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„Sei vorsichtig. Bitte.", sagte ich leise an seinem Hals. Verwegen lächelte Lee und seine gepflegten, weißen Zähne blitzten. Keine Ahnung, warum mir genau jetzt auffiel, dass er vor kurzem bei der Zahnreinigung gewesen sein musste. Der Wind blies ihm ein paar dunkle Haarsträhnen ins Gesicht.
„Immer", zwinkerte er mir zu. „Du kennst mich doch!"
„Eben!", sagte ich gequält und drückte ihn noch ein weiteres Mal. Fester. Dann sah ich ihm nach, wie er auf die Maschine zusteuerte, die sich knallig rot von der salzigen Ebenen abhob.
Dawson kam zu mir und Razor herüber, wo er sich mit emotionalem Sicherheitsabstand neben mich stellte. Augen geradeaus, Rücken durchgestreckt, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt. Automatisch wanderte mein Blick zu seinem Unterarm. Dawson war geschickt im Verbergen seiner Narben, hatte perfekte Posen ausgearbeitet, so dass sein Körper bedeckt hielt, was er verstecken wollte: die Narben, die der Tod seines Vater hinterlassen hatte. Ich sah sie trotzdem. Nicht auf seinem Körper. Sondern in seinen weichen moosgrünen Augen, die jede Bewegung verfolgten. Ich sah die Verantwortung, die auf seinen Schultern lastete und die er verkrampft hochzog. Ich sah es am Mahlen seines Kiefers, der kantiger aussah als sonst. Ich sah es an den durchgedrückten Knien und den hüftbreit gestellten Füßen, als könne er allein durch einen sicheren Stand, sein Innerstes stabilisieren. Ich sah sie trotzdem, seine Angst, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Man sah es daran, wie er immer wieder trocken schluckte. Er litt Höllenqualen und machte es mit sich allein aus. Dabei war ich doch hier. Neben ihm. Gerne hätte ich ihm die Last genommen. In Wahrheit hatte ich sie ihm aber erst auferlegt, als ich ihn gedrängt hatte, nicht selbst zu fahren. Und nun musste ich zusehen, wie er es alleine mit sich ausmachte. Das tat verdammt weh.
Mit einem Funkgerät informierte Razor das bereitstehende Rettungsteam über den bevorstehenden Start und mehr als einmal war ich froh, dass er und Leroy das hier nicht zum ersten Mal machten. Sie kannten die Bedingungen, wussten, worum sie sich kümmern mussten. Dawson wäre viel zu blauäugig an die Sache rangegangen. Schon Leroys Kleidung unterschied sich deutlich von dem, was Dawson hätte auftreiben können. Doch das waren nur Überlegungen, die mein Gewissen beruhigen sollten. Ich seufzte, zog die Lippe zwischen die Zähne und Dawson musterte mich intensiv. Keine Ahnung, ob er sah, wie nervös ich war. Das alles war eine Scheißidee. Keiner hätte fahren sollen. Weder Leroy noch Dawson.
Leroy zuzusehen, wie er ein Bein über den Sitz schwang, machte mich heute wahnsinnig. Keine Ahnung warum. Leroy trainierte. Er fuhr Motorradrennen mit einer unüberschaubaren Zahl an Teilnehmern, die sich regelmäßig beim Überholen ins Gehege kamen. Er raste um Kurven, in denen er mit dem Knie am Boden schleifte. Sein Körper war stets wie verwachsen mit seinem Motorrad. Dennoch hatte ich ein mieses Gefühl, obwohl er nur immer geradeaus musste. Weil das hier eben nicht sein Motorrad war.
Der Motor erwachte röhrend zum Leben. Heulte protestierend auf, als Leroy einige Male testweise Gas gab, bevor er den Gang einlegte. Von null auf hundert in wenigen Sekunden. Es ging so schnell, dass mein Gehirn und meine Augen kaum mitkamen, meine Gefühle sowieso nicht. Ich atmete nicht, ich blinzelte nicht.
