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Der letzte Tag mit Dawson verging viel zu schnell. Gerade hatte ich mich ihm in der Stille des Nationalparks näher gefühlt als jemals zuvor, war mit ihm in der Einsamkeit von Wäldern und Schluchten wie in einer friedlichen Blase geschwebt. Im nächsten Augenblick schlug ich neben einem Grillplatz hart auf dem Boden der Realität auf: nach unserem Abendessen würden wir zurückfahren und dann stand unsere Trennung bevor.
Dawson hatte sich mit der Vorbereitung des Essens unglaublich viel Mühe gemacht. Trotzdem schmeckte ich kaum etwas und ich kämpfte dauernd mit den Tränen. Ich fürchtete mich vor dem Abschied heute noch mehr, als früher davor, Dawson zu begegnen.
„Es ist doch nur für kurze Zeit", versuchte Dawson mich zu trösten. „Sobald ich es einrichten kann, komme ich übers Wochenende her. Vielleicht schon gleich das Nächste. Da ist noch kein Prüfungsstress. Und die Abschlussarbeit kann ich auch schreiben, während du neben mir in der Sonne liegst."
„Das wird nichts. Ich hab am Wochenende schon den ersten Wettbewerb", gab ich bedrückt zurück.
„Dann eben das darauf. Versprochen." Sanft küsste er mich. Dann knabberte er an meinem Hals. „Und denk dran, du bist mein Schokohäschen. Wenn jemand anders an dir knabbert nehm ich das sehr schwer."
„Schokohäschen?", ich lächelte unter Tränen über die Bezeichnung.
„Himmel, Riley. Nun wein doch nicht gleich wieder. Die Zeit wird wie im Flug vergehen. In der ersten Woche ist doch immer so viel los. Dann bist du beim Wettkampf und holst dir lauter erste Plätze und am Freitagabend bin ich schon hier."
Seinen Optimismus teilte ich nicht, bemühte mich aber, tapfer zu sein. „Ich glaube du solltest jetzt gehen. Es wird nicht besser, wenn wir den Abschied hinausschieben."
Einen letzten Kuss später schob Dawson mich von sich.
Mit trübem Blick auf die nächsten vierzehn Tage ging ich nach Hause. Ich war mir sicher, diese würden im Gegensatz zum heutigen Tag kaum vergehen.
Damit sollte ich auch Recht behalten. Den Sonntag verbrachte ich mit dem Fernseher als Gesellschaft und weil ich den ganzen Tag gefaulenzt hatte, litt ich am Abend unter einem Energieüberschuss. An Einschlafen war nicht zudenken. Ich wälzte mich lediglich schlaflos in meinem Bett hin und her. Am Montag erwachte ich gerädert und mit Nackenschmerzen. Ich hatte im Schlaf wohl mein Kissen aus dem Bett geworfen und nun bekam ich dafür die Quittung. Ich konnte beinahe meinen Kopf nicht drehen.
Der Coach verbot mir wegen des steifen Halses das Training und drückte mir das Zeitnehmen der Frischlinge, wie er sie nannte, auf. Die zwölf Mädchen waren wie ein Sack aufgeregter Flöhe. Laut. Unkontrollierbar. Nervig. Inzwischen hatte ich Kopfschmerzen und ich war den Tränen nah.
Der Coach schickte mich schließlich nach Hause. Vorher rieb er mir jedoch den Nacken mit Wärmesalbe ein und gab mir die Tube mit. Das Brennen auf meiner Haut trieb mir die Tränen in die Augen. Vielleicht aber auch der Geruch, den mein verpeiltes Gehirn aus einem mir nicht klaren Grund mit Dawson verband.
Zu Hause rief ich Stacey an, die aber auch keine große Hilfe war. Sie steckte in dem selben Loch der Einsamkeit und nachdem sie mir eine halbe Stunde die Ohren vollgeheult hatte, fühlte ich mich noch mieser. Ich konnte ihr nicht mal erklären, warum ich mich die letzten Tage so rar gemacht hatte, also redete ich mich aufs Training raus und auf den Unterricht mit Melissa.
Dienstag, Mittwoch und Donnerstag watete ich knietief durch mein Elend. Ich konnte noch immer nicht trainieren. Dawson fehlte mir schrecklich. Miles auch.
Freitag stieg ich in den Mannschaftbus und fühlte mich... mies. Thomas wartete auf eine Rückmeldung. Dawson hatte ich bei unseren kurzen Telefonaten nach wie vor nicht auf die Sache mit den Fotos angesprochen. Als ob das nicht reichte, um mich zu beschäftigen, setzte sich zu allem Überfluss im Bus Justin neben mich, um zu fragen, wann wir unser Gespräch führen wollten.
Gefühlsmäßig hätte ich gesagt der beste Zeitpunkt wäre irgendwann zwischen nie und gar nicht, was aber gemein gewesen wäre. Er gab sich schließlich Mühe, eine vernünftige Grundsituation zu schaffen. „Vielleicht morgen Abend?", schlug ich vor.
