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„Riley ist nicht normal", stellte Sam fest, als sie ihre Tasche punkt halb acht neben dem Schreibtisch fallen ließ.

Über meinen Bildschirm hinweg sah ich zu der Schwarzhaarigen hinüber. „In wie fern?", erkundigte ich mich.

„Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war Riley auf der Veranda und hat Handstand gemacht." Sam berichtete das mit einer so beredten Mischung aus Faszination und Abscheu, dass sofort klar war, dass das noch nicht alles war. Nachzufragen brauchte ich nicht, denn schon sprudelte Sam weiter: „Sie kann Liegestütze über Kopf. Also, Grady, ich hab keine Ahnung, wie man das nennt. Aber sie knickt die Arme ein, bis ihr Kopf fast den Boden berührt und dann drückt sie sich wieder hoch!" Sam schüttelte den Kopf. „Ich dachte sie ist Schwimmerin, nicht Artistin! Sie hat Klimmzüge am Apfelbaum gemacht. Liegestütze mit... Himmel, Grady, ich weiß nicht mal wie ich es beschreiben soll. Das ist nicht normal, sag ich dir!" Mit klappernden Schuhen verließ Sam das Büro.

Grübelnd starrte ich auf meinen Bildschirm. Das war wirklich nicht normal. Sie trainierte. Sie schwamm auf Turnieren. Sie studierte. Wann hatte sie Zeit, sich so einen Mist anzueignen?

Als ich Lio ein wenig später darauf ansprach, hatte er nur einen abfälligen Blick für mich übrig. „Andere lösen in ihrer Freizeit Kreuzworträtsel oder spielen Wii. Sie macht eben das. Und das wüsstest du, wenn du nicht einfach in Sweet Home Alabama abgetaucht wärst und dich um nichts gekümmert hättest."

Seine Stimme hatte einen vorwurfsvollen Unterton angenommen und ich fühlte mich in eine Verteidigungsposition gedrängt.

„Man hält seiner Exfreundin nach der Trennung üblicherweise nicht die Hand, Lio!"

„Unter normalen Umständen kann man seinen Freunden aber erzählen, was einen belastet und hält es nicht aus falschverstandener Solidarität geheim. Anscheinend wusste außer Euch beiden nur Miles Bescheid. Und der war hunderte Kilometer entfernt! Sie war unglücklich und allein, Dawson. Sie hat sich total zurückgezogen und keiner wusste warum! Wir konnten ihr kein bisschen helfen."

Aus dem Vorwurf wurde Entrüstung. „Und dass du mir und Chad nichts erzählt hast, darüber will ich mal lieber nichts sagen. Chad war völlig down gestern Abend. Wir haben mit dir so viel durchgestanden. Etwas mehr Vertrauen wäre gut gewesen. In uns. In Riley. Ihr wart zusammen!" Er warf die Hände in die Luft. „Und du unterstellst ihr, sie wäre fremdgegangen? Wie kannst du so blöde sein, sowas zu glauben?"

„Ich hatte gute Gründe, es zu glauben. Und es ging nicht nur darum! Jetzt geh mir nicht weiter auf den Sack. Ich hab zu arbeiten!"

„Und ich bin zum Spaß hier, oder was?" Lionel musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. „Du hast gesagt, du bräuchtest Hilfe! Vielleicht hättest du besser einen Psychologen angerufen?" Er tippte sich gegen die Stirn. „Du bist nicht ganz richtig im Kopf, Dawson. Da kann ich wirklich nichts tun! Da muss ein Fachmann ran!"

Ich blies die Backen auf und pustete die Luft aus. Lio war von meinen Freunden immer der chillige. Der, der davon ausging, dass alles in Ordnung kommen würde, weil das Universum sich um die Dinge kümmerte. Dass er so in Rage war, hieß nichts Gutes. Doch in diesem Falle kannte er nur die Hälfte der Fakten und wenn Riley ihn nicht einweihte, würde sich das nicht ändern.

Tief atmete ich durch und wendete mich dem Bildschirm zu. Doch mehr als eine halbe Mail zu lesen, schaffte ich nicht. Sekunden später platzte Riley ins Zimmer. „Er macht es!"

