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Der nächste Morgen brachte strömenden Regen und das passte zu meiner grottenschlechten Stimmung. Das Gespräch mit Dawson spukte unablässig durch meinen Kopf, gepaart mit dem Gedanken an ein hübsches Gesicht, blaue, fast violett schimmernde Augen und eine Echse, die sich um weibliche Rundungen wand. Geistesabwesend packte ich meine Tasche. Dann erinnerte ich mich an etwas Wichtiges. Der Coach hatte beim letzten Schwimmen angemerkt, es gäbe einen Neuzugang im Team. Hastig suchte ich nach dem türkisen Bikini der Schulmannschaft, konnte aber nur den Badeanzug finden, in dem ich mich gar nicht wohl fühlte. Da sah ich aus wie ein Brett!

Heute passte echt alles zusammen. Oder ich sah einfach alles extrem schwarz. Mit einem energischen Ratschen schloss ich den Reißverschluss meiner Tasche und kehrte dem Haus den Rücken. Nicht jedoch, ohne einen Schirm mitzunehmen. Der Regen floss in Strömen und so schwarz und tief wie die Wolken hingen, ging das sicher den ganzen Tag so weiter.

Auf halbem Weg zum Schwimmbad hatte ich bereits nasse Socken. Meine Chucks waren wohl nicht die klügste Wahl gewesen.

In der Sammelumkleide herrschte bereits reger Betrieb. Violet, Marcy und Dana waren schon fertig umgezogen und stopften die Haare unter die Badekappen. Bei Violet ein schwieriges Unterfangen, mit dem sie die hilfsbereite Dana belegte. Aus den Jahrgängen unter uns nahm niemand am Ferientraining teil, daher ging es bis auf etwas Getuschel eher ruhig zu.

„Habt ihr den Neuen schon gesehen?", erkundigte sich Marcy im Flüsterton. „Ich sag euch, dem werden die Mädchen scharenweise nachlaufen."

„Er soll nicht gut aussehen und Mädchen klarmachen, sondern schnell schwimmen!", murrte Dana. Sie ließ Violets Badekappe los und mit einem hässlichen Schnalzen klatschte sie an Violets Stirn.

„Au!", quietschte diese. „Wofür war das denn?" Sie rieb sich mit der Hand über die Stirn.

„Wirst schon irgendwas angestellt haben, wovon ich noch nichts weiß. Und sonst war's halt präventiv für künftige Vergehen." Achselzuckend wandte Dana sich an mich. „Wie sieht es aus? Startklar dem heißesten Schwimmer ever zu begegnen?"

„Fast. Ich könnte nur kurz Hilfe mit der Kappe brauchen."

„Ich mach das", drängelte sich Violet an Dana vorbei. „Dana ist heute eher grobmotorisch unterwegs."

„Bin ich froh über meine kurzen Haare." Marcy grinste. Vor acht Wochen hatte das allerdings noch anders ausgesehen. Blondierung und Chlorwasser hatten ihre wilde Mähne so ausgetrocknet, dass sie Stunden brauchte, die filzige Masse auf ihrem Kopf wieder auseinander zu bekommen. Und so hatte sie ihre Haare, die vorher bis unter das Schulterblatt reichten, auf Kinnlänge gekürzt. Und danach bittere Tränen vergossen.

„Also, wer ist nun dieser ominöse neue Schwimmer?", hakte ich beim ursprünglichen Thema nach und als Marcy antwortete, wurde mir ganz anders, denn sie sagte: „Justin."

„Timberlake, oder was?", fragte Violet und in ihr Kichern stimmten Marcy und Dana nur zu gerne mit ein. Mir war weniger nach lachen zu mute.

„Ist er fest im Team, oder nur auf Probe?" Bei dieser Frage versuchte ich neutral und unbeteiligt zu klingen, aber selbst ich konnte die Ablehnung hören, die mitschwang.

„Ist alles fix. Der schwimmt ja schon ewig bei der Rettungsstaffel. Was soll der Coach da lange fackeln?"

Gute Frage. Ich zuckte mit den Schultern.

„Wie gut er schwimmt, solltest du ja dann am besten wissen? Du bist doch auch Rettungsschwimmerin", stellte Dana fest.

„Und wie er küsst weiß sie auch", gab Violet trocken von sich. „Brauchst nicht so zu gucken. Ich hab euch beim Sommerfest der Feuerwehr gesehen und hinterher am Feuer."

Danas Augen wurden groß. „Waaas? Du und Justin?"

