36
„Sieht übel aus", stellte Rourke fest. Abraham rieb sich nachdenklich über den Bart.
„Ich denke, wir können unseren Prototypen getrost an diesen Fitz verkaufen", kommentierte er dann trocken. „Wie geht es ihm?"
Ich zuckte mit den Achseln. „Weiß nicht", gab ich kleinlaut zu. „Riley hat mich gestern nicht informiert."
Sam musterte mich. Eindringlich. Ich wand mich innerlich bereits in Erwartung ihres nächsten Satzes.
„Natürlich hast du keine Ahnung warum sie dich nicht informiert hat. Oder warum sie heute Morgen bereits vor dem Frühstück bei Pearl ausgecheckt hat?"
„Nicht so wirklich", murmelte ich. „Aber wir hatten eine Meinungsverschiedenheit und sie ist völlig ausgeflippt. So richtig. Mit Türen schlagen und so."
Sam schüttelte den Kopf. „Und wer macht jetzt die Collagen mit mir? Ich hab hunderte von Bildern im Büro, Dawson und keine Ahnung, wie ich da was daraus machen kann!"
Und schon heulte sie, rannte raus und schlug die Tür zu.
„Für Frauen hast du ein Händchen. Eindeutig."
Abraham musterte mich mit einer Mischung aus Ablehnung und Faszination, bevor er Sam nachging.
„Am besten ziehst du dir Arbeitskleidung an und siehst zu, dass du ein Motorrad zusammenschraubst, dass wir in drei Wochen präsentieren können. Sonst bist du am Arsch, mein Lieber." Rourke klopfte mir aufmunternd auf die Schulter.
„Schon klar", murmelte ich und holte mir eine Hose und ein Shirt, genau wie Rourke es mir empfohlen hatte. Bis in den späten Nachmittag arbeitete ich nahezu ohne Pause. Lio und Chad schauten kurz rein, bevor die beiden zur Dialyse aufbrachen. Das war es dann an lästigen Unterbrechungen. Doch irgendwann hatte ich das Gefühl mein Kopf würde platzen. Vermutlich Unterzucker und Schlafmangel.
Entsprechend genehmigte ich mir einen Müsliriegel und eine Tasse grauenvoll starken Kaffee. Mit beidem setzte ich mich raus in den Garten, wo Hund angetrottet kam, kaum dass ich meinen Hintern auf dem Rasen geparkt hatte. Seine Rute hing schlapp herunter und er warf sich regelrecht neben mir im Schatten auf den Boden.
„Faulpelz", sagte ich und kraulte ihm über die Flanken. Seit Riley ihn geduscht hatte, war sein Fell viel angenehmer zu streicheln. Struppig war es immer noch, jedoch nicht mehr drahtig und meine Hände rochen nicht mehr penetrant, nachdem ich ihn gestreichelt hatte.
Riley hatte also ausgecheckt. Einfach so. War abgereist, ohne sich zu verabschieden. Wieder und wieder fuhr ich über Hunds Hals. Es tat weh. Dabei sollte es das nicht. Mit Daumen und Zeigefinger rieb ich über meine müden Augen. Dank des Kaffees und des Riegels kehrten einige Lebensgeister in meinen Körper zurück. Trotzdem hatte ich den Nachmittag über den Eindruck, nur mit halber Kraft zu fahren. Und das rückwärts. Ich war einfach nicht bei der Sache.