Dieser Satz markierte den Tiefpunkt dieses Tages, denn es bedeutete, dass Leroy die Izzie über die Salt Flats steuern würde. Ein Umstand der tragbar gewesen wäre, wenn es nicht gleichzeitig bedeutet hätte, dass Riley mitflog, um ihren Freund zu sehen. Und die beiden zusammen wollte ich mir echt nur ungern ansehen. Noch weniger wollte ich hören, dass er nett war, dass es vernünftig war. Diese ganzen Argumente waren mir egal. Ich wusste all die Dinge, die Riley aufzählte und ich stimmte zu hundert Prozent zu, dass es eine tolle Sache war, wenn ein Profi das Limit ausreizte und nicht ein Anfänger wie ich.

„Ich kann ihn einfach nicht abhaben", fasste ich zusammen, was ich entgegen jeder Vernunft empfand, meinte aber viel mehr, dass ich ihn mit Riley zusammen nicht abhaben konnte.

Meine Verärgerung über die ganzen Umstände ließ ich an diesem Vormittag an Riley aus. Dass sie mich zur Gärtnerei begleitete nervte ungemein, denn gerne hätte ich mich damit abreagiert, schwere Säcke mit Mulch auf den Truck zu werfen und mich dabei richtig zu verausgaben. Stattdessen musste ich versuchen, mit Riley zusammenzuarbeiten und scheiterte an dieser Aufgabe kläglich. Wie überfordert sie war, bemerkte ich erst, als sie unter der Last der Arbeit buchstäblich zusammenklappte.

Sie und ihr verdammter Stolz und ich und meine dämliche Sturheit waren eine gefährliche Kombination, die Riley ernsten Schaden hätte zufügen können. Sie hatte geschwankt und nur knapp hatte ich sie abfangen können, bevor sie mit dem Arsch auf die Ladefläche knallte und von einem blöden Plastiksack begraben wurde. Ich spürte ihre angestrengten Atemzüge, als ich sie mit einem Arm um ihre Taille hielt, fühlte, wie ihre Muskeln zitterten. Doch ich empfand in diesem Augenblick noch eine ganze Menge mehr.

Besorgnis, weil sie erschöpft war. Respekt und Hochachtung, weil sie über ihre Grenzen ging, ohne zu jammern. Und eine tiefe Zuneigung, die meinen Brustkorb sanft wärmte, wie eine Infrarotlampe frisch geschlüpfte Küken. Genau dieses Gefühl veranlasste mich, sie abrupt loszulassen. Mich daran zu erinnern, welchen Kahlschlag ich in ihrem Leben bereits angerichtet hatte und wie die Konsequenzen aussehen konnten. Wir lebten in Zeiten der Doppelmoral, wo Rapper Drogen, Gewalt und lieblosen Sex verherrlichten, gleichzeitig aber übertriebene Prüderie einer jungen Frau wie Riley nach einem Fehltritt das Leben schwer machen konnte.

Ich hätte mich um diese Sache kümmern müssen. Aber was hatte ich getan? Mich feige verpisst und so getan, als würde mich das nichts angehen.

Bei jedem Loch, das ich am Nachmittag aushob, stellte ich mir vor, Bowbridge ein frühes Grab zu schaufeln, was aber keine echte Lösung darstellte. Man würde seinen Nachlass sortieren, dabei auf Riley in dieser verflucht hotten Unterwäsche stoßen. Himmel, dieses Foto, wo sie an der Tür stand. Die Augen schüchtern direkt auf den Betrachter des Bildes gerichtet. Die Erinnerung ließ mein Herz kurz aussetzen. Verbissen schaufelte ich das nächste Loch für einen Lavendelstock in dem Bewusstsein, dass Thomas Bowbridge der Mann war, den ich am meisten hasste. Egal, was ich anstellte, er würde die Fotos von Riley niemals vernichten und dieses Wissen verwandelte mich in ein Wesen, das in etwa so reizbar war, wie ein Schwarm Hornissen im Herbst.

