiedersehen können", stieß ich traurig hervor.
„Nach der Präsentation habe ich zwei Wochen Urlaub. Ich kann hinkommen, wo immer du zu dem Zeitpunkt bist, Riley." Das klang wirklich schön, nur hatte die Sache einen großen Haken.
„Auch nach Europa?" Wieder begann ich zu weinen.
„Wie? Europa?" Meine Eröffnung hatte ihn eiskalt erwischt. Wie mir schien, hatte Lio sich an unsere Abmachung gehalten, Dawson keine Details aus meinem Leben zu berichten.
„Mein erster internationaler Wettkampf in Europa", presste ich hervor.
„Fuck... also, ich weiß ehrlich nicht, was ich sagen soll. Das ist natürlich großartig. Ich freu mich unglaublich für dich!" Weniger euphorisch setzte er dann nach: „Nur ich kann mir einen Flug nach Europa nicht leisten, fürchte ich. Ich hab ein Haus gekauft, weißt du und ich bin gerade... wirklich scheißknapp bei Kasse."
„Ich weiß, Dawson, deswegen... weine ich doch."
„Hm, aber das musst du jetzt lassen. Dein A-Promi wird nicht begeistert sein, wenn du morgen rot verweinte Augen hast. Und jetzt ist doch alles gut, oder? Wir wissen, wo wir stehen, Riley. Alles weitere findet sich schon."
Wir wissen wo wir stehen.
Aber wussten wir das wirklich? Ich für meinen Teil war verwirrter denn je. Dawson war ein Oxymoron für mich. Ein wandelnder Widerspruch in sich und ich hatte keine Ahnung, wie ich seine Aussagen deuten sollte. Wie sollte sich bitte „alles weitere finden"? Er saß in Alabama. Ich würde morgen zurück nach Kalifornien fliegen, mich zwei Wochen auf den Wettkampf vorbereiten und dann würde ich nach Europa fliegen und erst zurückkommen, wenn das Semester wieder anfing. Was bitte fand sich denn da? Nichts fand sich!
Übellaunig brachte ich das Fotoshooting hinter mich und stellte hinterher fest, dass Leroy recht behielt. Es war wirklich besser gelaufen als am Vortag. Nicht, weil mir Stanley plötzlich sympathisch war, oder ich mich an Dawsons Tipp hielt. Eher war es dem Umstand zu verdanken, dass mein Gehirn sich mit der Frage beschäftigte, was sich wie finden könnte und ich dabei wie ein zahmes Lamm alles über mich ergehen ließ, was Thomas sich einbildete.
Am Ende des Tages waren er und Stanley zufrieden und ich tauchte zwischen den Wellen und genoss es, endlich meine Frisur und die Nägel ruinieren zu dürfen. Thomas und Stanley brachen derweil bereits gemeinsam mit Daisy zum Flughafen auf. Lediglich ich blieb zurück, weil Lee und ich geplant hatten, einen ruhigen Abschlussabend hier zu verbringen.
Statt mit Leroy Cocktails zu schlürfen, die er bestellte und die wir dann heimlich am Pool teilten, hielt ich mich an das, was ich am besten konnte. Ich schwamm Bahn um Bahn im hoteleigenen Wellnessbereich, bis ein Angestellter mich fragte, ob ich das noch lange zu tun gedachte, denn erst wenn ich fertig sei, könne er Feierabend machen.
Schmunzelnd stieg ich aus dem Becken, wünschte ihm einen guten Abend und machte mich auf den Rückweg zum Zimmer. Panik erfasste mich augenblicklich, als ich auf meinem Handy vier verpasste Anrufe von Leroy sah. Er rief nie wiederholt an. Immer nur einmal, dann schrieb er, worum es ging und wartete auf meine Rückmeldung. Der Schluss, dass etwas mit Laila war, lag nahe und ein ungutes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Mit flatternden Fingern rief ich Leroy zurück. In der Zeit, in der ich wartete, dass er ans Telefon ging, schwor ich, bei allem was mir heilig war, mein Handy nie wieder auf dem Zimmer zu lassen und knabberte an meinem Daumennagel. Der Geschmack nach Chlorwasser breitete sich in meinem Mund aus, aber ich beachtete ihn gar nicht. Der Geschmack war von hunderten Litern Wasser, die ich in meinem Leben schon geschluckt hatte, viel zu vertraut.