„Waaas?", imitierte ich Frage und Tonlage meiner Teamkollegin. „So abwegig, dass sich mal einer für mich interessiert, der nicht aus dem Debattierclub ist, oder hässlich wie die Nacht?", brummte ich und erntete ein Lachen.

„Eher kaum zu glauben, dass du was mit einem Gleichaltrigen hast. Ich dachte, du stehst nur auf ältere Typen." Violet zwinkerte mir zu und unwillkürlich wurde ich rot.

„Alles olle Karmellen", gab ich von mir und stieß die Schwingtür auf, die die Duschen von der Schwimmhalle trennten.

Henderson wartete bereits mit den Jungs auf uns. Dave und Luca sahen aus, als hätten sie am Vorabend gefeiert. Blass. Augenringe. Schlappe Körperhaltung. Ganz großartig.

„Das können wir jetzt alles ausbaden", knurrte Dana und warf den Zwillingen einen bösen Blick zu, den die beiden in ihrem Elend gar nicht wahrnahmen. Justin stand neben den beiden. Drahtig, definierte Muskeln, braungebrannt, Schwimmhaube und Brille saßen akkurat und er war bester Laune. Er wirkte wie ein Schwimmer aus einem Werbekatalog, nicht wie ein Leistungssportler. Neben Justin machte sogar Tom eine schlechte Figur und das, obwohl er bereits ein Jahr länger trainierte als wir. Dank einer Ehrenrunde, die er gedreht hatte. Er war schnell im Wasser, aber leider nicht in Mathe und Physik. Justin nickte mir lächelnd zu und das löste in mir den dringenden Wunsch aus, ihn zu erwürgen. Jetzt gleich.

„Gut, dann sind wir jetzt vollzählig", unterbrach Henderson meine Gewaltphantasien und erläuterte uns das Aufwärmen sowie den weiteren Ablauf. Uns? Nein, eigentlich Justin, aber wir mussten uns den ganzen Sermon notgedrungen mit anhören, bevor wir unter die Duschen gehen durften.

„Riley? Hast du einen Moment?", hielt mich Henderson zurück und ich blieb stehen.

„Ja, Coach?", gab ich zögerlich von mir. Keine Ahnung, was ich erwartete, eine Rüge vielleicht. Irgendeinen fiesen Sonderauftrag. Doch er sagte lediglich: „Du hast morgen eigentlich Einzeltraining. Ich würde Justin aber gerne mit hinzunehmen. Ich will ihn beim Wettbewerb bereits mit Dave und Luca in der gemischten Lagenstaffel antreten lassen. Du und er, ihr schwimmt als letztes. Ich möchte, dass ihr den Start ein paar Mal übt damit ihr einander nicht ausversehen ertränkt. Ist das in Ordnung?"

„Ist das eine Frage?", erkundigte ich mich irritiert, als der Coach mich abwartend ansah.

„Oh, natürlich ist das eine Frage. Ich pflege mich mit den Mannschaftskapitänen immer abzusprechen." Er lächelte breit über das ganze Gesicht und einen Moment wurde mir schwindelig vor Glück.

„Ihr Ernst? Ich bin dieses Schuljahr für die Mädchenmannschaft zuständig?"

Er nickte. „Natürlich. Wer sollte das dieses Jahr denn sonst übernehmen? Behalte es aber noch für dich, bis wir Montag Teambesprechung haben. Dann werde ich es allen verkünden."

„Wow!", sagte ich noch immer überrascht. „Danke, Coach!"

„Wie kommst du mit Justin zurecht? Ihr kennt euch schon aus der Rettung?"

„Wir kommen klar, Coach. Nichts, was sich auf das Team auswirken würde." Dann setzte ich hinzu: „Nicht von meiner Seite jedenfalls."

„Justin hatte Bedenken. Er meinte du seist möglichweise nicht gut auf ihn zu sprechen. Ich habe ihn gebeten, für den Kader der Jungen den Kapitän zu machen. Du kennst Dave und Luca. Ich kann nicht einen Zwilling mit einer Aufgabe betrauen, den anderen nicht. Das würde nur Ärger geben. Und Tom..." Er beendete den Satz nicht.

„Ich glaube, Justin ist der Richtige dafür." Der Satz kam nur schwer über meine Lippen. Aber es war so: Er war von vier schlechten Lösungen die Beste.

„Gut, wenn es Problem zwischen euch gibt, dann melde dich bei mir. Und jetzt ab unter die Dusche, Kapitän Riley", sagte er und lächelte.

Training war hart. Egal, wie gut man war, Henderson schaffte es, die Messlatte so hoch zu legen, dass man nur knapp das Gefühl hatte, kein völliger Versager zu sein. Aus jedem von uns hatte er das Maximum herausgeholt und mir graute es gelinde gesagt vor dem morgigen Tag.

