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Es war mein viertes Shooting in Miami und genau wie die Male zuvor empfing mich strahlender Sonnenschein und ein ebenso strahlender Thomas. „Willkommen, meine Liebe", begrüßte er mich galant und nahm mir den Rucksack ab. Missbilligung lag in seinen Augen. „Hatten wir nicht des Öfteren über einen Koffer gesprochen?", tadelte er mich auf dem Weg zum Ausgang.

„Ich habe einen gekauft", verteidigte ich mich. Hatte ich wirklich. In einem Asphaltgrau, das wunderbarerweise genau zu meinem Regenschirm passte. Eine glückliche Fügung, die ich erst zu Hause bemerkte, als ich den Koffer neben dem Garderobenständer abstellte. „Aber ich bin von Alabama nach Utah und dann direkt hierher geflogen. Nur wegen eines Koffers einen Umweg über Kalifornien zu machen, kam mir übertrieben vor."

„Dann trägst du jetzt wie lange das Zeug aus diesem Rucksack am Leibe?" Angewidert hielt Thomas mein Gepäckstück am gestreckten Arm von sich und rümpfte die Nase.

Kurz überlegte ich, wieviel Tage oder Wochen es waren, beschloss jedoch die Sache abzukürzen.

„Seit Anfang der Ferien?", gab ich zurück und amüsierte mich insgeheim köstlich über den Gesichtsausdruck meines Begleiters. Er sprach Bände von Läusen und Flöhen, vom Geruch nach Schweiß und Fußkäse. Ich hätte wetten können, er begoss meinen Rucksack in Gedanken gerade mit Benzin und zückte das Feuerzeug.

„Weißt du, Thomas, es gibt Waschsalons", beruhigte ich ihn und sah mit Vergnügen wie seine Züge sich entspannten. „Und Einweg-Unterwäsche", setzte ich dann nach und lachte über seinen ungläubigen Blick. Er war Künstler, Ästhet durch und durch. Die Vorstellung, dass ich gepunktete Papierhöschen trug, war offenbar zu viel für den passionierten Fotografen.

Im Kurzparkbereich warf Thomas meinen Rucksack in den Kofferraum seines Leihwagens. „Können wir was essen gehen, bevor wir ins Hotel fahren?"

„Es gibt essen im Hotel." Ohne mich weiter zu beachten, umrundete er den Wagen.

„Da will ich aber nicht essen. Da starren mich wieder alle an."

„Wir sind eben nicht in Kalifornien am Strand! Zieh dir Kleidung an, die in ein Fünf-Sterne-Hotel passt und lege sie in einen hübschen Koffer. Du wärst überrascht, wieviel weniger Aufmerksamkeit du auf dich ziehen würdest."

Genervt presste ich die Lippen zusammen. Immer dieselbe Leier. Dabei hatte ich nie um ein Zimmer in einem dieser noblen Hotels gebeten.

„Ich will Sushi", sagte ich störrisch und Thomas verdrehte die Augen. Aber ich wusste, dass ich gewonnen hatte. Es gab nichts, wirklich rein gar nichts, was Thomas lieber aß und kein Essen an das er mehr Ansprüche stellte, was Aussehen, Geruch, Farbe und Geschmack betraf. Unser Hotel konnte diese nicht erfüllen. Aber das winzige von einem Japaner am Meer geführte Restaurant konnte es. Das, wo der Fisch jeden morgen fangfrisch in die Küche des kleinen Mannes geliefert wurde und der daraus Sushi-Platten kreierte, die an Gemälde erinnerten.

„Okay", stimmte Thomas bedächtig zu. „Wir gehen essen. Aber nur unter einer Bedingung."

Argwohn packte mich. „Und die wäre?" Skeptisch hob ich eine Augenbraue und Thomas daraufhin einen Mundwinkel. „Du sagst mir, warum du geweint hast."

„Ich hab ni-" Vernehmliches Räuspern unterbrach mich und Thomas legte seinen Zeigefinger unter mein Kinn. Vorsichtig drehte er meinen Kopf in Richtung Licht.

