27
„Boah, wo wart ihr so lange?" beschwerte sich Sam, als wir am Nachmittag in die Werkstatt kamen.
„Freut mich auch, dich zu sehen. Donut?", antwortete ich achselzuckend.
„Oh, Grady! So hat mich schon lange niemand mehr genannt! Wie süß!" Kokett klimperte Sam mit den Wimpern und Chad schnaubte genervt. Geschah ihm recht. Sam war absolut heiß. Die Mutter meiner Tochter ohne Erklärung einfach nach Hause zu verfrachten, sollte schon ein bisschen wehtun. Aber nur ein bisschen. Ich hielt ihr die Schachtel mit Süßigkeiten entgegen, bevor sie es mit dem Flirten übertrieb.
„Ne, vergiss es. Das zieht nicht. Also? Wo habt ihr gesteckt? Soweit ich im Bilde bin, beginnen deine Arbeitszeiten um sieben. Nicht um drei am Nachmittag."
„Es gibt noch einen mit Honigglasur", antwortete ich ihr und sah ihren Widerstand bröckeln. Gier trat in ihre blauen Augen, als sie den Donut aus dem Karton nahm. Genussvoll stöhnte sie und ich litt mit Chad. Allein dieses Geräusch von Sam reichte, um auf dreckige Gedanken zu kommen.
„Mann, ist der lecker!", schmatzte sie. „Leroy Fitz hat angerufen", verkündete sie dann übergangslos mit vollem Mund. „Dreimal. Wenn du Überstunden abbummelst, sag das nächste Mal Bescheid. Ist peinlich, wenn ich ihn immer wieder vertröste. Seine Nummer hab ich dir auf den Tisch gelegt."
„Was will er?", klopfte ich das Thema ab, bekam ein ratloses Gesicht und die vage Antwort: „Keine Ahnung. Dich sprechen?"
„Ach echt?", schnurrte ich. „Was bist du für eine lausige Sekretärin, wenn du nicht mal die einfachsten Infos erfragen kannst."
„Eine, die gut aussieht?", mutmaßte sie und verschlang das letzte Stück ihres Teilchens.
„Donuts?" Terence kam ins Büro und lugte in die Schachtel. „Kann ich da einen haben?" Wie immer, wenn er mich mit seinen braunen Hundeaugen ansah, wurde mein Herz weich. Trotzdem musste ich ihn immer wieder aufziehen. Wie alle.
„Nur wenn du ihn nicht anzündest", verarschte ich ihn und hielt ihm und Rourke den Karton unter die Nase.
„Was ist mit dir?" Sam wandte sich an Chad, der etwas abseits stand und nach Sams Flirt missmutig vor sich hinstierte. „Isst du keinen?"
Sie schenkte Chad ein Lächeln und durchquerte mit wiegenden Hüften den Raum, um ihm den Karton zu reichen.
„Kaffee dazu?", fragte sie dann.
„Gerne, aber nur eine halbe Tasse."
Ich schüttelte frustriert den Kopf. Niemand trank hier halbe Tassen. Wenn Chad als Sonderling enden wollte, dann war er auf einem guten Weg. Zum Glück war das nicht mein Problem. Mein Problem hieß jetzt erstmal Leroy Fitz. Ob ich wollte oder nicht, ich musste ihn zurückrufen und mir anhören, was er zu sagen hatte. Nach ein wenig Small-Talk kam er zur Sache.
Im Anschluss an das Telefonat sahen mich alle erwartungsvoll an. „Er will ein Motorrad bei uns kaufen. Aber nicht irgendeine Maschine. Er will unseren Prototypen."
„Wow", sagte Sam. „Ich denke nicht, dass Dad verkaufen will. Das Teil ist sein Baby."
„Unser Baby", korrigierte eine tiefe Stimme von hinten und eine große Hand legte sich auf meine Schulter. Man hätte es als Geste der Zuneigung interpretieren können, hätte sich nicht im selben Moment Abrahams massiger Körper zur Hälfte an mir vorbeigeschoben und seine zweite Hand den vorletzten Donut aus dem Karton geangelt. Den ohne die Zuckerglasur und die vielen bunten Streusel, die den letzten Donut eindeutig als Izzies Teilchen auswiesen.
Mit vollem Mund relativierte Abraham: „Er kann die erste Serienmaschine haben. Mehr kann ich nicht für ihn tun."
Alle nickten zustimmend. Selbst Chad, den das Thema am wenigsten betraf, wackelte mit dem Kopf. Dann machte sich jeder wieder an die Arbeit und ich begann endlich mit meiner.
