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Nervös blickte ich die Fassade des Krankenhauses hoch. Sam hatte mich abgesetzt und der einzige Halt, den ich hatte, war der Strauß bunter Blumen, den ich in den Händen hielt.

Hinter der Automatiktür orientierte ich mich. In einem Glaskasten saß eine Frau mittleren Alters. Ein Schild mit der Aufschrift „Empfang" lenkte meine Schritte über hochglanzpolierten Natursteinboden in diese Richtung. Meine Sneakers erzeugten bei jedem Schritt ein Quietschen.

„Guten Tag", grüßte ich die Dame. „Ich würde gerne meine Schwester besuchen."

„Der Name?"

„Dawson Grady."

Spöttisch sah die Frau mich an. „Nicht ihr Name. Ich brauche den ihrer Schwester." Genau, Grady! Du Idiot! Und was jetzt?

„Ich hab keine Ahnung. Mum hat ihren neuen Familiennamen sicher nach der Hochzeit mal erwähnt, aber ich hab vermutlich nicht zugehört." Verlegen sah ich die Frau an.

„Kommt in den besten Familien vor. Das Geburtsdatum ist hoffentlich bekannt?"

Stolz nickte ich und nannte es der Dame.

„Na immerhin!" Sie zwinkerte mir zu.

„Der Vorname?", erkundigte sie sich.

„Lydia."

Eine Weile scrollte die Frau durch irgendwelche Listen, klickte mal hierhin, mal dorthin.

„Zimmer 102. Hier gleich die Treppe rauf und die dritte Tür links ist es."

Das Atmen fiel mir schwer, als ich die Treppe hochstieg, dabei war diese weder lang noch besonders steil. Trotzdem schlug auch mein Herz marathonmäßig, meine Knie zitterten leicht und kleine schwarze Flecken schwebten vor meinen Augen, so aufgeregt war ich.

„Es ist deine Schwester", beruhigte ich mich leise. Trotzdem brauchte ich ein paar Augenblicke. Sammelte mich, bevor ich anklopfte und dann zögernd die Tür zu einem kleinen Zimmer öffnete. Ein großes Fenster ließ viel Licht herein, die zartgelben Wände und der hellblaue Boden verströmten etwas Heimeliges.

Lydia saß auf ihrer Bettkante, in einen beigen Bademantel gehüllt, der als Zelt hätte durchgehen können. Ihre grünen Augen weiteten sich erstaunt.

„Was machst du hier?" sie runzelte die Stirn.

„Komm ich ungelegen?" Leise schloss ich die Tür hinter mir.

„Nein, gar nicht, Dawson. Ich hatte nur nicht mit dir gerechnet."

„Ich auch nicht!", antwortete ich vollkommen ehrlich und trat näher an das Bett.

„Ich hab dir, also euch, Blumen mitgebracht." Beredt blickte ich auf den Bauch meiner Schwester.

Sofort brach Lydia in Aktivismus aus und stand auf. Ihr Bauch hatte die Ausmaße eines Weinfasses und sie legte eine Hand in ihr Kreuz. „Ich frag mal nach einer Vase."

„Nein, bleib doch sitzen. Das kann ich auch."

„Ich bin schwanger, nicht krank. Hier hab ich kaum was zu tun. Ich sterbe schon beinahe vor Langeweile."

Lydia watschelte zur Tür und ich blieb in dem Zimmer stehen und sah ihr nach. Und jetzt? Was kam nach den Blumen? Was für eine Scheißidee herzukommen. Worüber sollten wir reden? Wir waren zu Fremden geworden.

Lydia kam zurück, stellte die wassergefüllte Vase auf einen kleinen Tisch und nahm mir dann die Blumen ab. Schweigen breitete sich zwischen uns aus, während Lydia zum Bett zurückschlurfte.

„Warum bist du hier?" Beinahe ängstlich sah sie zu mir hoch. Tränen standen in ihren grünen Augen. „Du...du hast es dir doch nicht anders überlegt?"

Oh! Naja, hätte natürlich ein Grund sein können.

„Nö. Ich wollte dir einfach nur Glück wünschen. Für morgen."

Das Gespräch erstarb erneut und verlegen versenkte ich meine Hände ich den Taschen meiner Jeans.

„Du hast Angst", stellte sie nüchtern fest.

„Nein, ich...fuck..." Ich fuhr mir durch die Haare. „Ein bisschen vielleicht?", gestand ich.

„Komm her." Sie klopfte neben sich auf das Bett und ich schlich näher, setzte mich vorsichtig neben sie. Nicht dicht genug, damit wir uns berührten, aber nah genug um ihre Gegenwart neben mir zu fühlen. Unglaublich, wie gut es tat, ihr so nahe zu sein.

„Ich mach mir auch Sorgen. Mo ist noch so klein. Und Dawn erst recht." Verträumt strich sie mit der Hand über ihren Bauch. „Dann sage ich mir wieder, alles ist gut. Ich bin jung und gesund. Bei der ersten Geburt hatte ich nur Pech. Aber weißt du was? Am liebsten wäre es mir, wenn ich mich im Schrank verstecken könnte und jemand anders geht zu dem Termin." Lydie seufzte und drehte ihren Ehering hin und her. „Nur leider geht das nicht." Tapfer lächelte sie. „Ich muss da morgen durch, ob ich will oder nicht."

„Vermutlich kann dir das keiner abnehmen", stimmte ich zu.

„Das bin ich ja schon gewöhnt. Es gibt eine Menge Dinge, die mir keiner abnehmen kann. Die Verantwortung für den Tod meines Vaters. Die Verantwortung für Mo und Dawn. Die Verantwortung für Mums Trauer."

