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In Gedanken durchlebte ich das im Telefonat Gesagte noch einmal, spürte den feinen Zwischentönen nach. Gut möglich, dass ich mir diese einbildete, in seine Worte zu viel hineininterpretierte, weil ich mir eine bestimmte Bedeutung so sehr wünschte, dass ich für alle anderen Schlüsse blind war.

„Du siehst aber mal richtig toll aus, Riley!", begrüßte mich Thomas, als ich zum Frühstück erschien, und knickte eine Ecke seiner Zeitung herunter wie ein Hasenohr. Eingehend betrachtete er mich. „Daisy wird dich hassen", seufzte er dann theatralisch. „Und Stanley erst recht. Er nimmt das mit den Aufnahmen nicht so sportlich wie Leroy. Er ist professionell durch und durch und kommt extra aus England, um Lee zu ersetzen."

„Dir auch einen guten Morgen", gab ich bissig zurück. „Das ist alles nichts, was bis morgen nicht verschwunden ist. Du weißt, ich schlafe die erste Nacht im Hotel immer beschissen."
Thomas nickte. „Mir ist das klar, aber Stanley nicht. Wenn er ablehnt, die Aufnahmen mit Dir zu machen, weil du wie der Tod aussiehst, dann haben wir ein dickes Problem."

Wie bitte? Mir sowas an den Kopf zu werfen ging ja mal überhaupt nicht!
„Mach dir nicht ins Hemd. Wenn er so professionell ist, wie du behauptest, dann hat er sich die Kataloge der letzten Saison angesehen. Er weiß, wie ich aussehe. Der reist doch nicht zu einem Shooting an, ohne zu wissen, mit wem er abgelichtet wird."
„Klugscheißer", knurrte Thomas und verschwand wieder hinter seiner Zeitung. Ich widmete mich der Frühstückskarte und gab dann meine Bestellung auf. Die wiederum sorgte dafür, dass Thomas erneut Blickkontakt über den Rand der Zeitung aufbaute. „Dein Ernst jetzt? Speck? Eier? Und Pancakes? Wo steckst du das denn alles hin?"

Ich legte den Kopf schief, als müsste ich darüber erst einmal nachdenken. „Wahrscheinlich bin ich noch immer im Wachstum?", schlug ich dann vor.

„Dann hoffen wir doch mal für Deine Karriere, dass die richtigen Stellen wachsen. Das würde mich als dein Manager zu einem sehr reichen Mann machen", stichelte Thomas süffisant und einer Eingebung folgend, knüllte ich meine Serviette zusammen und warf sie nach ihm. Gekonnt wehrte er das Geschoss mit der Zeitung ab.

Seine dunklen Augen funkelten belustigt. „Ts, was für ein schlechtes Benehmen. Immer diese Models!"

Als ich meinen Kaffee getrunken hatte, faltete er die Zeitung und legte sie zur Seite. „Können wir den Zeitplan durchgehen?"

„Welchen Plan? Den, der beschreibt, wie viele Stunden ich in einem bescheuerten Drehstuhl im Beautysalon sitze?", brummte ich und handelte mir einen kritischen Blick ein.

„Ich denke, den Teil kannst du einfach über dich ergehen lassen. Daisy begleitet dich wie immer und ihr vertraue ich zu einhundert Prozent." Er warf mir einen mahnenden Blick zu. „Eigentlich rede ich von heute Abend, Riley. Wir gehen mit Stanley essen und ich will, dass du dich von deiner besten Seite zeigst. Das sage ich dir jetzt nicht als dein Freund, sondern als dein Agent. Der Typ hat ein eigenes Modelabel. Wenn wir es klug anstellen, dann bist du das Gesicht seiner nächsten Kollektion und wir zwei Hübschen fliegen nach Mailand." Thomas Augen begannen zu leuchten und mir wurde flau.

„Zur Mailänder Fashion-Week? Auf keinen Fall, Thomas. Für solchen Mist hab ich echt keine Zeit! Ich bin Schwimmerin. Ich will nach Olympia und nicht nach Italien!", protestierte ich und sein strahlendes Gesicht löste sich auf wie ein Iglu in der Sonne.

„Das wäre die Gelegenheit, Riley. Du könntest dir eine goldene Nase verdienen", behauptete Thomas.

„Du weißt, dass ich eine verdammte olympische Medaille will. Für Laufsteg ist da neben dem Studium einfach keine Zeit, außer die Sommerspiele sind in Italien." Unbeirrt begann ich meine Eier und meinen Speck in mich hineinzuschaufeln.

„Riley, du musst langfristiger denken. Was ist, wenn du nicht gut genug bist für Olympia? Was ist, wenn du dich verletzt oder zu alt wirst für Wettkämpfe? Du brauchst ein finanzielles Polster und wenn das mit Stanley gut läuft, dann hast du ausgesorgt. Von was willst du denn sonst später mal leben?"

