Teil I - Riley 1

„Miiiiles! Komm schon! Sag ja. Bitte!" Ich zog den Namen meines Bruders in die Länge wie Kaugummi, setzte meinen Dackelwelpenhundeblick auf, doch er blieb eisenhart und starrte auf die zerfledderte Ausgabe einer modernen Version von Romeo und Julia, die er bereits auswendig kannte. Um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, bohrte ich meinen Zeigefinger zwischen seine Rippen. Eine Taktik, die seit Jahren funktionierte. Auch heute. Miles klappte das Buch zu und musterte mich streng.

„Riley, du wurdest eingeladen. Nicht ich. Niemand will Miles, den Nerd, auf einer Party sehen. Schon gar nicht Stacey! Sie hasst mich!", belehrte er mich.

„Nein, sie hasst dich nicht. Sie hasst nur deinen Erfolg und deine guten Noten. Und es ist offensichtlich, dass dich jemand dabeihaben will!", belehrte ich meinen Bruder im Brustton der Überzeugung.

„So, wer denn?" Neugierig und voller Hoffnung sah er mich an.

„Na ich natürlich, du Vollpfosten!"

„Du zählst nicht. Du bist meine Schwester!", maulte er enttäuscht. „Und ohne mich darfst du nicht zu der Feier."

Mein Bruder ließ sich nach hinten auf mein breites Bett kippen und starrte an die Decke.

„Was muss ich ändern, damit sie mich wahrnimmt?" Er schnappte sich eines meiner vielen bunten Dekokissen, die Granny mir genäht hatte und drückte es sich wie einen Schutzschild gegen den Bauch. Er drehte sein Gesicht zu mir, sah mich durch seine Brillengläser aus seinen dunklen Augen leidend an.

Alles. Aber wie sagte man das seinem Bruder möglichst schonend? Stattdessen antwortete ich: „Sie nimmt dich wahr. Heute hat sie dich mit Chips beworfen!"

„Was für ein Fortschritt. Nun habe ich auf meinem Passfoto ein Hemd mit Fettflecken an", murrte Miles. Das tat mir natürlich schon leid. Andererseits geschah ihm das auch ein bisschen recht. Wer bitte zog schon ein weißes Hemd an, wenn er Fotos für seinen Studentenausweis machen wollte? Sowas konnte nur meinem Bruder einfallen und Stacey hatte netterweise, wie sie behauptete, seinen Kurs korrigieren wollen und war davon ausgegangen, dass er sich vielleicht noch mal umziehen würde. Doch hatte sie sich verspekuliert. Was Miles sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das zog er durch bis in die letzte Konsequenz.

„Weniger peinlich als Orangensaft im Schritt, wenn man an einer Bushaltestelle sitzt", kicherte ich und kassierte einen harten Schlag auf den Oberarm.

„Ich hab dich lieb, Miles", bettelte ich unbeeindruckt von seinem halbherzigen Versuch, mich in die Schranken zu weisen.

„Du betrinkst dich aber nicht gnadenlos? Ich schwöre dir, wenn du es tust, dann..."

Den Rest des Satzes hörte ich nicht mehr, denn ich fiel meinem Bruder um den Hals. Dabei presste ich ihm die Luft aus den Lungen, als ich mich stürmisch auf ihn warf. Sein Text ging in ein gequältes Stöhnen über.

„Zieh dich um, Miles. Wir sind spät dran. Ich hasse es, wenn die anderen schon vor mir betrunken sind. Dann ist die Musik nicht auszuhalten und die anderen sind unerträglich albern."

„Wie du, Riley", neckte er mich, erhob sich aber endlich vom Bett.

Ich streckte ihm die Zunge raus und verschwand im Bad, um mich zu stylen. Im Schnelldurchlauf. Ich wollte nicht nur auf der Party sein, bevor alle betrunken waren. Vor allem wollte ich dort sein, bevor Justin vielleicht mit einer anderen anbandeln konnte. Ich hatte ihn vor zwei Wochen kennengelernt, als ich das erste Mal den Wachturm am Badesee besetzen durfte. Bei seinem Anblick war mein Herz in die Hose gerutscht und die Vorstellung mit ihm zwei Stunden auf der Plattform des Wachturms zu verbringen, hatte mich beinahe hyperventilieren lassen. Seine blauen Augen und sein Lächeln waren atemberaubend und ich fürchtete mich ein bisschen vor ihm, weil er so perfekt war. Gutaussehende Jungs waren meiner Erfahrung nach überheblich und hatten einen beängstigenden Mädchenverschleiß oder waren totale Partylöwen.