Lustlos stocherte ich später in meinem Essen, ignorierte die Blicke der anderen und ihre Gespräche. Mein Kopf war ausschließlich mit Rileys widersprüchlichem Verhalten beschäftigt. Ich kapierte es einfach nicht. Sie hatte gesagt, sie wäre froh, weil mir nichts passiert war. Sie hatte definitiv versucht mich zu küssen. Ihre Lippen hatten sich weich und verführerisch angefühlt, als sie über meine strichen. Kein Traum, keine Wunschvorstellung der Welt konnte an das Gefühl heranreichen, das ihre Berührungen auslösten. Somit konnte es keine Einbildung gewesen sein. Dieses elektrisierende Kribbeln, das den Wunsch in mir weckte, sie langsam aus den kleinen Stoffstücken zu schälen, die sie als Kleidung betitelte und das störrische Mädchen von Kopf bis Fuß mit zärtlichen Küssen zu verwöhnen, um ihr das gleiche Lustgefühl zu schenken, das mir allein schon ihre Nähe vermittelte. Scheiße, Nähe brauchte es nicht mal. Selbst in ihrer Abwesenheit an sie zu denken, reichte, um mich zu erregen. Mein Körper hatte nicht vergessen, wie sie schmeckte, wie sie küsste, wie sie sich anfühlte und anhörte.
Ich schob einen Happen meines inzwischen fast kalten Gemüsebratlings in den Mund. Kartoffeln folgten. Dann pickte ich ein wenig Salat auf.
In einem Moment hatte sie mir ihre Zuneigung vermittelt und dann war sie völlig ausgehakt. Vielleicht weil ich nicht auf den Kuss eingegangen war. Vielleicht hatte sie meine Zurückweisung verletzt und sie hatte deswegen einfach überreagiert. Dass wir den Prototypen nicht verkaufen wollten, war doch unsere Entscheidung. Leroy hatte das eingesehen, Riley hatte es aber irgendwie extrem persönlich genommen.
„Dawson?" Sams Hand deutete auf den Teller. „Isst du das noch?"
„Wie?"
„Du starrst jetzt schon seit einiger Zeit nur auf den Teller und wenn du nicht mehr weiterisst, dann könntest du einfach gehen und ich den Tisch abwischen. Naja, du weißt schon. Kehren, rauswischen."
An diesem Abend fuhr ich das erste Mal, seit ich dieses Kaff betreten hatte, am Freitagabend nicht mit in die Bar. Als Ausrede schob ich das Motorrad vor, dass ich schleunigst zusammenbasteln musste. Offenbar war ich glaubwürdig genug: keiner fragte nach oder warf mir einen schrägen Blick zu. Abraham ermahnte mich nur sehr ernst, aufzuhören, wenn meine Konzentration nachließ, was ich ihm zusicherte. Fehler konnten wir uns kurz vor der Präsentation nicht mehr leisten. Vor allem ich konnte sie mir nicht mehr leisten. Zum ersten Mal seit langem hatte ich Existenzängste. War besorgt, dass Abraham, wenn ich einen bestimmten Punkt überschritt, die Geduld mit mir verlieren würde, obwohl ich der Vater seiner Enkeltochter war.
Gegen Mitternacht, als meine Augen brannten, als hätte ich den Abend in einer verrauchten Kneipe durchzecht, musste ich mir eingestehen, dass ich völlig am Ende war. Vorsichtig kreiste ich mit den Schultern, um meine Verspannungen zu lösen. Meine Wirbelsäule knackste dabei protestierend und als ich den Kopf drehte, hörte ich das feine Knirschen von Sandpapier zwischen den Wirbeln meines Halses.
Mit einem letzten Blick auf die neue Izzie löschte ich das Licht in der Werkstatt und stieg mit ächzenden Knien die Treppe hoch. Dort führte mein erster Weg mich an den Fenstern vorbei, die ich aufriss, zum Kühlschrank. Die abendliche Hitze unter dem Dach war vermutlich das, was ich am wenigsten vermissen würde, wenn ich auszog. Was mir fehlen würde, war aller Wahrscheinlichkeit nach der Ausblick über den stillen Garten auf den Waldrand. Wenigstens die funkelnden Sterne, die den mattschwarzen Himmel sprenkelten, würden die gleichen bleiben. Nur mit dem Unterschied, dass ich on der Veranda aus in die andere Richtung blicken musste.