Die Zeit bis zum Abendessen verging wie um Flug. Rourke hatte mir und Terence eine der alten Unfallmaschinen in die Werkstatt geschoben und uns gesagt, welche Teile er für die Reparatur einer älteren Maschine benötigte und schweigend zerlegten der dunkelhaarige Neunzehnjährige und ich das Wrack Stück für Stück und legten auf die Werkbank, was Rourke brauchte.
Gegen halb sieben klingelte mein Handy. Notdürftig wischte ich erst meine schmutzigen Mechanikerfinger ab und dann über das Display, um den Anruf von Lio anzunehmen.
„Hey, Alter, sag mal, wo ist denn diese Werkstatt? Ich irre jetzt seit einer Stunde hier herum und find den Abzweiger nicht!"
„Wo bist du?", fragte ich.
„Keine Ahnung! Hier sind nur lauter Bäume und Feldwege und so."
Ich lachte. Das war mal wieder typisch für meinen verpeilten Freund, sich zu verfahren und das so, dass man ein Bergungsteam brauchte, ihn zu finden.
„Man nennt es Wald, Lio! Schick mir mal deinen Standort. Ich hol dich ab."
„Ist gut, mach ich. Bis gleich."
Kurz darauf lachte ich und schüttelte den Kopf über Lio. Wie schaffte man es, statt umzukehren immer tiefer in den Wald zu fahren? Er hatte eine schlechtere Orientierung als Izzie.
„Terence, kann ich mir dein Moped leihen? Ich muss meinen Kumpel einsammeln und wenn ich hinten am Teich vorbei und über die Anhöhe fahr, bin ich in drei Minuten da."
Terence nickte. „Klar." Ich wartete, dass er noch mehr von sich gab, da kam aber nichts. Wo Abraham immer die schweigsamen Typen hernahm, war mir ein Rätsel. Rooney hatte schon wenig geredet, gelegentlich aber ganze Sätze gebildet. Bei Terence waren Zwei-Wort-Kombinationen, die ein Verb enthielten, bereits der Hauptgewinn.
Durch den Wald war es nicht sonderlich weit bis zu Lios Standort, aber der Weg war anspruchsvoll. Ich fuhr nur sehr selten off-road. Das war eher ein Hobby von Terence, aber ich stellte fest, dass es Spaß machte und ich war sehr gespannt auf Lios Blick, wenn ich durch den Wald und nicht über den Forstweg kam.
Mit blockierenden Reifen kam ich zum Stehen, nahm den Helm ab und erstarrte. Meine ganze Welt kam stockend zum Stillstand, um sich dann schwindelerregend schnell wieder in Bewegung zu setzen und mich mit Erinnerungen zu überfrachten. Dann kochte Zorn in mir hoch. Im ersten Augenblick konnte ich es fast nicht glauben. Wie konnte sie es wagen, hier aufzutauchen, in der Riley-freien-Zone? Wie konnte Lio auf die Idee kommen, sie hierherzubringen?
Das waren meine ersten Gedanken. Der zweite war: wo würde sie schlafen? Und das brachte mich zu Sam. Sie musste davon gewusst haben, denn sie hatte die Zimmer gebucht. Für Chad und für Lio.
Und wohl eins für Riley.
Natürlich war ich wütend. Natürlich war ich enttäuscht. Und natürlich benahm ich mich vor allen wie ein bockiges Kleinkind. Das tat ich nämlich immer, wenn mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Zur Vernunft kam ich meistens erst dann, wenn ich jemanden richtig verletzt hatte. In diesem Falle, wie so oft, Riley. Sie bot mir im Gegensatz zu Sams knallharten Kontern viel mehr Angriffsfläche, um mich emotional auszutoben. Im Gegensatz zu Sam konnte ich Riley aber viel tiefer verletzen, weil sie einfach keine Schutzmechanismen zu besitzen schien.
Das wurde mir jedoch erst bewusst, als ich ihren spitzen Ellbogen in die Seite bekam, als sie flüchtete. Vor mir. Eine gesunde Reaktion. Sich von mir fernzuhalten, war das Beste, was sie tun konnte. Blöd war nur, dass sie in Richtung Wald lief, was größere Gefahren mit sich brachte als meine Nähe.
Dass Lio behauptete, sie käme zurück, wollte ich zu gerne glauben. Er hatte in den vergangenen zwei Jahren mehr Zeit mit ihr verbracht als ich und nicht nur in diesem Zeitfenster, sondern schon lange davor. Zeitweise hatte Riley bei ihm und seiner Familie gewohnt. Noch immer verband sie eine tiefe Freundschaft mit seiner jüngeren Schwester, die mit Rileys Bruder eine glückliche Beziehung führte. Ihm in seiner Einschätzung zu vertrauen, fühlte sich richtig an. Also setzte ich mich zu den anderen an den Tisch.