Justin war einfach nett. Er erklärte mir akribisch, worauf es bei meiner Schicht ankam und beruhigte mich, dass ich zu Beginn meiner Wachdienste nie alleine sein würde. Im Laufe der zwei Stunden nahm er mir meine Angst vor der neuen Tätigkeit und auch meine Schüchternheit. Drei Schichten hatte ich seither mit ihm zusammen gehabt und beim letzten Mal, hatte er mich zum Abschied umarmt und gesagt, er würde sich auf das nächste Mal mit mir freuen. Ich war vollkommen überrumpelt gewesen und hatte kein Wort rausgebracht. Peinlich aber wahr: ich hatte nur genickt und dann war ich gegangen.

Mit einem Flattern in der Magengrube stieg ich aus Miles Wagen und sah mich um. Enttäuschung machte sich in mir breit. Justins blauer Kleinwagen stand nicht am Wegesrand vor der Jagdhütte, die sich auf einer Lichtung im Wald malerisch an eine Gruppe hoher Nadelbäume kuschelte.

Justins Mountainbike war ebenfalls an keinem der besagten Bäume angekettet, auch vor dem Haus stand es nicht. Mein Bruder bemerkte nichts von meinem prüfenden Blick und schon gar nicht von meinem aufkeimendem Frust. Alles worüber er sich sorgte, waren Wodka-Orange, Whiskey-Cola, Stacey und THC-haltige Produkte. Er legte seine Brille auf dem Armaturenbrett ab.

„Wie sehe ich aus?", fragte er zum gefühlt hundertsten Mal und ich umarmte ihn.

„Perfekt!", lachte ich. „Nun sei doch nicht so nervös. „Du wirst sehen, am Ende des Abends hast du an jedem Finger ein Mädchen hängen. Der Speicher deines Handys wird glühen, weil du eine Nummer nach der anderen eintippst!"

Diese Vorstellung war nicht mal überzogen. Mein Bruder war hübsch. Wirklich hübsch. Aber eben nicht auf die coole Art. Er hatte einen genauso schlanken, athletischen Körperbau wie ich, weil er viel Ausdauersport machte. Muskelberge konnte er nicht vorweisen, aber immerhin ein deutliches Sixpack. Er hatte die fluffigsten braunen Haare der Welt, schokoladenbraune Augen mit langen Wimpern und seine klugen Kommentare waren unbeabsichtigt oft zum Schreien komisch. Keine auffälligen Piercings, keine Tätowierungen, keine nach hinten geschleimten Haare.

Alles in allem besaß er nichts, was Stacey reizen konnte. Der messerscharfe Verstand meines Bruders kotzte sie einfach an und sie wurde nicht müde, ihn das spüren zu lassen. Trotzdem konnte Miles nicht mit Stacey in einem Raum sein, ohne sie anzustarren wie ein Appetithäppchen. Ihn in ihrer Nähe zu beobachten, seinen schmachtenden Blick zu sehen, tat manchmal wirklich weh. Und ich hasste meine beste Freundin an manchen Tagen für das, was sie ihm zumutete. Ich hasste sie, weil ich ihn nur zu gut verstand. In jemanden verliebt zu sein, der unerreichbar war, gehörte zu den grausamsten Dingen, die das Universum ersonnen hatte, um die Menschheit zu geißeln.

Was für Miles Stacey war, das war für mich Dawson: eine schmerzhafte Erinnerung an all unsere Unzulänglichkeiten. Nur war meine Situation deutlich besser zu ertragen. Ich musste Dawson nicht dauernd sehen. Nur in den Semesterferien lief er mir gelegentlich über den Weg. Und jetzt... waren Semesterferien. Irgendwie Scheiße.

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