„Hundert", informierte Razor uns, den Blick fest auf das Bild geheftet, das die Kamera vom Tacho übertrug. „Hundertfünfzig." „Zweihundert." Die Zahlen folgten immer schneller aufeinander, waren für mich kaum zu erfassen. Noch immer hielt ich die Luft an, sah schwarze Mücken in der flirrenden Luft über der hellen Ebene, die aber keine Tiere waren. Nur eine optische Warnung meines Körpers, weil mir vom Luftmangel langsam schwindelig wurde.
„Zweihundertachtzig." In meinen Ohren rauschte es. Kurz schloss ich die Augen, versuchte Sauerstoff in meine Lungen zu saugen, darüber überhörte ich die nächsten Geschwindigkeitsangaben. Bei „Dreihundertzwanzig" stieg ich wieder ein. „ Vierzig". Atme, Riley, mahnte ich mich. Du kannst hier nicht umkippen. „Fuck. Zweiundvierzig!" Dann sagte Razor nichts mehr. Der Tacho kletterte nicht weiter. Leroy bremste aber auch nicht ab. Er raste mit der irren Geschwindigkeit über die Ebene und hinterließ einen wirbelnden Strom aus weißen Partikeln, der stetig zum Himmel stieg. Auf dem Bildschirm verfolgten wir die Anzeige. „Siebenundvierzig", hauchte Razor und voller Faszination richtete ich meine Augen auf den Bildschirm, überzeugte mich davon, ob wir über irrwitzige dreihundertsiebenundvierzig Kilometer pro Stunde sprachen.
„Was macht er denn?", fragte Dawson leise, als sich die Tachoanzeige zur Seite neigte. Seine Stimme zitterte vor Anspannung, als er den Mechaniker ansah. „Razor, sag ihm es ist gut jetzt, er soll zurückkommen. Die Maschine ist nicht auf solch eine Dauerbelastung ausgelegt!", wies er Razor an.
Dieser übermittelte Dawsons Bitte über Funk an Leroy und der bestätigte, dass er bereits wendete. Die Geschwindigkeitsanzeige senkte sich unter die zweihundert, als Leroy abbremste. Das Motorrad legte sich in die Kurve und dann sah ich nur noch weiß.
Salz wirbelte auf. Die Tachoanzeige verschwand in weißem Nebel. Ich riss die Hand hoch an den Mund um den Schrei zu ersticken, der sich in meiner Kehle bildete. Tränen schossen in meine Augen, als ich den weißen Staub beobachtete der wie ein Kondensstreifen über der ebene hing.
„Scheiße!" Razor fuhr sich über sein stoppeliges Haar, dann schnappte er sich sein Funkgerät. Sekunden später rannte er auf den Transporter zu. Dawson stand neben mir wie erstarrt und als ich losrennen wollte, um Razor zu folgen packte er hart mein Handgelenk. „Nein!", sagte er mit einer Stimme die noch fester als sein Griff war. Ich versuchte mich loszureißen. Gab aber den Widerstand auf, als Razor zeitgleich mit dem Rettungsteam losbrauste.
„Sieh nicht hin, Riley!", forderte mich Dawson auf, als würde es dann weniger real werden. Er zog mich in seine Arme und schluchzend barg ich mein Gesicht in seinem Shirt. Umklammerte seine Taille wie einen Rettungsring. Und er umschloss mich mit ebenso viel Kraft. Die gemeinsame Verantwortung presste uns zusammen wie ein Schraubstock, zu einer Einheit, die wir schon lange nicht mehr waren. Nie mehr sein würden. Dafür waren wir beide zu kaputt.
„Riley", flüsterte er leise und verzweifelt. „Es tut mir Leid!" Seine Stimme brach. „Ich sollte dort draußen liegen, nicht er!"
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