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„Warte hier", wies mich Dawson wie einen Hund am Zaun an und verschwand in Richtung Werkstattgebäude, wo er seinen Schlüssel und mein Gepäck holte, das lediglich aus einem großen Rucksack bestand. Für Koffer konnte ich mich noch immer nicht erwärmen. In den Fächern meines Reiserucksacks war alles organisiert und strukturiert, wie ich es seit Jahren gewohnt war. Angefangen von den Klammern im Deckelfach bis hin zu dem Kleinzeug in den Seitentaschen.
Als Dawsons seinen Pick-up neben mir hielt, zog ich die Tür selbst auf, statt zu warten, dass er sie mir öffnete und setzte mich mit einem wehmütigen Gefühl still auf den Beifahrersitz. Mein Blick huschte zum Zündschloss und sofort bereute ich es. Das kleine Motorrad, das ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, hing nicht mehr an Dawsons Schlüsselbund. Traurig wendete ich den Blick ab und starrte aus dem Seitenfenster, damit Dawson meine Enttäuschung nicht sah. Auf der Landstraße war es bereits stockfinster. Man konnte nicht einmal mehr einzelne Bäume unterscheiden. Der Wald bildete eine undurchdringliche schwarze Wand. Nur dort, wo Dawsons Scheinwerfer brutal die Dunkelheit zerrissen, konnte ich schemenhaft den Waldsaum erahnen, nur ein fahler Schein vom Armaturenbrett erhellte die Fahrerkabine. Das bläuliche Licht im Inneren des Wagen reichte geradeso, damit ich Konturen erkennen konnte.
Ab und zu warf ich einen Blick zu Dawson, der, in tiefes Schweigen gehüllt, über die Landstraße fuhr. Wie es in ihm arbeitete, war genau zu sehen. Seine Kiefermuskeln mahlten ununterbrochen, als müsste er die heutigen Vorkommnisse in kleine Häppchen zerkauen, um sie schlucken zu können.
„Warum bist du hier?", fragte er völlig unvermutet und ich zuckte zusammen. „Dir ist doch wohl klar, dass ich dich hier nicht haben will!"
Dass ich dich hier nicht haben will! Hier, in diesem anderen Leben, das nichts mit damals zu tun hatte. In dem Leben, das er mit Sam und seiner gemeinsamen Tochter Izzie führte. Es war mir klargewesen, als er vor ein paar Stunden den Helm abgenommen hatte und diese Wahrheit stach wie Glassplitter unter meiner Haut.
„Lio wollte dir helfen und damit ich in der Zeit nicht allein bei seinen Eltern herumsitze, hat er Sam angeschrieben, wie du aktuell zu mir stehst und ob es ein Problem wäre, wenn ich mitkomme. Sie meinte, es würde passen, wenn ich Lio begleite."
Dawson schnaubte. Schweigsam starrte er in die Dunkelheit, setzte irgendwo im Nichts einen Blinker und bog in eine schmale Straße ein, die ich nicht mal hatte erahnen können.
Nachdenklich sah ich wieder zu Dawson und begriff, dass Sam nicht nur ihn, sondern gleichzeitig mich ausgetrickst hatte. Das wieder hinzubiegen, war nur auf eine Art möglich. Ich musste ihm anbieten nach Hause zu fahren. Wobei „nach Hause" nicht in diesen Kontext passte. Mein zu Hause gab es seit einer ganzen Weile schon nicht mehr. Es gab nur noch Mums Wohnung und Dads Wohnung, zwischen denen ich wählen konnte. In beiden fühlte ich mich wie ein Fremdkörper. Bei Dad, der auf den Campus der Uni gezogen war, an der er seit einem Jahr unterrichtete, gab es nur eine Schlafcouch im Wohnzimmer für mich. Nicht mal eine Kommode, in die ich meine Kleidung einräumen konnte. In der Hutschachtel, die er als Bad bezeichnete, hatte kaum mein Zahnputzzeug Platz. Einzig positiv war der Kraftraum unter den Turnhallen.
Bei Mum hatte ich ein hübsches Gästezimmer, mit geblümten Vorhängen, die in der Abendbrise wehten und einen Kühlschrank voller Gemüse für Mums Low-Carb-Diät. Aber da war immer auch Mike. Und Mike war... eben Mike und der Grund für die Trennung. Innerlich rügte ich mich, weil ich schon wieder ungerecht wurde. Er war nicht der Grund. Er war eher die unappetitliche Folge einer langen chronischen Krankheit, unter der die Beziehung meiner Eltern gelitten hatte.
