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Mit einer Umarmung verabschiedeten wir uns viele Stunden später. Es war beinahe Mitternacht. Schon mehrfach hatte eine Krankenschwester mich zum Gehen aufgefordert.
„Ich hab dich lieb, Lydie. Pass gut auf dich und meine Nichte auf. Ich komm Euch morgen besuchen."
Sanft strich ich meiner Schwester über den runden Bauch.
„Bis morgen, Dawson. Pass gut auf dich auf."
Als ich den modernen Bau verließ, stand Sam mit dem Pick-up vor dem Krankenhaus. Sie lehnte an der Beifahrertür und sah mir neugierig entgegen.
„Geht es ihr gut?", fragte die Dunkelhaarige und ich nickte. Dann legte ich ihr einen Arm um die Schulter, und küsste ihre Schläfe.
„Danke für deinen Rat", wisperte ich leise.
„Gern geschehen. Bin froh, dass es gut gelaufen ist."
Sie löste sich von mir und ging zur Fahrertür.
„Was nun, Grady? Nach Hause?", wollte Sam wissen und ich stimmte mit einem Nicken zu.
Wie es sich für ein anständiges Mädchen gehörte, verschwand Sam im Gästezimmer und ich in meinem. Ohne sie fühlte sich das Bett leerer an als es sollte. Sams Körper bot mir immer eine willkommene Ablenkung von unwillkommenen Überlegungen, Gedanken und Gefühlen. Nicht mehr und nicht weniger. Selten hatte ich mich schäbiger gefühlt als in diesem Moment, in dem ich in meinem stillen und dunklen Zimmer lag und schlaflos an die Decke starrte.
Egal wie ich die Sache drehte und wendete: ich benutzte Sam. Dabei war unerheblich, ob sie es wusste. Ob sie es genoss oder wie sie es fand. Mein Standpunkt war das Ausschlaggebende. Ich fand es genau in diesem Moment einfach Scheiße. Gleichzeitig wusste ich nicht, wie ich aus der Beziehung wieder rauskommen sollte. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, hatte ich eine Beziehung. Eine rein sexuelle, aber eine Beziehung, die über die Unverbindlichkeit einer einmaligen Sache hinausging. Sam war hier. Im Haus meiner Mum. Sie hatte mich begleitet, um mein Motorrad zu holen, hatte mich zu meiner Schwester gefahren und wieder abgeholt.
Zwischen uns entwickelte sich etwas. Nicht einmal ich war ausreichend blind, um das zu übersehen. Die Frage die sich stellte, war nur, ob ich mich darauf einlassen wollte. Ratlos drehte ich mich auf die Seite und betrachtete den leeren Platz in meinem Bett. Ich vermisste Sam und den Duft ihres Duschgels, ihres Shampoos und ihren leisen Atem. Gerne hätte ich mich jetzt an sie gekuschelt, meine Nase in ihren seidigen Haaren vergraben und ihre samtig weiche Haut gestreichelt, bis sie sich im Halbschlaf an mich kuschelte. Mit Glück hätte sich daraus etwas entwickelt, das mein Gehirn zum Schweigen brachte, sobald mein Körper die Führung übernahm.
Seufzend stand ich auf und starrte in den spärlich beleuchteten Garten. Alles was ich wollte, alles was ich brauchte, war so nah und doch so unendlich fern. Ich hätte nur über den Flur gehen brauchen und doch stand ich hier und bewegte mich nicht. Ich stützte die Hände auf die Fensterbank, den Kopf lehnte ich gegen das kühle Fenster. Mein Blick glitt über den Garten, die Straße hinab. Unaufhaltsam schwebten meine Gedanken weiter. Ich schloss die Augen. Wie schon heute bei meiner Schwester, schob ich das Bild nicht sofort zur Seite. Tief atmete ich ein, ließ die Erinnerungen zu, an einen zarten Körper, den feinen Duft nach Chlor. Das Bild eines Mädchens im Mondschein, das mein Denken in Unordnung und meine Gefühle in heilloses Chaos führte.
Sam, so leid mir das tat, denn sie war eine unfassbar heiße Frau, war nur ein Platzhalter in meinen Armen. Was ich wollte, war etwas ganz anderes. Etwas das nicht sein konnte. Nicht sein durfte. Nicht sein sollte. Daran hatte sich nichts geändert. Riley blieb eine Traumvorstellung außerhalb meiner Reichweite. Der Gedanke, ihr wehgetan zu haben, hatte mich heute zu Tränen gerührt. Und jetzt brachte es mich zu einer vollkommen verrückten Idee. Ohne nachzudenken, sprang ich in meine Jeans, schnappte mir meine Jacke und schlich die Treppe runter. Mums Fahrrad lehnte in der Garage an der Wand und vom Bord über der Werkbank schnappte ich mir die Taschenlampe.
