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Mit einem Täschchen unter dem Arm, in das nicht einmal mein Bikinihöschen gepasst hätte, betrat ich schließlich die Lobby. Dort sah ich mich nach Thomas um, entdeckte ihn jedoch nirgendwo. Dafür aber Stanley Hershaw. Er hatte sich lässig in einen der Sessel gesetzt, sein rechter Unterschenkel ruhte auf seinem linken Knie und sein Ellbogen lag entspannt auf der Lehne neben ihm. Er wirkte nicht, als säße er in einem Fünf-Sterne-Hotel. Eher als befänden wir uns in seinem Wohnzimmer. Mit klappernden Absätzen durchquerte ich die Lobby und als sich meine Schritte näherten, sah er auf. „Ah, Riley", sagte er, als seien wir alte Bekannte schon seit der Schulzeit oder länger. Er sah über meine Schulter. „Wo bleibt denn Thomas?"
„Er müsste jeden Augenblick kommen. Daisy wollte sich noch umziehen." Er nickte und sah wieder auf sein Handy. Den Umstand nutzte ich sofort, um ihn unauffällig zu mustern. Ihn im Ganzen, aber vor allem um seine Tätowierungen zu beäugen.
„Soll ich das Hemd ausziehen?", erkundigte er sich ganz beiläufig und ertappt biss ich mir auf die Lippen. „Entschuldigung", murmelte ich.
Er hob einen Mundwinkel. „Kein Problem. Wenn man nicht angestarrt werden will, sollte man sich nicht tätowieren lassen."
Kurz blitzte das Bild einer kurvenreichen Frau und eines Drachen vor meinem inneren Auge auf. „Möglicherweise", antwortete ich etwas lahm. Denn mit der Erinnerung an Sam war die an Dawson verbunden, auf dessen Anruf ich noch immer wartete.
Als Thomas auftauchte, Daisy -in elegante graue Seide gehüllt- hatte sich bei ihm untergehakt, trat dieser Gedanke in den Hintergrund. Stanley bot mir seinen Arm an und gemeinsam betraten wir das beängstigend schicke Restaurant.
Wenn ich ehrlich war, hatten mir Daisy und Thomas ein wenig Angst vor Stanley gemacht. Ich hatte ihn mir ein wenig wie den Bad Boy der Modelszene vorgestellt. Schlussendlich stellte ich aber fest, dass er Leroy nicht unähnlich war. Nicht nur wegen der Tattoos, die vermutlich der Grund waren, warum er als Ersatz für Leroy herhalten sollte. Allerdings merkte man Stanley an, dass er mit einem Silberlöffel im Mund geboren worden war und nun den Luxus eines Goldlöffels in vollen Zügen genoss. Angefangen von den Extrawürsten, was unser Fünf-Gänge-Menü betraf bis hin zu dem Umstand, dass er drei Flaschen Wein ablehnte, bevor er die vierte, die unser Ober brachte, annahm. Ansonsten legte er tadellose Manieren an den Tag, was Esskultur und Tischgespräch betraf.
Als wir später in die Bar wechselten, war es, als hätte man einen Schalter umgelegt: das Kultivierte fiel innerhalb kürzester Zeit von Stanley ab, die Gespräche wurden zotiger und nicht nur einmal warf ich Daisy einen hilfesuchenden Blick zu. Genau wie ich, verdrehte sie ab und zu die Augen. Als sie sich zurückzog, tat ich es ihr gleich und verabschiedete mich mit dem Hinweis, morgen fit sein zu wollen.
Überraschend erhob sich Stanley ebenfalls. „Da wir beide auf der gleichen Seite der Kamera stehen werden, sollte ich wohl langsam meinen Schönheitsschlaf antreten."
„Da es mein Job ist, euch gut aussehen zu lassen..." Den Rest ließ Thomas in der Luft hängen und stand ebenfalls auf.
„Ist schon eine Ehre mit ihnen zusammenzuarbeiten", sagte Stanley auf dem Weg nach draußen zu Thomas. „Dieses junge Gemüse hier weiß das sicher gar nicht zu schätzen." Er zwinkerte mir zu und verabschiedete sich dann mit einem „Gute Nacht allerseits!"