Freilich hätte ich jederzeit bei meinem Kollegen und Freund Leroy unterkommen können. Während der Shootings für einen italienischen Motorradhersteller hatten wir abends viele Stunden zusammen verbracht und verstanden uns super. Ich mochte ihn sehr. Nur befand er sich seit ein paar Wochen im freien Fall durch eine Welt, in der seine Preisgelder und die Sponsorenverträge beinahe alles möglich machten. Endlose Partys mit alkoholgeschwängerten, pillenglücklichen Feiernden bestimmten seine trainingsfreien Tage. Stripperinnen tanzten auf seinem Couchtisch, auf seinem Waschtisch konnte man Samstag noch genug weißes Pulver finden, um damit am Bahnhof ein Vermögen zu machen und mit leeren Schnapsflaschen hätte er nach den Wochenenden ein Gewächshausbauen können.
Ich hatte Angst, dass er mich in diese Welt hineinziehen könnte, in der man Tabletten in wechselnden Farben und Formen zu jeder Tageszeit wahlweise mit Alk oder Kaffee runterspülte, sich Zeug durch die Nase zog und alles rauchte, was in Papier eingewickelt halbwegs anständig brannte.
Am meisten wie ein zu Hause fühlte sich mein Studentenwohnheim an. In den Semesterferien war es allerdings leergefegt und vermutlich musste ich mit dem Spiegel reden, damit ich überhaupt eine Form der Ansprache fand. Tief atmete ich einmal durch, bevor ich die alles entscheidende Frage stellte: „Möchtest du, dass ich wieder fahre?"
Dawson schwieg lange mit gleichgültiger Miene. Hätte er nicht das Lenkrad fest umklammert, bis seine Knöchel weiß wurden, hätte ich angenommen, er hatte mich einfach nicht gehört.
Unruhig kaute ich auf meiner Unterlippe. Die Ungewissheit, was er antworten würde, brachte mich beinahe um meinen Verstand.
Schließlich hielt mein schweigsamer Begleiter an einem kleinen Haus, das von einem großen Garten mit einem weißen Lattenzaun umgeben war. Den Zaun erkannte ich sofort wieder. Es war der Zaun von Dawsons Profilbild bei WhatsApp. Der, an dem er mit verschränkten Armen stand und in die Kamera lächelte. Ich hatte das Foto immer schon sehr gemocht und es mir unzählige Male angesehen, bis es sich auf die Innenseiten meiner Augendeckel eingebrannt hatte. Wenn ich die Lider schloss, konnte ich das Bild zu jeder Zeit glasklar abrufen. Zu wissen, dass es Sams Gartenzaun war, an dem er stand, eröffnete einen neuen Blickwinkel auf das Foto und den glücklichen Gesichtsausdruck in Dawsons Gesicht. Eifersucht kroch bitter in mein Herz, und stach von dort mit spitzen Fingern auf meinen Brustkorb ein, bis es schmerzte.
„Dawson? Ist es dir lieber, dass ich heimfahre?", fragte ich drängender und schob das nagende Gefühl in meiner Brust zur Seite.
Tief und schwer atmete Dawson ein, bevor er sich zu einer Antwort durchrang. „Du hast mich hintergangen, selbst wenn du nicht mit Bowbridge geschlafen hast. Was passiert ist, Riley, ist passiert und nichts kann das ungeschehen machen. Ich kann nicht tun, als hätte ich deinen Verrat vergessen. Ich kann nicht einmal tun, als wären wir Freunde." Das war keine konkrete Antwort auf meine Frage. Er hörte sich aber auf keinen Fall an, als wäre er an meiner Anwesenheit interessiert.
„Es tut mir leid, dass ich gekommen bin. Nach Sams Aussage bin ich von anderen Voraussetzungen ausgegangen. Wenn du meine Anwesenheit völlig inakzeptabel findest, dann versuche ich schnellstens einen Flug nach Miami zu finden." Ich wendete das Gesicht ab, damit er meine Enttäuschung nicht sah und beeilte mich, dieser unangenehmen Situation zu entkommen. Mich unerwünscht zu fühlen, war eine völlig neue Erfahrung, von der ich sicher sagen konnte, ich wäre ohne sie zurechtgekommen.
„Miami? Wohnst du denn nicht jetzt in Kalifornien?" Stirnrunzelnd sah Dawson mich an.
