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Erst auf dem Nachhauseweg, leicht angeheitert nach ein paar Runden Pool und Darts und noch mehr Runden Bier, fiel mir wieder ein, dass Riley übermorgen ihren Weihnachtswettbewerb schwimmen musste und ich ihr nicht einmal Glück gewünscht hatte. Das war nicht mehr zu ändern. Die Daumen konnte ich ihr ja trotzdem drücken. Wahrscheinlich war das aber auch gar nicht nötig. Sie schwamm wie ein Fisch und sie hatte es verdient eine Wild Card zu bekommen. Falls das Universum über so was wie Gerechtigkeitssinn verfügte zumindest.
Angezogen fiel ich ins Bett. Schlief wie ein Toter bis kurz nach Mittag.
„Dawson?" Meine Mum, hockte neben meinem Bett. Vorsichtig zog sie an meinen Handgelenken. Dann seufzte sie erleichtert auf. „Du solltest langsam aufstehen. Lydia kommt gegen zwei."
Sie fuhr mir durch die Haare und als ich zu ihr hochblinzelte, lächelte sie. „Glühwein?", fragte sie. Ich schüttelte den Kopf „Bier", krächzte ich.
„Ich hol dir Aspirin und dann geh duschen."
Sie verschwand und ich ließ meinen Kopf in das Kissen sinken. Was für ein Abend war das denn gewesen? Vielleicht genau der, den ich gebraucht hatte. Ich griff nach dem Schlüssel auf meinem Nachttisch, drehte mich auf den Rücken und hielt ihn hoch. Das kleine Motorrad baumelte hin und her und ich blickte ihm nach. Das hatte eine geradezu hypnotische Wirkung.
Ich hatte gestern Abend wirklich für ein paar Stunden vergessen, dass meine Schwester heute kommen würde, während wir versuchten Riley beizubringen, wie sie mit einem Queue die weiße Kugel auf die Halben und Ganzen spielte. Ihr fröhliches Lachen, wenn sie mal zufällig eine Kugel versenkte, hatte ich noch immer im Ohr. Mann, das Mädchen war sowas von süß. Doch das war nicht das Einzige, was sich unauslöschlich festgesetzt hatte. Ihr Hintern, wenn sie sich über den Tisch lehnte. Wie sie auf ihrer Lippe kaute und um den Tisch schlich auf der Suche nach einer Kugel, die sie für versenkbar hielt.
„Wie lang willst du hier noch rumliegen?", erkundigte sich meine Mum und legte mir zwei der weißen Tabletten in die offene Handfläche.
„Bin quasi schon auf dem Weg", murrte ich.
„Dawson?", rief sie mich an der Tür noch einmal zurück. „Kommst du... also, ich meine... Ist alles okay?"
Ich lächelte. „Klar, Mum alles gut!"
Ich schloss die Tür. Lehnte mich von innen dagegen. Meine Schwester war gerade das Geringste meiner Probleme. Das weitaus größere hieß Riley und machte mich völlig verrückt. Ich war einundzwanzig. Sie fünfzehn. Ich hatte einen Schaden und sie keine Ahnung, was sie in mir auslöste. Begehren. Anders konnte ich es nicht nennen. Unanständiges und wirklich heftiges Begehren, gegen das selbst eine kalte Dusche nur unvollständig wirkte und jede andere Lösung verbot sich selbstredend.
Mit meinen Geschenken joggte ich um kurz vor zwei die Treppe runter und legte die Pakete unter den Weihnachtsbaum.
„Ich bin scheißnervös", gestand ich meiner Mum, als ein Minivan vor unserer Einfahrt hielt und ein großer dunkelhaariger Mann aus dem Auto stieg. Auf der Beifahrerseite stieg Lydia aus. Sie hatte sich kaum verändert. Sie sah immer noch klein und zerbrechlich aus. Ihre Haare, die den gleichen Farbton hatten wie meine, hatte sie zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt und sie trug einen dunklen Wollmantel, helle enge Jeans, dazu rehbraune Stiefel. Unübersehbar war sie wieder schwanger. Ihr Bauch war deutlich gerundet und unbeholfen beugte sie sich durch die hintere Tür, um meinem Neffen aus dem Auto zu helfen. Ungeschickt sprang der Kleine Zwerg aus dem Auto. Morrison. Wurde Mo genannt, hatte meine Mum gesagt. Tony, ihr Mann, hob den Jungen hoch und Lydia sah einen Moment zu ihrem Mann hoch. Dieser lächelte beruhigend. Legte ihr einen Arm um die Schulter und zog sie an seine Brust. Er wirkte sehr fürsorglich, als er anschließend mit gesenktem Kopf auf sie einsprach und dabei ihren Blick hielt. Sie nickte und er küsste ihre Stirn. Wäre sie nicht meine Schwester, ich hätte mich gefreut, dass sei einen netten Mann hatte, der sich um sie sorgte.
„Noch kannst du gehen", sagte meine Mum überraschend sanft. Doch ich schüttelte den Kopf. Sie sollte nicht wieder entscheiden müssen. Nicht hundert Mal raufkommen und nachsehen, wie es mir ging. Sie sollte ihr Familienweihnachten haben, wenn es das war, was sie sich wünschte. Ich drängte mich tapfer an ihr vorbei und öffnete die Haustür selbst.