Daisy und Thomas verließen den Aufzug eine Etage vor mir und als sich die Tür hinter ihnen schloss, holte ich sofort mein Handy heraus. Enttäuschung machte sich breit. Dawson hatte sich nicht gemeldet.
Vorsichtig schälte ich mich aus dem Kleid und hängte es in den Schrank, dann schminkte ich mich ab, suchte mir Kleidung mit Wohlfühlfaktor und ließ mich auf das Bett fallen. Schon komisch. Im Grunde hatte ich den ganzen Tag nichts gemacht. Trotzdem war ich müde. Vom Atmen. Weil der Tag lang gewesen war und die letzte Nacht kurz. Zu aufgekratzt, um nach dem Telefonat mit Dawson gleich einzuschlafen, hatte ich noch ewig an die Decke gestarrt, mir ausgemalt, wie unser heutiges Gespräch verlaufen könnte. Wie dumm von mir anzunehmen, er würde sich melden. Traurig drehte ich mich auf die Seite und löschte die Lampe auf dem Nachttischchen neben mir. Dann griff ich nach meinem Handy, kontrollierte ein letztes Mal, dass ich keinen Anruf und keine Nachricht verpasst hatte, bevor ich die Augen schloss. Konzentriert auf meine Atmung, wie Coach Henderson es mir für die Nächte vor Wettkämpfen beigebracht hatte, gelang es mir trotz des etwas trostlosen Gefühls einzunicken. Was genau mich in dieser Nacht weckte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht ein Geräusch vor meiner Tür auf dem Gang, oder im angrenzenden Zimmer. Müde tastete ich nach dem Zahnputzbecher mit Wasser auf dem Nachtkasten und checkte auf dem Handy die Uhrzeit: halb drei. Dabei fiel mir das kleine Nachrichtensymbol auf und von jetzt auf gleich war ich hellwach. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Und wirklich: Es war Dawson, der geschrieben hatte. Kurz nach Mitternacht.
„Tut mir leid, Riley, ich hab die Zeit verpasst. Ruf mich bitte an, sobald du das hier liest."
Ein Lächeln zupfte an meinen Lippen und der winzig kleine wirklich boshafte Teil von mir sprang auf und ab und wedelte mit den Armen, um auf die Möglichkeit aufmerksam zu machen, dass ich genau das tun könnte. Ihn anrufen. Nachts um halb drei. Doch stattdessen schrieb ich zurück: „Das willst du nicht wirklich, oder? xD"
Er hatte nur die Zeit verpasst Diesmal musste ich keine Atemzüge zählen, um einzuschlafen.
Um halb sechs, als ich noch selig schlief, ging von mir gänzlich unbemerkt eine Nachricht ein.
„Ich hätte lieber mit dir gesprochen, als nur von dir zu träumen."
„Okay, das ist jetzt schon strange, Dawson", murmelte ich. Verwirrt fuhr ich mir durch die Haare und versuchte mir einen Reim auf seine Nachricht zu machen.
„Flirtest du etwa mit mir?", schrieb ich ihm zurück und ging mich im Bad fertig machen.
„Schon möglich", las ich, als ich kurz darauf mein Handy und die Zimmerkarte in meine Handtasche packen wollte. „Stört es dich?"
Was sollte man auf so eine Frage antworten?
Ich würde alles tun, um mich mit dir zu versöhnen.
Ich wollte dich nicht zurückweisen.
Nachdenklich kaute ich auf der Innenseite meiner Wange. Störte es mich? Nicht im eigentlichen Sinne. Es verwirrte mich eher.
Und genau das schrieb ich Dawson, bevor ich eilig das Zimmer verließ. Daisy wartete im Foyer auf mich, Thomas war bereits vor einiger Zeit mit dem Team aufgebrochen, um alles vorzubereiten. Ich folgte Daisy ins Auto und fügte mich in das Unvermeidliche. Nämlich für den Rest des Tages zu lächeln und gut auszusehen.
Stanley erwies sich vor der Kamera als umgänglich und maximal professionell. Bei ihm passte jedes Lächeln, jeder Blick und jede Pose. Er war der souveräne A-Promi durch und durch und ich kam mir neben ihm vor wie die blutige Anfängerin, die ich war. Öfter als einmal pflaumte Thomas mich an, weil ihm dieses nicht passte oder jenes.