„Doch. Schon. Ich such mir ein Hotel und mach in Florida einfach noch Urlaub, bis ich mein nächstes Shooting hab." Ich rutschte vom Sitz herunter. „Ist ganz nett dort", behauptete ich, obwohl ich das feuchtwarme Klima hasste und das Hotel, in dem Leroy und ich üblicherweise wohnten, noch viel mehr. Wie ich dort hinpasste, lag auf der Hand. Ich war kein Modepüppchen. Ich war Sportlerin. Ich ging zum Meer um zu trainieren, nicht um mich zu bräunen und gut auszusehen. Ich verausgabte mich im Fitnessraum weit mehr als die überernährten Männer, die dort rumlungerten und mir auf den Arsch starrten. Bei jeder Mahlzeit fühlte ich mich unwohl. Ich aß Unmengen und trotzdem musste ich mir nach fünf Gängen am späten Abend noch Essen aufs Zimmer bestellen. Die anderen Frauen schafften es mit einer Scheibe Toast ohne Butter und einem gekochten Ei bis zum Abendessen durchzuhalten und trotzdem zu lächeln. Unter gleichen Bedingungen hätte ich mich in ein aggressives hungriges Monster verwandelt.
Kraftlos schloss ich die Tür des Wagens. Der ganze beschissene Tag hatte mich vollkommen ausgelaugt. Selbst um das Auto herumzugehen, kostete mich beinahe mehr Energie, als ich aufbieten konnte ohne vorher eine Stunde zu schlafen und einen Müsliriegel zu futtern. Ich hielt den Kopf gesenkt, damit Dawson die Tränen nicht sah, die bei dem Gedanken an meine Abreise in meinen Augen brannten. Aussichtslos. Ich musste einfach akzeptieren, dass er keinen Funken Interesse mehr an mir hatte. Egal, wie weh es tat und egal, wie sehr ich mich an diese Schnapsidee geklammert hatte.
Auf der Ladefläche stocherte ich im Dunkeln nach meinem Rucksack, traf dabei auf Dawsons warme Hand, die gleichzeitig nach dem Schultergurt griff wie ich. Sekundenlang verharrten wir nebeneinander, Hand in Hand. Dawsons Daumen strich über meinen Handrücken. Vertraut und doch völlig anders als früher. Und verwirrend.
Ich will dich hier nicht haben.
Mein Herz raste. Seine Haut war von der Arbeit rauer und fester geworden. Ich sah zu ihm auf, versuchte seine Züge in der Dunkelheit auszumachen, doch das war beinahe unmöglich. Ich erkannte nur Konturen, konnte nicht in seinen ausdrucksvollen Augen lesen. Mir blieb nur, weiter abzuwarten, wohin das hier führte. Mein Herz sprang beinahe aus der Brust, weil Dawson nun kleine Kreise über meinen Puls malte. Hastig zog ich meine Hand weg. Das hätte ich schon längst tun sollen.
Ich will dich hier nicht haben. Wenn er nicht verzeihen konnte, dann wollte ich nicht hoffen.
„Willst du denn überhaupt bleiben? Nach unserer etwas unschönen Auseinandersetzung in der Küche?" Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit, als er unseren Streit und seine verletzenden Worte zu einer Harmlosigkeit herunterspielte. Ich schluckte eine Bemerkung dazu herunter. Das hätte nur zu neuerlichem Streit geführt. Für den hatte ich heute einfach keine Kraft mehr.
„Sonst hätte ich nicht gefragt", gab ich zurück und klang zu allem Elend genauso ausgebrannt, wie ich mich gerade fühlte.
„Dann... bleib einfach, Riley. Wir werden schon irgendwie klarkommen. Es sind nur zwei Wochen und wir sind jetzt immerhin beide erwachsen."
Bei seinem letzten Satz schlich sich der alte Schalk in seine Worte und eine Leichtigkeit, die ich nicht erwartet hatte, befiel mich, als ich neben Dawson die Auffahrt zum Haus hinauflief. Mich nicht nach einer alternativen Bleibe umsehen zu müssen, war eine Befreiung und Zentnergewichte fielen von meinen Schultern.
Dawson klingelte und im Inneren des Hauses erklangen leise Schritte.
„Hast du denn keinen Schlüssel?", fragte ich erstaunt.
„Schon, der ist aber nur für Notfälle", kam es knapp von Dawson zurück.
„Dann wohnst du gar nicht hier? Bei Sam und Izzie?"
„Nein. Ich wohne über der Werkstatt. Warum?"
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