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Matt ließ ich mich auf eine Bank sinken, die ich ein stückweit den Weg zurück entdeckt hatte. Dort normalisierte sich mein Blutdruck und mein Denken setzte langsam wieder ein. Ohne Vorwarnung begannen wieder Tränen über mein Gesicht zu rinnen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so wehtun würde, ihn wiederzusehen. Er sah dem Dawson, in den ich mich verliebt hatte und den ich lange schmerzlich vermisst hatte, noch immer ähnlich. Dieselben funkelnden Augen, der kantige Kiefer, die Nase, die ein wenig schief war und diese vollen Lippen. Nur seine Haare trug er anders. Hinten kürzer, aber mit einem Scheitel. Ein paar Strähnen waren in seine Stirn gefallen, was ihn ein wenig sanfter wirken ließ.

Gleichzeitig war er grob und rücksichtslos wie immer gewesen, eine solche Aussprache vor anderen zu erzwingen. Möglicherweise hatte ich ihn durch meine unüberlegte Äußerung in die Enge getrieben. Was wusste ich schon. In meinem Kopf herrschte Chaos, mein Herz stach schmerzhaft, wenn ich an Dawsons wutverzerrtes Gesicht dachte. Insgeheim hatte ich auf ein etwas friedlicheres Miteinander gehofft. Immerhin war viel Wasser den Mississippi runtergeflossen, seit wir uns zuletzt gesehen hatten. Doch Hoffnung war ein zweischneidiges Schwert und wenn man sich zu sehr darauf stützte, dann wurde man verletzt. Wieder und wieder, bis man blutleer und nur als leblose Hülle zurückblieb.

Rascheln in dem undurchdringlichen Dickicht hinter mir ließ mich aufhorchen und ich wischte mir hastig meine heißen Tränen aus dem Gesicht. Das Gespräch mit Lio im Auto geisterte sofort durch meinen Kopf. Bären. Raubkatzen. Und eine Jungfrau, die allein in den Wald rennt. Das klang nach dem perfekten Drehbuch für einen üblen Horrorfilm mit scharfen Krallen, zerfetzten Kehlen und verdammt viel Blut.

Nur, hatte ich nicht vor, die Vorlage für einen Film zu bieten, in dessen Vorspann in ein paar Jahren zu lesen wäre, er beruhe auf einer realen Begebenheit.

Blöd war, dass das Rascheln lauter wurde und näherkam. „Falls das ein Witz sein soll, kann ich darüber nicht lachen, Dawson!", rief ich in der Hoffnung, es möge sich nur um ihn und nicht um andere Fleischfresser handeln. Vielleicht fand er es lustig, mich mal wieder zu erschrecken, wie damals vor der Waldhütte bei Stacey.

Das Rascheln hielt inne, dann wurde es erneut lauter, es änderte die Richtung. Scheiße, das war sicher nicht Dawson, dann das Rascheln bewegte sich sehr rasch und zielgerichtet durch das dichte Grün auf mich zu. Mein Ruf hatte es wohl erst angelockt.

Meine Fluchtinstinkte versagten ausgerechnet in diesem Moment kläglich. Starr fixierte ich die Blätter und Zweige, die sich in stetig kürzerer Entfernung immer rascher bewegten. Wie war das noch mal? Lärm machen? Wegrennen? Totstellen? Auf den Baum klettern? Wie zur Hölle sollte ich das entscheiden, wenn ich keine Ahnung hatte, welches Tier sich gut getarnt auf mich zu bewegte.

Erschrocken quiekte ich, als eine riesige graubraune Kreatur aus dem Unterholz sprang. Blauschwarz schimmernde Augen musterten mich, die zu nichts weiter als einem Hund gehörten. Zugegeben, er war groß. Sein Kopf reichte mir beinahe bis zur Hüfte. Bedrohlich wirkte er aber nicht, wie er leicht nach vorne gelehnt dastand und, die rechte Vorderpfote in der Luft verharrend, in meine Richtung schnupperte. Er stellte den Fuß ab und bellte. Dabei entblößte er lange gelbliche Zähne. Die waren beängstigend. Hoffentlich hatte er schon zu Abend gegessen.