„Ich könnte bei Target an der Kasse arbeiten. Oder vielleicht tatsächlich eine Praxis für Ernährungsberatung eröffnen." Diskret ließ ich meinen Blick durch den Frühstücksraum gleiten. Ich lehnte mich vor und wisperte vertraulich: „Fünfzig Prozent der Leute hier an Tischen bräuchten dringend jemanden, der ihnen beibringt, wie sie sich gesünder ernähren können."

„Hat Dir schon mal jemand gesagt, dass du ein kleines Aas bist?", murrte Thomas.

Ich klimperte mit den Wimpern. „Nicht, dass ich mich daran erinnern würde", behauptete ich frech. Noch einmal sah ich mich um. „Vielleicht werde ich einfach Trainerin. Achtzig Prozent der anwesenden würden von Sport profitieren."

Diesmal lachte Thomas. „Schon kapiert. Du musst nicht deutlicher werden. Nur wünsche ich mir einfach etwas anderes für dich, weißt du? Ich will, dass du diese Dinge tust, weil sie dir Freude machen, nicht, weil du musst. Ich will für dich ein Haus mit Garten, zwei Kinder, einen Hund, ein Fitnessstudio im Keller und einen beheizten Pool auf der Dachterrasse. Ich will einen Carport und eine hammermäßige Küche, wo du kochen kannst, was immer du dir wünschst. Und wo du eine Pinwand hast, um alle Karten deiner Take-away Dienste aufzuhängen. Ich will, dass du dir das sicherste Auto der Welt leisten kannst, um deine Kinder zum Reiten und zum Fußball zu bringen."
„Vergiss nicht die indirekte Beleuchtung am Schminktisch", zog ich ihn auf.

Mahnend hob Thomas den Zeigefinger. „Die ist wichtig. Das solltest du nicht leichtfertig abtun! Aber jetzt mal im Ernst: kann schon sein, dass ich gehobene Ansprüche habe. Aber ich weiß, was ich dir schuldig bin. Meine Tochter lebt und hat eine Zukunft. Nicht weniger als für sie will ich für dich."

Gerührt legte ich meine Gabel zur Seite. „Du hast doch schon so viel getan. Ich verdiene schon jetzt wirklich gut. Für eine Studentin habe ich kaum Sorgen, mal abgesehen davon, dass jemand irgendwann deine Schreibtischschublade öffnet. Und ohne dich hätte ich nie Leroy kennengelernt."

„Hm, und wäre ich nicht gewesen, wärst du noch mit Dawson zusammen." Mit dem Zeigefinger malte er Kreise auf das weiße Tischtuch.

„Nein, ich denke nicht. Wäre es nicht das gewesen, dann etwas anderes. Dass Justin und ich im selben Team schwimmen. Weil ich in einem gemischten Wohnheim wohne. Weil ich mit Leroy befreundet bin. Er hätte etwas anderes gefunden, um sich aus unserer Beziehung rauszuwinden. Er war noch nicht so weit. Gut möglich, dass er nie wirklich Gefühle zulassen oder Verluste riskieren wird. Das ist aber nicht deine Verantwortung. Ich habe dir damals keine Vorwürfe gemacht und ich tue es heute nicht. Das werde ich auch nie. Es war meine Entscheidung."
Um den Mund von Thomas bildete sich ein verkniffenes Lächeln.

„Du bist ein seltsames Mädchen, Riley", stellte er nicht zum ersten Mal in den vergangenen Jahren fest.

„Gut möglich, dass das einen Teil meines Erfolges ausmacht, denkst du nicht?", fischte ich nach einem Kompliment und erntete einen wohlwollenden Blick.

„Da kann unter Umständen etwas dran sein", bestätigte er mir.

Wie ich vorausgesehen hatte, war ich rein technisch den ganzen Tag erreichbar. Nur konnte ich rein praktisch nicht, denn im gefühlt halbstündigen Wechsel wurden mir Pflegeprodukte auf jede erdenkliche Körperpartie geschmiert. Haarkur, Gesichtsmaske, Körperpeeling, Handpflege, Fußsalbe. Aber das allerübelste war wie jedes Mal das heiße Wachs für die Enthaarung. Ich hasste es. Und gleichzeitig liebte ich es.

Der Schmerz wenn die Papierstreifen abgezogen wurden trieb mir manchmal die Tränen in die Augen. Das weiche, streichelzarte Gefühl perfekt enthaarter Beine war für mich ein Genuss, der mich für das hässliche Ziepen entschädigte. Viel Zeit, meine wunderschönen Beine zu bewundern hatte ich nicht. Kaum hatte ich drei oder vier Mal über mein Schienbein und die Waden gestrichen, kam Daisy herein und schloss nachdrücklich die Tür. Es gab einfach ein paar Stellen, die für Bikinimode enthaart werden mussten, an die ich nun wirklich nicht jede Kosmetikerin ranließ.

„Dann wollen wir mal", sagte die mollige Stylistin, die Thomas mir immer als Babysitter hinterherschickte und die ich seit meinem ersten Shooting mit Thomas kannte. Routiniert desinfizierte sie ihre Hände und schlüpfte dann in die Latexhandschuhe.