Mein Blick fiel auf Riley, die schweigend neben mir kniete und die letzten Grassoden aufhob, um sie in die Schubkarre zu legen. Ihr Nacken war feuerrot von der Sonne, Schweiß sammelte sich auf ihrem Rücken und tränkte das Shirt, das sie von Sam ausgeliehen hatte. Es fiel mir schwer zu ignorieren, dass sich ihr BH unter dem feuchten Stoff abzeichnete, der eng an Rileys Rücken anlag. Sie war muskulöser als Sam, das war nicht zu leugnen. Selbst die Ärmel, die bei Sam locker saßen, schmiegten sich an Rileys Oberarmmuskeln, die bei jeder Bewegung andere Täler und Hügel bildeten.

Ich stützte mich auf den Spaten und sah ihr nach, wie sie die Rasenstücke mit der Schubkarre wegfuhr. Ihr Hintern sah selbst in den Arbeitshosen zum Anbeißen aus. Bei dem Gedanken, dass sie morgen mit uns weggehen würde, wurde mir schlecht. Terence warf ihr schon ständig interessierte Blicke zu, wenn er zum Rauchen rauskam. Vermutlich würde jeder Typ zwischen fünfzehn und tot sie angaffen, wenn sie in ihrer verdammt knappen Kleidung in einer Bar auftauchte. Konnte ihr denn niemand sagen, was sie für eine Wirkung hatte, wenn sie so rumlief? Ich fuhr mir durch die Haare. Oder fand nur ich sie dermaßen heiß?

Nein, eindeutig nicht. Terence, der gerade zusammen mit Rourke und einer Tasse Kaffee rauskam, blickte in meine Richtung. Als er Riley nicht fand, schweifte sein Blick weiter, bis er sie entdeckte. War es okay, ihm die schmutzigen Gedanken auszuprügeln, die sich in seinem Gesicht abzeichneten und in einem versonnenen Lächeln gipfelten?

Mit einem genervten Schnauben, weil Sam mich für Gewalt gegen Mitarbeiter kündigen würde, machte ich mich daran, den nächsten verfluchten Krater auszuheben, in den eine Rose gesetzt werden sollte.

„Ich geh rauf zum Duschen, Riley. Wenn du willst, dann kannst du dich gerne bei mir frisch machen. Oder unten in der Werkstatt. Da gibt es auch einen Waschraum, nur kann man den nicht abschließen."

Sehnsuchtsvoll sah sie mich an, als ich von Wasser sprach. Himmel, für diesen Blick hätten mächtige Männer Kriege angezettelt, da war ich mir sicher. „Duschen klingt phantastisch!", seufzte sie. „Ich seh bestimmt aus wie ein Troll und rieche noch schlimmer!", fügte sie dann hinzu.

„Ich sag dir Bescheid sobald ich fertig bin", murmelte ich, ehe ich ihr unbedacht mitteilen konnte, dass sie selbst verschwitzt einfach sexy aussah. Liebend gerne hätte ich ihr den Schweiß von ihrem Hals geküsst, bevor ich sie nackt unter meine Dusche schob. Die Vorstellung, sie von Kopf bis Fuß mit Duschgel einzureiben und mit meinen Händen über ihre feuchte schlüpfrige Haut zu fahren, ihren nassen Hals zu küssen, hatte eine geradezu hypnotische Wirkung. Nur mit Mühe gelang es mir, die Augen von ihr zu lösen und die Treppe hoch zu laufen, bevor sie meine körperliche Reaktion bemerkte, die sicher Fragen aufgeworfen hätte. Seit wann verdammt noch mal hatte ich mich so gar nicht mehr unter Kontrolle?

Hastig schüttelte ich Decke und Kissen auf, schob die Schmutzwäsche mit dem Fuß unter das Bett und kippte das Fenster. Wer rechnete schon am Donnerstagnachmittig mit spontanem Frauenbesuch. Ich jedenfalls nicht und das sah man auf den ersten Blick. Schnell ordnete ich noch den Schlafsack und das Kissen in Izzies Bett und schob die Heftchen, die nicht für Rileys Augen vorgesehen waren, in die Nachttischschublade. Hach ja, die Doppelmoral, selbst ich war nicht ganz gegen sie gefeit. Mann hatte eben manchmal Bedürfnisse. Zum Beispiel jetzt. Nur war für die keine Zeit. Ich hatte schon zu viel Zeit mit dem hektischen Aufräumen verbracht, eine verdammt kalte Dusche würde das Thema zumindest vorläufig beenden.

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