Bevor ich mich auf die oberste Treppenstufe setzte, kehrte ich noch einmal um und suchte ein Feuerzeug für die Zigarette, die ich unten aus Rourkes Schachtel stibitzt hatte.
Schon als ich den Glimmstängel anzündete, musste ich husten. Was für eine bekloppte Idee. Das letzte Mal, das ich geraucht hatte, lag ebenso viele Jahre zurück wie die Erkenntnis, das es ein völlig sinnloser Zeitvertreib war. Dennoch war ich der Hoffnung erlegen, es könnte entspannend sein, in den Himmel zu blicken, an der Zigarette zu ziehen und ein oder zwei Bier zu trinken.
Nun musste ich mir eingestehen, mich getäuscht zu haben. Als ich die Kippe ausdrückte, brodelte in mir noch immer die gleiche Rastlosigkeit, mit der ich heute Stunde um Stunde in der Werkstatt verbracht hatte. Ich stützte meinen Kopf in die Hände, die Augen hatte ich auf das Holz zwischen meinen Füßen gerichtet, ohne wirklich zu sehen, was ich in der Finsternis anstarrte. Ich war viel zu sehr mit den wirren Gedanken beschäftigt, die durch meinen Kopf stoben wie Funkenregen.
Mit einer Klarheit wie nie zuvor sah ich mein bisheriges Leben aus der Vogelperspektive. Ich war ein verdammter Versager. Ich war in der Psychiatrie gewesen, hatte einen Berg Schulden gemacht, eine Frau geschwängert, eine Unschuld zerstört und mein Studium abgebrochen. Ich versaute ein Ding nach dem anderen. Selbst mit Riley hatte ich es mir ziemlich verbockt. Und das nicht erst gestern. Warum war sie trotzdem mit Lio hergekommen? Wirklich nur, weil es ihr zu Hause nicht mehr gab?
Ich lehnte mich nach hinten uns stützte die Ellbogen auf die Holzbohlen. So blickte ich zu den funkelnden Sternen auf, fand dort aber keine Antwort auf meine Fragen, die ich am besten Riley hätte stellen sollen, als sie hier war. Bei mir. Dafür war ich zu verblendet gewesen. Genau wie vor zwei Jahren. Da hatte ich bereits völlig falsch reagiert. Statt Riley Vorwürfe zu machen, hätte ich mir besser diesen Thomas vorgeknöpft und gezwungen diese Bilder zu vernichten.
Das blöde an Reue war, dass sie meistens zu spät kam. In diesem Falle zwei Stunden nach Mitternacht. Keine Zeit, zu der ich Riley anrufen sollte, wenn sie am Morgen trainieren musste. Also entschied ich mich ihr eine SMS zu schreiben. „Es tut mit leid, Riley. Können wir bitte reden?"
Zufrieden machte mich die Nachricht nicht. Was ich meinte war eher: „Ich vermisse Dich, Häschen. Komm bitte zurück."
Zwei weitere Biere lang beobachtete ich mein Handy mit Argusaugen, weil ich hoffte, dass sie antworten würde. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich über die rauen Erhebungen der Narben auf meinem Unterarm rieb. Gott, diese Warterei und die Anspannung waren zermürbend. Atemtechnik half kein bisschen und die Vorstellung, das Riley vielleicht gerade jetzt auf dem Weg nach Salt Lake City zu Leroy war, raubte mir das letzte bisschen Verstand, das ich gebraucht hätte, um meine Atemzüge zu zählen.
Drei Tage verbrachte ich in diesem Zustand zwischen hoffen und warten. Mehrmals rief ich Riley an, dann schrieb ich ihr. Abends schlich ich in dem Bewusstsein, etwas unendlich Wertvolles endgültig verloren zu haben die Treppe hinauf, trank mehr Bier als an Arbeitstagen gut war, tauschte dann meine brennende Sehnsucht gegen einen brennenden Unterarm.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top