„Arme hoch", wies sie mich an und mit zusammengepressten Lippen gehorchte ich.

„Heute musst du richtig Federn lassen", lenkte mich Daisy ab. „Du wirst morgen ganz in weiße Strandmode gesteckt. Thomas will keine Schatten unter dem Stoff sehen. Nirgendwo. Du weißt was das heißt?"

Sie strich den ersten Papierstreifen in meine Achselhöhle. „Einatmen." Mit einer zackigen Bewegung entfernte sie nicht nur das Papier, sondern all die kleinen nervigen Haare.

„Alles muss weg?", hakte ich nach und Daisy nickte.

„Ich fürchte, ja. Aber das kennst du doch schon von der Spitzenwäsche." Sie zwinkerte mir zu und wie immer, wenn das Thema aufkam, wurde mir etwas mulmig. Die Gefahr lauerte nicht nur in der Schreibtischschublade. Sie saß rechts von mir und entfernte gerade den nächsten Streifen aus meiner Achselhöhle.

„Wie ist dieser Stanley so?", fragte ich Daisy, die momentan meine beste Quelle für Informationen war, die nicht nur beängstigend klangen. Gedankenversunken rührte Daisy mit ihrem Spatel durch das im Wasserbad stehende Heißwachs.

„Ihr seid euch sehr ähnlich. Er ist extrem diszipliniert und achtet sehr auf sich und seinen Körper. Nur ist er obendrein sehr selbstverliebt. Mehr noch als Leroy. Das macht Stanley im Umgang äußerst schwierig.

Nach seinem Skiunfall hat er nicht mehr die Leistung gebracht, die er für die Nationalmannschaft gebraucht hat. Es war weniger ein körperliches Problem, sondern eine Kopfsache. Um das in den Griff zu bekommen, ist er für ein halbes Jahr nach Indien gegangen und als er wiederkam, war er ein anderer Mensch. Spiritueller. Aber er hatte plötzlich einen anderen Anspruch an sich. Er wollte wieder an die Spitze. Spuren hinterlassen. Innerhalb von drei Jahren hat er sich dann leider völlig verändert. Er ist das Spiegelbild seines Modelabels geworden und ständig tauchen seine Eskapaden in der Klatschpresse auf. Wieviel davon gewollt ist und dem Image geschuldet, das er sich aufgebaut hat, kann ich nicht beurteilen. Er ist eine wandelnde Werbeikone für seine eigene Marke. Selbst wenn er für andere Firmen abgelichtet wird, arbeiten die Fotos gleichzeitig für ihn mit. Mach dich mal untenherum frei."

Bis ich Daisys letzte Anweisung gedanklich vom vorherigen Monolog trennte, dauerte es kurz. Dann stieg ich aus meinen Shorts und dem Höschen, legte ich mich auf die Liege, die mit einer frischen Papierauflage bedeckt war.

„Seine Tätowierungen findest du in seiner Kleidermarke überall wieder. Kleine Details am Ärmel zum Beispiel, großflächige Motive als Rückenaufdruck oder einfach nur seine verschlungene Initialen." Wieder rührte sie im Wachs. „Das kann ein bisschen wehtun", warnte sie mich wie immer und ich biss vorsichtshalber bereits die Zähne zusammen.

„Seine Kleidung kommt gut an. Gerade bei jungen hormongesteuerten Männern, die in einer Partysau ein Vorbild sehen und davon träumen ständig von halbnackten Schönheiten umgeben zu sein und sich von ihnen zu nehmen, wonach ihnen gerade der Sinn steht."

Sie seufzte. „Ich bin gespannt, wie das mit ihm weitergeht. Das kann auf Dauer nicht gutgehen."

Sie zog den nächsten Streifen ab. Danach arbeitete sie konzentriert und schweigend. Weil sie nichts mehr zu sagen hatte, oder mir Raum lassen wollte, meine eigenen Schlüsse über Stanley zu ziehen.

Nach dem ich noch das unvermeidliche Zusammentreffen mit dem Hairstylisten hinter mir hatte, rief Daisy uns ein Taxi und ich checkte endlich mein Handy. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Dawson hatte sich noch nicht gemeldet. Es war aber auch erst kurz nach fünf und er wohl entsprechend noch mit Arbeit beschäftigt.

Mit Daisys Hilfe brachte ich die letzten Schritte zur Zielgeraden hinter mich. Sie steckte mich in Unterwäsche, die zu einem sommerlichen Kleid aus einem fließenden hellblauen Stoff und tiefem Ausschnitt passte. Anschließend bekam ich Wasserfallzöpfe. Rigoros parkte sie mich zu letzt vor dem Fenster, wo wir perfektes Tageslicht hatten und schminkte mich.

Am Ende sah ich wirklich wie ein Model aus und nicht mehr wie Riley, die Schwimmerin, die schon Hummeln im Hintern hatte, weil seit ihrem letzten Training beinahe drei Tage vergangen waren.

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