„Hey, du", sagte ich freundlich und kein bisschen sicher, was ich damit erreichen konnte oder wollte, wenn ich einen fremden Hund höflich begrüßte. Am liebsten wollte ich, dass er verschwand. Dahin zurückging, woher er gekommen war. Der Wunsch wurde mir nicht erfüllt. Lediglich hörte das laute Bellen auf. Dafür kam das Tier nun langsam auf mich zu. Reglos verfolgte ich seine Bewegungen und mein Herz verfiel in ein nervöses Flattern, das sich verstärkte, als der Hund an meinen Füßen schnupperte, die in Sandalen steckten, und dann über meine Zehen leckte. Sekunden später trottete er desinteressiert davon.

Für mich war das der Startschuss, um den Wald zu verlassen. Ich folgte ohne zu zögern dem Weg, den ich gekommen war. Mehr als ein paar Meter weit kam ich nicht, dann kehrte das Tier bereits mit wehenden Ohren zurück. Wieder bellte der Hund wie verrückt. Diesmal drehte er sich obendrein wie ein Irrer um sich selbst. Langsam wurde mir etwas mulmig. Bellende Hunde, waren angeblich nicht bissig. Doch bei dem war definitiv was falsch verkabelt. Bei dem Theater das er machte, ging ich vorsichtshalber davon aus, dass er nichts mit Redewendungen am Hut hatte und hielt ein wenig mehr Abstand. Allerdings war ein guter Plan von Nöten, wie man Abstand von etwas hielt, das wie ein wilder Derwisch immer näher rückte, wenn ich rückwärtsging.

„Aus!", forderte mürrisch eine unverkennbare Stimme. Ich verdrehte die Augen. Da kam wohl der Held, um die Jungfrau zu retten. Im nächsten Moment bewegte sich Dawson um die Ecke. Ich freute mich unbändig ihn zu sehen. Etwa zwei Sekunden lang, bis er mich anblökte: „Sowas kannst echt nur du bringen! Allein in einen fremden Wald zu rennen, ist völlig bescheuert!"

Nett, wie immer, der Gute. Seine Tirade ging gleich weiter, ohne dass ich nur ein Wort zu meiner Verteidigung hervorbringen konnte. „Wann wirst du lernen, keine Alleingänge zu unternehmen? Ohne Scheiß, Riley, das war eine ganz bescheuerte Idee. Die Ranger suchen vermisste Touris oft tagelang und wenn sie gefunden werden, sind sie halb verhungert, dehydriert und unterkühlt."

Gegen Ende seiner Litanei wurde Dawsons Stimme etwas sanfter und er fuhr sich durch die Haare, die anschließend in liebenswertem Chaos über seinen Kopf fielen.

„Bist du okay?", fragte er mich besorgt und musterte mich eingehend von Kopf bis Fuß.

„Natürlich bin ich okay. Ich hab mich doch nur da vorne auf eine Bank gesetzt und kurz verschnauft." Ich deutete in die entsprechende Richtung und erntete einen überraschten Blick und ein Kopfschütteln. „Kurz? Riley, verdammt! Es ist fast zehn! Du warst beinahe drei Stunden weg und es dauert nicht mehr lange, dann ist es stockfinster!" Der Vorwurf in Dawsons Stimme war nicht zu überhören, seine Sorge ebenfalls nicht. Beinahe drei Stunden hatte ich in meinem Elend geschwelgt? Ach du meine Güte!

„Tut mir leid", murmelte ich und starrte betreten auf unsere Füße. Seine steckten in schweren Wanderstiefeln, nicht mehr in Arbeitsschuhen. Die ölverschmierte graue Hose hatte er gegen lange Cargohosen getauscht. Aus einer Tasche seitlich am Bein ragte der schwarze Griff einer großen Taschenlampe hervor. Es war eine von diesen schweren Dingern, mit denen man nicht nur bis in den Weltraum leuchten konnte, sondern wahlweise auch Tiere blenden oder Gegner erschlagen. Um seine Hüften hatte er eine Jacke gebunden.