Minuten später kam ich schlitternd vor der Schwimmhalle zum Stehen. Achtlos ließ ich das Fahrrad fallen, und kniete mich auf den Randstein. Dieser? Oder war es der andere Gully gewesen? Mann, ich hatte keine Ahnung.
Ich klemmte mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und leuchtete zwischen die Rillen, konnte aber rein gar nichts sehen, außer Laub, Papierschnipseln und anderem Dreck, den der Regen durch das Gitter des Kanaldeckels gespült hatte. Bei dem anderen Gully war es nicht besser. Schnaufend ergab ich mich in mein Schicksal und versuchte meine Hand durch die Schlitze zu stecken. Keine Chance. Mein Handballen war zu dick. Prüfend sah ich mich um. Kein Schwein zu sehen. Um vier Uhr früh auch kein Wunder. Da war kein Mensch unterwegs, der halbwegs bei Trost war.
Ich klammerte meine Finger um den Rost und zog an dem Kanaldeckel und nach ein wenig Geruckel und Gerüttel löste er sich und ich schob ihn beiseite. Nicht appetitlich, was da alles in dem siebartigen Ding unter dem Deckel hing und es roch auch zugegebenermaßen nicht gut. Dennoch streckte ich meinen Finger aus und stocherte darin herum, während ich mit der Lampe in den Schacht leuchtete. Die ganze Zeit über atmete ich möglichst flach. Nach einer halben Stunde im Dreck wühlen, gab ich schließlich auf. Entweder, das hier war der falsche Gully, oder der Anhänger war zusammen mit einem Regenguss verschwunden. Ich schob die Abdeckung wieder über den Schacht und kroch auf allen Vieren zum nächsten, dem zweiten in Frage kommenden Deckel. Dort wiederholte ich das Gewühle im Schmutz und Tränen stiegen mir in die Augen. Hier roch es noch übler. Als hätte jemand vor kurzem in den Kanal gekotzt. Trotzdem zog ich es durch, obwohl ich selbst würgte und nicht mehr an einen Erfolg glaubte. Stück für Stück drehte und wendete ich den kompletten Inhalt des Siebes. Ein leises metallisches Klicken ließ mich aufhorchen. Die Ursache war aber lediglich eine Münze, die sich im Dreck verfangen hatte. Vier oder fünfmal keimte Hoffnung, auf, wenn es klapperte, doch jedes Mal handelte es sich um Geldstücke. Geldbeutel runtergefallen? Ich wühlte weiter. Wieder erklang das Klicken. Ich glaubte fast nicht an mein Glück. Ich stieß auf den Schlüsselring. Er hatte sich in dem Sieb verfangen, der Rest des Anhängers war durch eine Ritze gefallen und baumelte im Schacht. Vorsichtig zog ich daran. Aber er bewegte sich keinen Millimeter. Je mehr ich zog, desto mehr wuchs meine Sorge, ich könnte den Ring abreißen und der Anhänger, der sich quergestellt hatte, würde in den Tiefen des Schachtes endgültig verschwinden.
„Ach, komm schon!", fluchte ich. Ich war so nah dran! Ich ruckelte am Sieb. Die von der Kanalreinigung hoben das Ding doch im Herbst auch raus und reinigten es von Blättern und dem ganzen anderen Mist. Warum saß das jetzt so fest? Was war der Trick? Ich zog mein Handy hervor und tippte mit meinen dreckigen Fingern „Kanaldeckel Sieb heben" ein. Das half ungefähr so viel weiter, als hätte ich „rosa Elefanten jagen" eingegeben. Wenn jemand wusste, wie das funktionierte, dann Abraham. Auf dem Hof gab es auch solche Schachtabdeckungen. Oder vielleicht kannte sich auch Sam damit aus. Sie verstand ja auch was von Motorrädern. Doch das hätte Fragen aufgeworfen, die ich nicht beantworten wollte. Erneut kniete ich mich vor den Kanalschacht. Ruckelte und fluchte meinen Frust in die dunkle Nacht. Vielleicht hatte es sich einen Millimeter bewegt. Ich ging in die Hocke und zog, zerrte. Schließlich knallte ich mit dem Arsch auf den Asphalt und ein Schwall stinkenden Drecks schwappte über meine Hose, mein Shirt und die Jacke. Wegschmeißen, war das erste, was mir durch den Kopf ging. Anziehen würde ich das sicher nicht mehr.
Ich entleerte das Sieb, dann drehte ich den Schlüsselring bis ich ihn durch den Schlitz schieben konnte. Mein silbernes Motorrad. Vor lauter Glück war mir ganz schwindelig. Ich befestigte es am Schlüsselbund, dann setzte ich das Sieb ein und schob den Dreck zurück in das Loch, setzte zu Letzt den Deckel wieder auf den Schacht.
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