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Den nächsten Vormittag verbrachte ich in meinem Zimmer und litt still an Muskelkater, bis Mum leise klopfte. „Ich fahre in einer halben Stunde", teilte sie mir durch die Tür mit. „Willst du es dir nicht doch nochmal überlegen?"

„Nein, verdammt! Was verstehst du daran nicht?", brüllte ich fassungslos über soviel Unverständnis ihrerseits.

„Okay, ich dachte nur..."

Ihre Schritte entfernten sich. Kurz darauf hörte ich die Dusche, wenig später den Föhn, dann eilige Schritte auf dem Flur.

„Ich bin dann weg", teilte sie mir, wieder durch die Tür, mit. „Hab einen schönen Abend."

„Du auch", murrte ich.

Wenig später schlich ich die Treppe runter in die Küche. Ich nahm Mums Rezeptbuch vom Regal und dann machte ich mich an den Apfelkuchen, den ich jedes Jahr machte. Heute eben nicht für uns, sondern als Geschenk für meine Gastgeber.

Dem Vorbild meiner Mum folgend sprang ich unter die Dusche und frisierte mich sorgfältig. Dann schlüpfte ich in ein weißes Hemd und eine schwarze Jeans. Hoffentlich war ich damit nicht underdressed. Ich band meine Krawatte ordentlich, zog mein Sakko an und mit dem Kuchen in der Hand verließ ich das Haus durch die Garage. Das Motorrad und das Werkzeug lagen noch genau so dort, wie ich es zurückgelassen hatte. Mum hatte nichts verändert. Wahrscheinlich hatte sie die Garage nicht einmal betreten.

Ich atmete tief durch, dann strich ich über den Lenker. Klammerte mich an die Perspektive, bei dem Mechaniker zu arbeiten, der in Handarbeit zweihundert dieser schönen Maschinen gebaut hatte. Klammerte mich daran, den Ort zu sehen, an dem mein Vater sich vor dreißig Jahren in diese Schönheit verknallt hatte, die ihn dann sein Leben gekostet hatte. Blitzendes Chrom, tiefschwarzer Tank, weiches Leder und ein Sound, der Gänsehaut verursachte. Und ich würde dieses Baby durch die Smokey Mountains fahren. Komme was wolle.

„Hey, Sharon", begrüßte ich Lios Mutter und überreichte ihr den frischen Kuchen.

„Du bist ein Goldstück! Danke!" Sie lächelte herzlich und umarmte mich. „Nimm dir in der Küche ein Bier, ja? Ich muss mich noch schnell umziehen." Sie strich ihre lackschwarzen Haare aus dem ovalen Gesicht.

„Wozu? Du siehst doch blendend aus?", gab ich zurück und erntete ein tiefes, fröhliches Lachen.

Mit dem Bier in der Hand gesellte ich mich zu Miles, Lio und dessen Dad. „Hey, Dawson! Schön, dass du mit uns feierst. Du hast sicher ein schönes Tischgebet vorbereitet?" Seine dunklen Lippen verzogen sich zu einem provokanten Lachen und entblößten strahlend weiße Zähne in seinem kaffeebraunen Gesicht.

„Nein, leider nicht, Steve", gestand ich kleinlaut.

Selbst wenn ich es getan hätte, dann hätte ich es vergessen bei dem Anblick, den Riley bot, als sie die Treppe herunterkam. In meinem Gehirn existierte nur noch Zuckerwatte.

Von der Sportlerin, die meistens Jeans und Shirts oder ausgeleierte Hoodies trug, war nichts zu sehen. Sie trug ein schwarzes Kleid im Stil der Fünfziger das knapp oberhalb ihrer Knie endete und dessen Ausschnitt parallel zu ihrem Schlüsselbein verlief und ihre Schultern frei ließ. An dem Ausschnitt glitzerten hunderte kleine schwarze Steinchen. Riley, oder vielleicht auch Stacey, hatte irgendwas mit ihrem langen braunen Haar gemacht, sodass es locker in Wellen über ihre Schultern fiel. Und ihre Augen leuchteten dank ihres dunklen Augen-Makeups noch heller als sonst, ihre Lippen glänzten von irgendeinem Lippenstift leicht rosig. Sie funkelte wie eine ganze Galaxie.

„Ladies, ihr seht umwerfend aus", tönte Steve neben mir und ging mit ausgebreiteten Armen auf die beiden Mädchen und Sharon zu, die ihnen folgte. Jede der drei bekam ein theatralisches Küsschen von ihm.

„Gut, also, dann wollen wir mal, oder? Wenn jeder von euch bitte eine Schüssel in der Küche abholt, dann wäre mir sehr geholfen", bat Sharon und widmete sich dann dem Vogel, der im Backofen briet.

Unter dem Gewicht des Essens bog sich der Tisch förmlich. Als wir alle saßen, übernahm Steve zu meinem und dem Glück aller das Tischgebet mit seiner volltönenden Stimme. Nervös beobachtete ich die Prozedur. Bei uns war es nie so förmlich zugegangen. Nicht einmal, als Dad noch gelebt hatte.