„Miles und Stacey sind gerade in Paris", berichtete Lio und spießte ein Paar Nudeln auf. „Das mit Notre Dame ist halt schade. Sie hätten sich die Kathedrale gerne angesehen."
„Ich denk in Paris haben sie schon so genug zu besichtigen", bemerkte Rourke. „Berta und ich hatten zwei Wochen in Paris und hätten noch drei bleiben können und hätten doch nicht alles gesehen."
Interessiert sah ich zu ihm hinüber.
„Du warst mit Berta in Paris?"
„Klar. Frauen mögen Romantik, Grady. Ich hab ihr dort den Antrag gemacht. In einem kleinen Café. Ich dachte das wäre perfekt."
Abraham lachte. „Wie man sich irren kann."
Nun hatte Abraham die volle Aufmerksamkeit. Doch der schüttelte den Kopf und die lichter werdenden Haare schwebten wie Flusen im Wind um seinen Kopf. Mit seiner leicht verbogenen Gabel deutete er in Rourkes Richtung. „Ist seine Geschichte, nicht meine!" Er schmunzelte in sich hinein.
„Welche Frau lehnt bitte einen Antrag in Paris ab?", hakte Lio nach.
„Meine offensichtlich. Und daher sind wir seit beinahe zwanzig Jahren unverheiratet."
„Versteh ich nicht", murmelte Chad. „Das ist... völlig untypisch!" Der Hobbypsychologe in ihm lief bereits Amok.
„Hm, das stimmt. Sie hatte es sich eben anders vorgestellt. Sie hätte es romantischer gefunden, wenn ich ihr nach einem ihrer Auftritte in Nashville den Antrag gemacht hätte. Und nach ihrem klaren nein hab ich sie nie wieder gefragt. Sie hat es nie mehr angesprochen." Rourke zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder seinem Essen. Dann schloss er das Thema kurz und bündig ab, in dem er erklärte: „Ist aber egal. Wir wissen, was wir aneinander haben. Ein Ring ändert nichts an unseren Gefühlen."
„Na hoffen wir mal, dass es für Miles besser läuft", äußerte Lio besorgt.
Ich schluckte. „Er will Stacey einen Antrag machen? Sein verdammter Ernst?"
Lionel nickte begeistert.
„Ja, warum nicht? Die beiden sind seit zwei Jahren zusammen. Da kann man sich doch langsam mal festlegen?"
„Hm", machte ich unverbindlich. Ich hatte einfach keinen Bock dieses Thema weiter zu vertiefen.
„Vor allem, wenn die beiden sowieso zusammenziehen müssen", redete Lio unbeirrt weiter.
„Müssen?", fragte Sam kauend.
„Naja, müssen nun nicht direkt. Mum und Dad haben Miles natürlich angeboten, bei uns einzuziehen. Aber er ist der Ansicht, dass es geschickter ist, sich eine Wohnung in Cookeville zu nehmen. Dann kann Miles seinen Dad und seine Mum regelmäßig sehen und uns besuchen sie einfach ab und zu in den Ferien oder übers Wochenende."
Irgendwann hatte ich den Anschluss verloren, stellte ich fest. „Seit wann wohnen Rileys Eltern denn in Cookeville?"
„Nicht ihre Eltern. Nur ihr Dad. Der hat eine Stelle an der Uni und unterrichtet dort irgendwelches naturwissenschaftliches Zeug. Biomechanik, oder so? Ich weiß nicht mehr genau. Und ihre Mum wohnt mit Mike in Nashville. Beide haben aber nicht so viel Platz, dass Miles, Stacey und Riley sie gleichzeitig besuchen können. Also haben die beiden beschlossen, eine eigene Wohnung wäre die beste Lösung. Dann muss Riley nicht immer bei ihrem Dad auf der Couch schlafen oder sich bei ihrer Mum mit Mike rumschlagen."
Mike. Couch. Wohnung. Mein Kopf schwirrte von all den Informationen, immerhin: ich bekam langsam aber sicher einen Faden in die Sache. Ihre Eltern hatten sich getrennt. Mike war der neue Partner von Rileys Mum. Und der war offenbar schwierig.
„Und wo wohnt Riley dann jetzt?"
„Während des Semesters in Kalifornien und sonst mal hier und mal dort. Bei wem es eben gerade am besten passt."
Also war sie gewissermaßen eine Heimatlose, die Lio wie Handgepäck mit hierhergeschleppt hatte, damit sie nicht allein rumsaß. Nett. Für alle, außer für mich. Ich wollte sie hier nicht haben. Wollte nicht stetig an mein Versagen erinnert werden. Und daran, dass ich versagt hatte, bestand nicht der geringste Zweifel.
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