Als ich nach Hause kam, stand Miles in der Küche, Stacey an ihn gelehnt und er trank Milch aus der Packung. Also war auch meine Freundin wohlbehalten von ihrem Motorradausflug zurück.

„Hey!", begrüßte ich die beiden.

„Weg vom Kühlschrank, Stacey! Sie frisst nach dem Training alles, was zwischen ihr und dem Essen steht!", witzelte mein Bruder.

„Lustig, Miles!", flötete ich und riss die Tür des Kühlschrankes auf. Speck. Eier. Kalte Kartoffeln von gestern. Zucchini. Tomaten. Mozzarella.

„Was wird das?", fragte Stacey zweifelnd und stupste gegen die kalten Kartoffeln.

„Riley Spezial!", erläuterte Miles. „Mache eine Pfanne heiß und wirf rein, was dir in die Finger fällt. Kommst du?", fragte er sie dann und mit einem verliebten Blick, den ich von meiner Freundin nicht kannte, folgte sie Miles nach oben. Offenbar hatte sie Miles vermisst. Für einen Moment sah ich den beiden neidisch hinterher. Bei ihnen war alles so einfach. Sie konnten sich treffen, Händchen halten, sich küssen und noch so viel mehr, das mir und Dawson noch für lange Zeit verwehrt war. Obendrein würde Miles nicht einfach in einen anderen Bundesstaat verschwinden, um Geld zu verdienen.

Stacey könnte, wenn sie sich anstrengte und mal ein wenig mehr lernte, ein Stipendium für dasselbe College bekommen, auf das mein Bruder ging. Sie könnten zusammen sein. Jeden Tag. Tränen stiegen mir in die Augen, rollten über meine Wangen und tropften lautlos auf den Herd, der noch immer darauf wartete, dass ich die Pfanne, die ich in der Hand hielt, auf einer der Platten abstellte. Seufzend begann ich mir mein Essen zu brutzeln und schlang es hinterher hungrig runter, ohne wirklich zu merken, was genau ich da aß. In Gedanken war ich bei etwas ganz anderem. Mich beschäftigte die Frage, ob Dawson recht hatte und Thomas auf Nacktbilder ausgewesen war, oder ob Dawson nur mal wieder überreagiert hatte. Ich konnte mir eigentlich schlecht vorstellen, dass irgendjemand freiwillig meine Hühnerbrust nackt sehen wollte.

Später vor dem Spiegel versuchte ich zu ergründen, was an mir überhaupt attraktiv war. Was sah Thomas an mir, das mich einzigartig machte? So einzigartig, dass er dafür ein sauteures Motorrad eintauschen wollte? Ich verstand es einfach nicht und es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden: jemanden fragen, der sich damit auskannte. Der einzige, den ich kannte, der eine Expertise in der Sache hatte, war blöderweise Thomas.

Mit der Hand fuhr ich über meinen flachen Bauch, und drehte mich dann so, dass ich über meine Schulter hinweg meinen Hintern betrachten konnte. Der war, soweit ich es beurteilen konnte, in Ordnung. Ein paar von diesen hellen Dehnungsstreifen hatte ich an den Schenkeln und Hüften und an den Außenseiten meiner Pobacken. Da war mein Körper einfach schneller gewachsen als meine Haut. Da ich keine Schlange war, die abstreifen konnte, was zu eng war, hatte meine Haut eben das Nachsehen. Dellen hatte ich aber kaum. Dafür war ich vermutlich einfach zu mager. Oder zu muskulös? Ich fuhr mit der Hand weiter nach oben über meine Flanken und umfasste meine Brüste. Seufzend stelle ich fest, dass sie so klein waren wie eh und je. Eine gute Hand voll. Nicht mehr. Fotomodell war ich sicher keins. Nacktmodell schon gar nicht. Ich hatte bei Miles schon ein paar der Frauen im Playboy gesehen. Die bestanden nur aus Rundungen und unwillkürlich drängte sich mir wieder der Vergleich mit Sam auf.

War doch alles Mist. Ich schnappte mir Hotpants, ein Shirt und einen BH. Ein bisschen Wimperntusche gönnte ich mir heute auch. Dazu ein klein wenig Lippgloss. Eigentlich nicht so schlecht.

„Ich bin weg, Miles!", rief ich den Gang runter und stürmte die Treppe hinab, bevor er Gelegenheit hatte, Fragen zu stellen, die ich jetzt nicht beantworten wollte.

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