Am Nachmittag lagen meine Nerven blank und mir stand das Schlimmste noch bevor: die Bademode. Dabei war nun nicht das Problem, dass ich mich davor fürchtete, mich nahezu unbekleidet vor der Kamera zu zeigen, sondern, dass man dabei noch mehr falsch machen konnte. Außerdem war es mir bereits jetzt schon unangenehm zu wissen, dass Stanley mich berühren würde. Die Aufnahmen sollten im Grunde so aussehen wie im Vorjahr: ein Pärchen am Strand. Da war Touch-Fühlung nicht zu vermeiden. Und da sprachen wir nicht von Händchen halten. Er würde mich im Arm halten. Haut an Haut. Und dabei sollte ich nicht aussehen wie ein Kaninchen vor der Schlange? Er war ein Fremder! Ein A-Promi und ich nicht mal ein C. Ich hatte Hemmungen. Ich hatte Angst vor Stanleys souveräner Art. Meine Nerven lagen blank.
Stanleys Arme und Pfoten lagen während der nächsten Stunden an hundert Stellen, an die sie nicht gehörten und im selben Umfang kassierte ich Anschiss von Thomas. Ihm passte gar nichts. Mir auch nicht. Der Einzige, der nicht eine Sekunde die Geduld verlor, war Stanley, während ich mich für meine Unfähigkeit, mit den Berührungen eines Fremden klar zu kommen, schämte. Er legte seine Hände an Körperstellen, die außer Dawson und Leroy noch niemand berührt hatte. Und die beiden hatte ich nicht nur knappe vierundzwanzig Stunden gekannt.
„Morgen klappt das schon besser. Wirst sehen", tröstete mich Leroy, als ich ihm schrieb. Vorstellen konnte ich mir das nicht. Warum sollte es morgen weniger seltsam sein, wenn fremde Hände um meine Taille lagen? Oder Stanley hinter mir stand, sein Unterarm zwischen meinen Brüsten, und seine Hand, genau wie sein Kinn, auf meiner Schulter lag. Das war einfach komisch. Daran gab es nichts zu rütteln.
Nach der Dusche bestellte ich mir mein Essen aufs Zimmer. Mag sein, dass Stanley es toll fand, mit Thomas zusammenzuarbeiten. Mein Bedarf an dem überkritischen Fotografen war absolut gedeckt. Außerdem hatte ich keine Lust mich zum tausend und zweiten Mal an diesem Tag umzuziehen und zu lächeln. Ja, und ein beachtlicher Teil von mir hoffte, Dawson würde sich melden und das wollte ich um keinen Preis verpassen.
Als das Telefon dann tatsächlich klingelte, klebten meine Finger und ich hatte den Mund voll. Großartig. Lief super!
„Hey", begrüßte ich Dawson schmatzend.
„Hey", gab er beinahe schüchtern zurück. Mühsam schluckte ich die noch viel zu großen Stücke meiner Mango halb gekaut runter.
Leise lachte Dawson.
„Kleiner Hunger zwischendurch?", erkundigte er sich, weil er die Kau- und Schluckgeräusche deutlich hörte.
„Meine erste Mahlzeit heute", gab ich leidend zurück.
„Es ist halb acht, Riley!" Der leichte Ton war einem deutlichen Vorwurf gewichen. „Du musst halb verhungert sein! Dein Körper braucht doch Nahrung!"
„Wem sagst du das! Das Loch in meinem Bauch hatte die Größe eines kleinen Mondkraters", jammerte ich. „Stunden ohne Essen, Dawson. Das ist für mich der pure Alptraum."
„Kann ich mir ungefähr vorstellen." Ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Aber sonst lief alles gut?"
Mit der Antwort zögerte ich. Keine Ahnung, wie er zu meinem lukrativen Nebenjob stand. In ein Wespennest stechen, erachtete ich nicht für klug. Ob es mir gelingen könnte, ihn zu belügen, war ich mir auf der anderen Seite nicht sicher. Er kam mir immer wieder auf die Schliche, wenn ich es versuchte.
„Nein, gar nicht. Ich bin mit dem neuen Kollegen nicht richtig warm geworden. Ich mag es nicht, wenn er mir zu nahekommt. Und schon gar nicht, wenn er mich anfasst."
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