„Hi, Tony", begrüßte ich den baumlangen Dunkelhaarigen. „Hi, Mo." Dem Jungen mit den dunklen Augen auf dem Arm meines Schwagers schenkte ich ein ehrliches Lächeln. Dann sah ich meine Schwester an. „Lydia", sagte ich um Neutralität bemüht. Es klang kalt, aber nicht ganz so schlimm, wie es hätte sein können. Und dann würgte ich mein „Fröhliche Weihnachten", hervor. Dabei hielt ich meinen Blick auf Mo gerichtet. Blendete meine Schwester einfach aus.
„Kommt doch rein!" Ich trat zur Seite und überließ das Weitere meiner Mum und verschwand, etwas von Kaffee murmelnd, in der Küche.
Als ich die Kanne mit dem Gefilterten raustrug, saß meine Schwester am Tisch und sah mit großen Augen in meine Richtung. Die Tränen, die in ihren Augen schwammen, erinnerten mich an die Beerdigung. Da hatten wir uns das letzte Mal gesehen.
Tony war gerade dabei eine Decke auf dem Teppich auszubreiten. Er stellte eine Tasche auf den Boden und gab seinem Sohn ein bisschen Spielzeug. Nicht nur sein Sohn. Mein Neffe. Und ich hatte keinen Schimmer, was ich mit dem kleinen Mann anfangen sollte. Ich war einfach sowas von sozialbehindert. Wieso wunderte ich mich eigentlich, dass ich auf Riley stand?
„Möchtest du Kaffee?", fragte ich meine Schwester. „Ist koffeinfrei" Hatte ich sie das echt gerade gefragt? Wie war das nochmal? Ich schenke ihr keinen Blick? Naja, Kaffee war kein Blick. Damit war ich zumindest mir gegenüber nicht wortbrüchig.
„Gerne", sagte sie schüchtern. War das die gleiche Person, die früher durch das Haus getobt war und mir mit Vorliebe beim Boxtraining die Fresse poliert hatte? Nicht nur einmal war mein Mundschutz durch das Gym geflogen. Das Mädchen, das seine Schokolade anleckte, damit ich sie nicht aß und meine Pornohefte in der Feuerschale verbrannte, weil sie respektlos waren?
Ich nahm ihre Tasse, befüllte sie und stellte sie links neben ihren Teller. Einfach so, ohne Nachdenken. Wie immer. Weil sie Linkshänderin war. Eine Träne rollte über ihre Wange. Fuck. Ich starrte in ihre grünen Augen. Giftgrün wie meine. Wir waren Abziehbilder. Dad hätte keinen Vaterschaftstest benötigt. Er hätte nie zweifeln müssen. Eher unsere Mum. Optisch hatten wir nichts von ihr. Also ich nicht. Lydia hatte ihre breiten Hüften und naja, einen Busen eben. War aber jetzt nicht das Verdienst meiner Mum, sondern einfach normal.
Sie wischte hastig über ihre Wange. Dass sie weinte... naja, ich hätte nicht damit gerechnet. Doch nicht wegen einer blöden Tasse.
Tony kam zu uns und mein Neffe beschäftigte sich mit den Plastikbechern, die vor ihm auf der Decke lagen. Er versuchte sie zu stapeln. Aber so wirklich gelang ihm das nicht. Seine Bemühungen waren süß und erinnerten mich an Rileys gestrige Versuche, die weiße Kugel überhaupt mal zu treffen.
„Auch Kaffee?", fragte ich meinen Schwager. Holy, das war alles echt strange. Drei Fremde und doch waren wir unterm Strich eine Familie.
„Ja, gerne. Danke. Ich liebe Kaffee. Ohne den könnte ich nicht existieren. Ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue, wenn ich nicht dauernd die koffeinfreie Soße trinken muss. Naja, noch fünf Monate, dann können wir wenigstens morgens wieder echten Kaffee genießen." Er redet wie ein Wasserfall, während er sich neben Lydie setzte und ihr den Arm um die schmalen Schultern legte. Mum kam aus der Küche, wo sie die Torte bereits in Stücke geschnitten hatte und stellte diese dann auf den Tisch.
„Ist er nicht niedlich?", fragte meine Mum und lächelte ihren Enkel selig an.
Erde, halt an, ich will aussteigen! Aber sie drehte sich weiter und ich wanderte mit ihr durch diesen Nachmittag. Mo schien gefallen an meinem Geschenk zu finden, dass er mit seinem Dad zusammen auspackte. Ich hatte ihm ein Schmusetier gekauft, dass aus einem Kopf und einem Tuch bestand. Tony freute sich über die Kinokarten. Davon, dass er mit einem Kumpel gehen sollte, sagte ich nichts. Lydies Augen hatten kurz aufgeleuchtet, als Tony die beiden Karten aus dem Umschlag gezogen hatte. Da kriegte ich die Worte einfach nicht über die Lippen.
Später am Abend saß ich auf meinem Bett und fragte mich, warum eigentlich. Hatte ich nicht klar festgelegt, ich würde Lydia nichts schenken? Langsam wurde ich weich in der Birne. Wirklich. Wenn ich mir selber nicht mehr trauen konnte, wer dann?
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