„Was ist los?", platzte ich raus, als ich endlich eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm.
„Du bist einfach die beste!" Leroy klang zu meinem Unverständnis nach Euphorie nicht nach Drama.
„Okay, wenn du es sagst. Und wie komm ich in deine Hall of Fame?"
„Weil du Dawson überzeugt hast! Diego von „Be the match" hat mich gerade informiert, dass sie in Alabama eine Aktion für Laila machen und den Terminflyer hat er mir soeben geschickt! Ich bin unglaublich froh, dass es doch geklappt hat! Mit Dawson hab ich gerade telefoniert. Er bucht für uns beide ein Hotelzimmer. Das wird total suuuper! Ich hab dieses Mal ein gutes Gefühl dabei."
Nur ungern bremste ich den leicht überdrehten Leroy.
„Ich kann an dem Wochenende nicht, Leroy. Ich fliege zum Wettkampf."
„Nein! Riley. Bitte, das kannst du mir nicht antun! Ich schaff es gerade mal zum Pissen aufs Klo. Wie soll ich da alleine nach Alabama fliegen? Du musst mitkommen!", jammerte Leroy.
Beschwichtigend erinnerte ich ihn daran, dass die Welt sich nötigenfalls ohne ihn drehen konnte.
„Du musst nicht nach Alabama. Die kriegen das mit der Typisierung ohne Dich hin. Und für die Präsentation braucht dich auch keiner. Mach deine Physiotherapie, sieh fern oder strick eine Mütze. Werd erstmal wieder richtig fit."
„Mütze stricken? Dein Ernst, Riley?", fragte Leroy. „Spinnst du völlig? Meine Schwester braucht einen Spender und zufällig bin ich ein Publikumsmagnet. Wenn ich hingehe und das vorher ankündige, kommen doppelt so viele Leute. Ich hab jeden Grund da aufzutauchen. Du übrigens auch."
„Lee ich hab Freitag..."
„Das interessiert mich einen Scheiß, was du hast. Du bist mein Moretti-Girl. Du schuldest es mir. Ich bin nur in dem jämmerlichen Zustand, weil ich mich von dir habe belabern lassen, an Dawsons Stelle zu fahren."
Unbeirrt von der Tirade und dem aggressiven Unterton, den die Stimme des Rennfahrers angenommen hatte, fuhr ich fort: „...Abschlusstraining und fliege Sonntagmorgen nach Madrid. Die Tickets sind schon gebucht. Es geht nicht. Das wusstest du von Anfang an!"
Mich dafür zu rechtfertigen, dass ich arbeitete, ärgerte mich. Ich flog nicht nach Spanien, um Urlaub zu machen und in der Sonne zu fläzen, sondern um mit dem Aufdruck der Moretti Gruppe auf dem Rücken einen Sieg zu holen. Keine Ahnung, was die Spinnerei jetzt plötzlich sollte. Vielleicht war er, als er im Rollstuhl unterwegs war, mit dem Kopf gegen einen tiefhängenden Ast geknallt.
„Die Dinge liegen jetzt aber anders, Riley. Meine Schwester wird sterben, wenn wir nichts unternehmen", sagte er mit einer Härte in der Stimme, die mir neu war. „Du wirst Werbung für die Veranstaltung machen und Du wirst mich begleiten, oder..." Unverhohlen drang eine nicht einmal subtil verpackte Drohung aus dem Hörer. Plötzlich war da ein ganz ungutes Gefühl in der Gegend meines Körpers, wo ich nach dem Schwimmen noch Hunger verspürt hatte. Davon merkte ich nun nichts mehr. Da war nur ein besorgtes Rumoren.
„Oder was?", fragte ich souveräner, als ich mich fühlte.
„Schau einfach mal auf dein Handy, Baby."
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