Peinlich berührt von der Tatsache, dass er wie das Mitglied eines Suchtrupps aussah, setzte ich hinzu: „Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht. Mir wurde das in der Küche nur einfach alles zu viel."

„Schon gut, Riley", murmelte er milder. „Hund hat dich zum Glück schnell gefunden."

Lobend strich er dem großen Vierbeiner über den massigen Schädel und kraulte ihn liebevoll hinter dem Ohr.

„Das war aber nicht schwer. Weit bin ich gar nicht gelaufen. Und den Weg hab ich mir genau gemerkt."

„So? Hast du das?" Dawson lachte boshaft. „Nur blöd, dass die einzige Bank weit und breit, gar nicht dort steht, wohin du gezeigt hast, sondern dahinten." Mit ausgestrecktem Arm deutete er in die andere Richtung. Dann wurde er schlagartig ernst.

„Trag in Zukunft dein Handy bei dir, okay? In Lios Auto hilft es dir nichts. Oder nimm wenigstens Hund mit. Der findet hier von überall nach Hause."

Wieder reagierte das Tier mit einem Schwanzwedeln. Als wüsste er genau, wann Dawson über ihn sprach. Wie überaus seltsam. Dann kapierte ich es.

„Hund? So nennt ihr ihn nicht wirklich, oder?" Mitleidig sah ich das namenlose Tier an, das neben Dawson auf dem Waldboden hockte und unser Gespräch verfolgte, als könnte er jedes Wort verstehen.

„Ich fürchte schon. Er hieß schon Hund, als ich hier anfing zu arbeiten und er hört darauf. Kein Grund etwas zu ändern, das gut funktioniert."

Ganz verstehen konnte ich das Konzept nicht. Gab es nicht immer Luft nach oben?

„Aber wieso gibt ihm niemand einen Namen? Wem gehört er denn?", wollte ich wissen.

Dawson kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Nicht mal das ist ganz klar. Sams Ex hat ihn einfach hiergelassen. Naja, ich schätze mal, Sam müsste seinen Namen wissen. Aber sie mag Hund einfach nicht. Er ist schmutzig. Er riecht. Er frisst Fleisch."

„Armer, kluger Hund!", sagte ich teilnahmsvoll und als er Hund hörte, wedelte er wieder. Das war niedlich, stellte ich fest. Selbst bei seiner Größe und den bedrohlichen Eckzähnen.

„Hör mal, ich sag den anderen schnell Bescheid, dass ich dich gefunden habe. Dann bringe ich dich zu Sam, okay?"

Ich nickte und beobachtete unauffällig Dawsons konzentrierte Miene, als er mit seinen langen, schlanken Fingern auf sein Handy tippte. Das Display beleuchtete seine markanten Züge und seine Augen schimmerten in dem bläulichen Licht türkis. Er war noch immer ein Bild von einem Mann, wenn er nicht gerade kochte vor Wut. Vom Scheitel bis zur Sohle wirkte er durch und durch maskulin. Nicht so, als hätten ihn die Dämonen seiner Vergangenheit Jahre lang in einem eisernen Klammergriff gehabt. Mein Blick wanderte zu seinem Arm. Das Shirt endete zwar in der Mitte seines beeindruckenden Bizeps, doch um die vielen feinen Narben auf seinem Unterarm im Einzelnen zu betrachten, war es zwischen den Bäumen bereits zu dämmrig. Doch ich wusste genau, wo sich das Spiegelbild seiner Seele auf dem Körper abbildete und konnte zumindest die Konturen der vernarbten Fläche erahnen.

Auf Dawsons Befehl hin führte uns Hund tatsächlich aus dem Wald. Und das nicht etwa durch das Unterholz, sondern immer schön den Weg entlang, bis wir wieder zum Garten gelangten. Das war besser als jede Zirkusnummer.

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