„Gut, das machen wir so. Dann sehen wir auch, wie wir bei der Staffel klarkamen und können über Verbesserungen sprechen."
Hatte ich erwartet, er würde gehen, nachdem das geklärt war? Ja. Tat er es? Nein, denn das Leben war gerade gemein zu mir und hatte Spaß daran, alles noch schlimmer zu machen.
Im Hostel, verteilte Henderson die Zimmerschlüssel und ich bekam wie üblich ein Einzelzimmer. „Ohne Schlaf bin ich zu nichts in der Lage", erklärte ich auf Justins neugierige Frage, wie ich zu diesem Luxus kam. Ich verdrehte die Augen. „Und ja, ich habe eine Schlafmaske und Oropax. Nur für den Fall, dass dir jemand sagt, ich würde jede Teamparty verpennen: Das stimmt."
Justin zuckte mit den Schultern. „Und wenn schon. Ist ja deine Entscheidung."
Luxuriös ging anders. Das Hostel war äußerst hellhörig. Mit mir auf dem gleichen Gang war eine Horde Zehnjähriger auf Klassenfahrt untergebracht. Sie tobten wie die Affen durch die Gänge und machten in etwa den Lärm, einer Herde fliehender Gnus. Der Boden vibrierte und mein Schlüssel klapperte auf den Nachttisch. Keine Ahnung, ob wir uns auf Klassenfahrt auch so benommen hatten? Vermutlich schon.
Das Abendessen erinnerte an Kantinenessen. Das Gemüse war fad und matschig und die Nudeln viel zu weich. Die Tomatensoße kam garantiert aus einem Fünf-Liter-Eimer und war nur schnell aufgewärmt. Henderson war davon in etwa so begeistert wie ich. Er legte Wert darauf, dass wir uns vernünftig ernährten. Aber zu ausgewogener Ernährung, erklärte er launig, gehörte auch ab und an eine Portion Mist. Sonst wäre sie zu einseitig gesund.
Nach dem Abendessen verzog ich mich ins Zimmer. Wettkampfroutine: Duschen mit Komplettrasur. Danach mein Wellnessprogramm mit Maske, Haarkur und Peeling. Nicht weil es nötig war, sondern, weil ich mich dann viel wohler in meiner Haut fühlte. Das war mindestens so wichtig wie Ruhe. Und Yoga für andere. Henderson hatte mir mal einen Kurs angeraten. Das war aber schrecklich. Die Tussiquote hatte da zu hoch gelegen. Lauter Cheerleader und Ballettmäuschen.
Mit einem Fläschchen Nagellack und der Wärmesalbe, die ich vorsichtshalber nochmal auftragen wollte, hatte ich es mir gerade auf dem Bett bequem gemacht, als es an der Tür klopfte. Ich sah an mir runter. Badelatschen. Bademantel in rosa mit weißen Herzen. Und ein Tuch um die Haare unter dem die Haarkur einwirkte.
Konnte ja nur der nervige Justin sein. Alle anderen wussten, dass ich meine Ruhe wollte. Ich riss die Tür auf und prallte einen Schritt zurück. Imposant war das erste Wort, das mir einfiel. Sexy das zweite. Dann fiel mir ziemlich lange gar nichts mehr ein. Der gutgebaute Kerl in Lederkleidung vor meiner Tür nahm seinen glänzendschwarzen Integralhelm ab, schob mich ins Zimmer, wo er mich küsste, bis mir die Luft wegblieb.
„Mein kleines Schokohäschen. Wie hab ich dich vermisst." Ich kicherte. Schokohäschen klang aus dem Mund des Mannes, der mich umarmte, nur albern. Dawsons Stimme wurde vom Kragen meines Bademantels gedämpft, als er weitersprach. Seine Hände wanderten über meine Hüften. „Du bist eine einzige Versuchung, Riley."
Dawson zupfte an meinem Bademantel, bis dieser vorne ein Stück aufklaffte, sein Blick lag auf meinem Dekolleté. „Himmel, sag mir bitte, dass du darunter etwas anhast!", wisperte er und sah mir in die Augen.
„Das wäre dann aber gelogen", flüsterte ich und sah wie er schluckte. Seine Pupillen weiteten sich ein wenig. Langsam streckte er seine Hand nach dem Band meines Bademantels aus, tastete nach dem Knoten.
„Weißt du wie gerne ich dir den ausziehen würde? Wie gerne ich dich nackt sehen und deine weiche Haut unter meinen Händen spüren will?" Verlangen stand in seinen Zügen und verursachte mir eine Gänsehaut. Mit nur einem Blick schaffte er es, dass ich mich schön fühlte. Begehrt. Den Eindruck bekam, meine sparsame Oberweite sei für ihn nicht von Bedeutung.
Wie gebannt verfolgte ich den Zeigefinger, der unter dem überlappenden weichen Stoff nach oben fuhr, bis seine Fingerspitzen meine Haut unterhalb des Schlüsselbeines berührten. Dieser sanfte Kontakt brannte auf meiner Haut wie Feuer.