„Du lügst", stellte er trocken fest. „Die Wahrheit oder essen mit dem Team im Hotel", gab er seine Regeln bekannt und ich akzeptierte sie.

„Ich sag es dir. Aber jetzt lass uns fahren, bevor ich verhungere."

Die Fahrt über grübelte ich still, was ich Thomas sagen sollte. Wie ich erklären sollte, dass ich mich einfach leer fühlte, seit ich überstürzt aus Alabama abgereist war. Egal, wie enttäuscht ich von Dawson war, ich sehnte mich nach dem Blick aus seinen funkelnden grünen Augen. Fühlte die Hitze seines Kusses auf meinen Lippen und die Geborgenheit die ich in seinen Armen gefunden hatte. Ob ein erwachsener Mann mit beinahe vierzig verstehen konnte, wie zerrissen ich mich fühlte, war ich mir nicht sicher. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich es ihm erklären sollte, falls nicht. Ich begriff es selber nicht, wie ich bodenlos enttäuscht sein konnte und gleichzeitig nach Entschuldigungen für Dawsons Verhalten suchen konnte. Am wenigsten verstand ich, warum ich die Schuld gestern Nacht in der Stille meines Zimmers, plötzlich bei mir selbst gesehen hatte. Vielleicht hatten meine Fotos sein Herz vor zwei Jahren schockgefrostet und ich hätte, statt abzuhauen, versuchen müssen an sein Mitgefühl zu appellieren.

Als wir im Lokal saßen und unsere Getränke vor uns standen, begann ich stockend zu erzählen, doch je weiter ich mich vortastete, desto leichter fiel es mir, über die verwirrenden Gefühle und Gedanken zu sprechen. „Klingt verrückt, oder?", schloss ich leise.

Thomas musterte mich eingehend. Dann schüttelte er den Kopf.

„Damals, als die Sache mit Evelyn passiert ist. Da habe ich nicht verstanden, warum sie es getan hat. Warum sie unsere Tochter in Gefahr gebracht hat und ihr eigenes Leben leichtfertig riskiert hat. Trotzdem hab ich sie vermisst wie verrückt. Jede Nacht ohne sie war eine nicht endende Qual und die Tage noch schlimmer. Da war nur diese stille Einsamkeit, diese schreckliche Leere, von der ich nicht wusste, wie ich sie füllen soll. Ich war unfassbar wütend, weil sie mich mit Melissa allein gelassen hat und im selben Augenblick dankbar und glücklich, dass meine Tochter noch lebte."

Er trank von seinem Wasser, schindete für sich ein wenig Zeit, sich die nächsten Sätze zu überlegen, oder mir die Möglichkeit zu lassen, meine Gedanken zu ordnen.

„Ich kam an einen Punkt, an dem ich mich gefragt habe, ob das Unglück nicht allein meine Schuld war. Vielleicht würde Evelyn noch leben, wenn ich hätte schwimmen können. Dann hätte ich es Melissa beigebracht und nicht sie wäre mit der Kleinen ins Wasser gegangen. Vielleicht hätte ich begreifen müssen, wie wichtig es meiner Frau war, das Melissa schwimmen lernt und eine Lehrerin für sie suchen sollen. Dann habe ich begonnen Entschuldigungen zu erfinden. Zum Beispiel, dass sie dachte an einem bewachten See könne ihnen nichts geschehen. Sowas in der Art. Aber Riley, für manche Dinge gibt es keine Entschuldigung und wenn man noch so lange danach sucht. Den Tod eines Menschen zu verschulden, egal ob den eigenen oder den eines anderen, ist nicht rational zu erklären. Nicht, wenn man nicht darüber sprechen kann. Ich werde nie rausfinden, was meine Frau bewegt hat, zu tun, was sie getan hat." Bekümmert blickte Thomas auf seine Finger, die ausgespreizt auf dem Tisch ruhten.

Als er wieder aufsah, blickte er mir geradewegs in die Augen. „Wenn du wissen willst, was Dawson bewogen hat, deine Bitte abzuschlagen, dann wirst du vielleicht mit ihm reden müssen. Oder du wirst, wie ich, bis an das Ende deiner Tage keine Antwort finden."