Behutsam griff sie nach meinem Arm. „Die Verantwortung für deine Trauer und für das hier."

Sie strich über das Lederarmband, das ich trug.

„Ich wollte dich in der Klinik so gerne besuchen." Tränen tropften auf das Leder, unter dem ich meine Narben versteckte. „Dich in den Arm nehmen, dir sagen, wie leid mir alles tut."

Erstaunlich, in welchem Tempo Lydie auf die Dinge zu sprechen kam, die zwischen uns standen. Sie schien wirklich einen enormen Drang zu verspüren, zu klären, was zu klären war. Ich fühlte mich hilflos angesichts des Tempos, das sie vorlegte.

„Warum hast du es nicht getan?" Das gehörte zu den Dingen die mich wirklich bewegten.

„Mum sagte, es wäre nicht gut für dich. Du müsstest erst lernen mit deinem eigenen Schmerz klarzukommen. Es wäre zu viel Druck. Du würdest zu mir kommen, wenn du so weit bist. Die ersten Tage bin ich beinahe verrückt geworden, Dawson. Wenn ich den Krankenwagen nicht gerufen hätte, wärst du nie in die Psychiatrie gekommen."

„Das stimmt nicht. Früher oder später wäre es so oder so passiert. Du hast an diesem Punkt alles richtig gemacht, Lydie. Damals hab ich es noch nicht überblickt. Jetzt weiß ich, dass es das einzig Vernünftige war. Die haben mir dort wirklich geholfen."

Dankbar lächelte Lydia. Diesen Punkt konnten wir abhaken.

„Darf ich es sehen?", fragte sie leise und tippte auf das harte Leder.

„Klar."

Sie öffnete die drei Druckknöpfe, betrachtete das feine Geflecht, das sich über eine Länge von 15 Zentimetern über die Unterseite meines Unterarms zog. Kreuz und quer. Dicht an dicht.

„So viele", murmelte sie und strich über die verblassenden Linien. Niemand hatte bisher so vorsichtig darübergestrichen, als sei mein Arm aus Glas. Ich kannte schmerzende Desinfektionsmittel. Mehr oder weniger scharfe Klingen. Das Gefühl von Pflastern, die abgerissen wurden. Der sanfte kühle Finger meiner Schwester fühlte sich wie eine Streicheleinheit für meine geschundene Seele an.

„Die hier ist anders", stellte Lydia fest und fuhr mit besagtem Finger über eine Linie, die etwas wulstig war.

„Das war mein letztes Mal. Vor gut einem Jahr. Die Wunde war viel tiefer. Ich bin abgerutscht. Vielleicht hätte sie besser genäht werden sollen. Aber ich hatte keinen Bock auf noch mehr Psychotherapie. Also bin ich vorsichtshalber mal lieber nicht zum Nähen gefahren."

Lydia nickte. „Das verstehe ich. Ich habe aufgehört mit der Therapie, als Mo zur Welt kam. Es hat mich mehr gestresst, als es mir geholfen hat."

„War bei mir ähnlich."

„Mum sagte, du wärst damit durch. Warum hast du wieder angefangen?"

Einen Augenblick schwieg ich. Ich wollte nicht darüber reden. Gleichzeitig wollte ich mich jemandem anvertrauen. Vielleicht jemandem sagen, was mich bewegte, der mich kannte und im Ansatz verstand. Ohne diese professionelle Distanz eines Therapeuten. Ohne die Sorge meiner Mutter zu ertragen. Das war meine Schwester, mit der ich früher alles geteilt hatte, außer Schokolade. Einen Versuch war es allemal wert.

„Da kam ziemlich viel zusammen. Ich hatte angefangen, Dads Bike zu reparieren. Das tat mir gut. Ich hatte wieder eine Perspektive. Mir ist das Geld ausgegangen und ich hab sogar einen Haufen Schulden gemacht. Und dann war da die Sache mit Riley" Plötzlich sprudelte alles aus mir raus.

„Sie ist unglaublich hübsch und so unfassbar lebenslustig. Ich könnte sie stundenlang einfach nur beobachten. Alles, was sie tut, tut sie mit Begeisterung. Auf einer Party hat sie sich betrunken und dann versucht mich zu küssen. Ich war völlig vor den Kopf geschlagen und hab sie natürlich abgewiesen."

„Das versteh ich nicht. Klingt, als wärt ihr beide heftig verliebt gewesen."

„Riley war erst Vierzehn", flüsterte ich beschämt. Lydie zog scharf die Luft ein, stieß dann ein leise „oh je" aus.

„Aber damit endete es noch nicht." Ich erzählte meiner Schwester von der Sache auf dem Balkon und wie ich Riley im Arm gehalten hatte. Und von meiner Angst, mich zu kleinen Mädchen hingezogen zu fühlen, der Panik deswegen, die ich nicht hatte kontrollieren können und wie ich das Bad mit meinem Blut getränkt hatte. Schweigend hörte sie mir zu.

Unter Tränen erzählte ich von Weihnachten und der Katastrophe mit dem Anhänger und von dem heutigen Treffen, das mich schon wieder völlig aus der Bahn geworfen hatte.

Nicht einmal unterbrach Lydia mich. Als ich von dem Gully erzählte, der das Schmuckstück geschluckt hatte, zog sie mich nur in ihren Arm. Und minutenlang heulte ich mich an der Schulter meiner Schwester aus, bevor ich weitersprechen konnte.

Als ich endete, drückte sie mich. In diesem Moment wurden mir zwei Dinge glasklar: ich liebte meine Schwester. Und brauchte sie mehr, als ich es in den vergangenen Jahren hatte wahrhaben wollen.

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