„Dann tu es doch", flüsterte ich leise. Woher der Mut kam, so etwas zu antworten, wusste ich selber nicht. Vielleicht lag es daran, wie Dawson mich ansah. Als ob er es sich wirklich wünschen würde. Als er mir eine Antwort schuldig blieb und nur die Hand, die grade noch meine Haut liebkost hatte fallen ließ, wurde ich nervös. Vielleicht hatte ich mich zu weit nach vorn gewagt. Vielleicht hatte Dawson das nur als Scherz gemeint und ich hatte mich blamiert, weil ich es ernst genommen hatte. Betreten wendete ich den Blick ab, starrte hinunter auf meine Füße.
„Dein Vertrauen ehrt mich. Und es fällt mir jetzt schon schwer dir zu widerstehen. Nicht zu weit zu gehen." Dawson schluckte. Mit seiner rechten fuhr er sich durch die Haare. „Scheiße, Riley. Vielleicht hätte ich nicht herkommen sollen", fluchte er. „Vielleicht sollten wir uns nicht mehr alleine treffen. Ich will mehr, als ich wollen darf."
Im selben Augenblick strafte er seine Worte Lügen und zog mich mit einem Ruck an der Kordel des Bademantels zu sich. Hungrig küsste er mich und grillte mit dem Feuer seiner Leidenschaft die armen, unschuldigen Schmetterlinge, die in seiner Nähe in meinem Bauch flatterten. Übrig blieben nur Flammen. Sie schickten brennende Hitze zwischen meine Schenkel, die mich kribbelig machte.
Den Weg zum Bett dirigierte Dawson mich mit schlafwandlerischer Sicherheit. Kein Wunder. Er hatte das seinem Ruf nach auch schon ein paar hundert Mal gemacht. Vielleicht nicht so übel, wenn einer von uns wusste, was er tat.
Auf dem Bett rollte Dawson sich auf den Rücken, zog mich mit sich, bis ich halb auf ihm lag. „Autsch!", murrte er leise und schob mich ein wenig von sich. Mit der Hand griff er nach hinten und beförderte ein Fläschchen Nagellack hervor. Er hob eine Augenbraue. „Süß, mein Schokohäschen kriegt Erdbeerpfötchen", witzelte er grinsend. Dann tastete er weiter, bis er auf eine Pappschachtel traf. „Und was ist das hier? Gleitgel?"
Ich wurde feuerrot. Gleichzeitig konnte ich ein Lachen nicht unterdrücken. „Das würde ich dafür eher nicht benutzen."
Im mein Lachen stimmte Dawson nicht ein. Im Gegenteil. Sein Gesicht hatte selten so schnell von belustigt zu todernst gewechselt. „Wieso hast du Capsaicin-Salbe?" Er wirkte beunruhigt. Das wiederum beunruhigte mich. Eigentlich war das doch normal? Ich benutzte sie zum ersten Mal, wusste aber, das Henderson sie auch bei Zerrungen, Muskelkater und gegen Violets Regelschmerzen empfahl.
„Riley?"
„Ich hatte mich verlegen. Henderson hat sie mir gegeben. Ist sie schädlich?"
„Nein." Er lächelte erleichtert „Alles gut."
Was er von sich gab war eine Sache... wie er wirkte, war etwas ganz anderes. Noch immer schimmerte ein Restchen Argwohn in seinen Augen. Er sah aus, als würde er jede meiner Bewegungen analysieren und versuchen auf den Grund meiner Seele zu blicken.
„Was dachtest du denn, was ich damit mache?"
Er zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Ich wollte eben sicher gehen, dass du sie richtig anwendest."
Forschend sah ich ihn an. „Okay", gab ich von mir. „Wenn du sagst, das ist alles, dann muss ich dir das glauben. Ich finde allerdings, dass du dich im Augenblick recht merkwürdig verhältst."
Seufzend stand ich auf, um die Haarkur auszuspülen.
Im Bad schlüpfte ich aus dem rosa Bademantel, damit der Kragen nicht nass wurde und spülte am Waschbecken meine Haare. Danach waren sie weich und dufteten nach Rosen. Und ein bisschen nach Chlor. Der Geruch haftete an mir. Was auch immer ich probierte, er war nicht wegzubekommen. Ich hielt mit dem Haarbürsten inne. Wozu benutzte Dawson die Salbe? Ich kannte ihn jetzt, keine Ahnung. Bestimmt sechs Jahre. Solange waren er und Lio befreundet. Und immer wieder mal hatte er danach gerochen. Oft genug, damit ich den Duft der Salbe automatisch mit Dawson in Verbindung gebracht hatte, als Henderson sie aufgetragen hatte. Ich legte die Bürste weg und starrte in meine bunten Augen. Eine Antwort fand ich in ihnen nicht. Dafür sprach ich meiner Reflektion Mut zu. Was konnte passieren, wenn ich ihm auf die Nerven ging, ihn zur Rede stellte, warum er so besorgt reagiert hatte? Er könnte sich aufregen. Sich in ein Monster verwandeln und mich fressen. Okay. Unwahrscheinlich.
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