Es war ein vernünftiger Rat. Ein erwachsener Rat. Kein Wunder, wenn er von einem Erwachsenen kam. Trotzdem war es nicht einfach, ihn zu befolgen. Das setzte nämlich voraus, mir einzugestehen, dass ich mich falsch verhalten hatte. Vom Grunde her hatte ich genau das getan, was Dawson machte, wenn er nicht mehr weiterkam: Ich war weggelaufen, statt eine Auseinandersetzung zu suchen. Danach war ich auf die Vogel-Strauß-Technik umgeschwenkt und hatte den Kopf in den Sand gesteckt, Dawsons Nachrichten einfach ausgeblendet und mich lieber um Leroy gekümmert, als um die Bitten nach einer Aussprache zu beachten, die Dawson mir geschrieben hatte. Dabei hatte der Kerl sich die Mühe gemacht, jede einzelne als SMS an mich zu senden, weil ich ihn bei WhatsApp blockiert hatte.

Lange saß ich am Abend unschlüssig auf dem Bett, blickte aus dem Fenster auf den dunklen Garten Eden meines Hotels und das türkisfarbene Wasser des beleuchteten Außenpools. Türkis, wie Dawsons Augen, wenn das Sonnenlicht sich darin fing, und wunderschön. Vielleicht war es albern, aber dieser Anblick war es, der schließlich den Ausschlag gab, ihn anzurufen.

Mit bangem Herzen lauschte ich dem Freizeichen und als Dawson schließlich abnahm, klang seine Stimme heiser. Er hatte offenbar bereits geschlafen. „Riley?", fragte er verpennt und ein Lächeln zupfte an meinen Lippen, als er sofort danach fragte: „Geht es dir gut?" Von jetzt auf gleich klang er besorgt und hellwach. Das war einfach süß und absolut typisch für ihn.

„Mir geht es gut", begann ich mein Lächeln zurückkämpfend und sofort unterbrach Dawson mich.

„Ist was mit Leroy? Ist bei ihm alles okay?"

Wieder musste ich lächeln, obwohl es unter objektiven Gesichtspunkten betrachtet, nicht gut war für ihn, immer das Schlimmste zu erwarten. Diese dauernde Anspannung, das ungute Gefühl, wenn das Telefon klingelte, stellte ich mir extrem stressig vor und ich war froh, dass ich nicht wie Dawson bereits einen nahen Verwandten verloren hatte und nicht wie Leroy jeden Tag eine schlechte Nachricht erwartete. Der zuckte oft genug zusammen, wenn sein Handy klingelte. Manchmal sogar wenn es meins war oder ein fremdes am Nachbartische eines Cafés, in dem wir gerade saßen. Wenn er einen Krankenwagen hörte, hatte er früher oft seine Tätigkeit unterbrochen und sinnierend aus dem Fenster gesehen, in Gedanken weit fort bei seiner Schwester. Selbst als Laila schon tagelang im Krankenhaus war und künstlich ernährt wurde, lauschte er jeder Sirene. Er konnte einfach nicht heraus aus seiner Haut.

Wahrheitsgemäß antwortete ich Dawson. „Ihm geht es den Umständen entsprechend gut. Er ist nur sehr schwach und Geduld ist nicht gerade seine Stärke." Letzteres war untertrieben. Wenn es nach ihm ginge, würde er bereits wieder am Strand in der Sonne liegen und hübschen Frauen nachsehen.

„Und warum genau rufst du an, Riley? Mitten in der Nacht?", erkundigte sich Dawson vorsichtig. Kurz schloss ich die Augen, wünschte mir, er würde weiterreden, einfach nur, weil es schön war, seine Stimme zu hören und mich ihm nah zu fühlen, obwohl uns mehrere hundert Meilen trennten.

„Weil du versucht hast, mich zu erreichen." Ich umklammerte das Telefon fester. „Du hast geschrieben, du möchtest reden? Und da dachte ich, es wäre gut, wenn ich anrufe und dich nicht wochenlang in der Luft hängen lasse, bevor du am Ende resignierst."

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