Ich reichte Sharon und Lio meine Hand und starrte auf meinen Teller, während Lios Dad das Gebet sprach. Was für eine seltsame Mischung wir darstellten. Ein Schwarzer, eine Latina und deren beiden Kinder. Dazu Strandgut, das die Wellen des Schicksals in ihr Haus gespült hatten.

Das Abendessen war viel lauter und fröhlicher als ich es je für möglich gehalten hätte. Einzig Riley zeichnete sich durch Zurückhaltung aus. Bei der Nahrungsauswahl war sie jedoch nicht zimperlich. Sie aß bestimmt so viel wie Lio und ich.

Nach dem Essen halfen wir alle Sharon, den Tisch abzudecken und die Reste in den Kühlschrank zu verpacken und dann gab es Kuchen, den Sharon vorbereitet hatte und meinen Apple Pie, den alle einstimmig lobten.

„Du kannst wirklich gut backen", stellte Riley fest und angelte sich grinsend ein zweites Stück.

„Und du kannst gut essen", gab ich zurück. Im selben Moment wurde mir klar, wie unhöflich der Satz rüberkam. Prompt blieb auch Rileys Gabel auf dem Weg zum Mund hängen und sie starrte mich böse an.

„Ich kann es mir eben leisten", fertigte sie mich ab und für den Rest des Abends wurde ich – diesmal verdient- zu Luft für sie, außer ich trat beim Monopoly auf ihre Straßen. Dann kassierte sie mich ohne Gnade ab.

Den Freitag verbrachte ich in der Mall. Dort deckte ich mich bereits mit den ersten Weihnachtsgeschenken ein, denn Schnäppchen gab es heute zu Hauf. Allzu viele hatte ich auch nicht zu beschenken: meine Mum, Lio, Stacey und Chad. Mehr waren es nicht. Wobei ich ernsthaft grübelte, ob ich für Miles und Riley etwas besorgen sollte. So oft, wie Riley bei Stacey war... Wäre peinlich, wenn ich für jeden etwas zu Weihnachten hätte, aber für Miles und Riley nicht.

Schließlich entschied ich mich dafür und kaufte für Riley das gleiche wie für Stacey: ein Paket von diesen Stiften, mit denen sie und Stacey stundenlang ihre Notizbücher verzierten. Vielleicht nicht sehr einfallsreich, aber für beste Freundinnen? Kurz vor der Kasse überlegte ich es mir dann doch anders und ging noch einmal zurück und kaufte für Riley eine andere Farbzusammenstellung. Beste Freundinnen, ja. Aber sie waren ja keine Zwillinge. Nun war ich überzeugter von meiner Wahl.

Für Miles besorgte ich eine Sonderausgabe von Romeo und Julia, die in Jugendsprache geschrieben war. Mit Schimpfwörtern, Halbsätzen und dem ganzen Scheiß. Dass er auf Shakespeare stand, da war ich mir sicher.

Den Abend verbrachte ich in meinem Zimmer mit Schleifenband, Papier und Tesa und verpackte die Geschenke. Das hatte den Vorteil, dass niemand versehentlich sehen würde, was er geschenkt bekam, wenn ich meinen Schrank öffnete.

Den Samstag verbrachte ich in der Garage und sortierte mein Werkzeug und räumte meine Werkbank auf. Dann ließ ich das Öl und das Benzin aus dem Motorrad ab, damit nichts in meiner Abwesenheit auslaufen konnte und stellte die Maschine so neben meiner Achtziger ab, dass Mum im Winter die Garage nutzen konnte.

Anschließend packte ich meine Tasche. Zu oberst legte ich Chads Weihnachtsgeschenk, denn er würde das Fest, wie jedes andere auch, bei seine Grandma verbringen. Also musste ich ihm sein Paket vor Weihnachten bereits geben.

Mit der Tasche in der Hand, meine Jacke über dem Arm, betrat ich das Wohnzimmer. Mum saß im Sessel und schaute irgendeine intelligenzbefreite Talkshow an.

„Ich fahre zurück zur Uni", teilte ich ihr mit.

Sie stellte den Ton ab und stand auf. „Dawson, ich..."

„Mum, lass es. Ich möchte nicht über irgendwelches Zeug reden."

Unentschlossen sah sie mich an. „Aber wir müssen über diese Dinge doch..."

„Mum, ich will nicht!", betonte ich. „Lydia ist für mich gestorben. Akzeptiere es oder auch nicht."

„Kommst du Weihnachten?", wechselte sie das Thema.

„Ich hatte es geplant, ja", antwortete ich.

Sie nickte. „Ich werde am zweiten Weihnachtstag Lydia hierher einladen. Nur damit du dich darauf einstellen kannst."

„Danke für die Warnung." Zäher Sarkasmus triefte aus meiner Stimme und vergiftete die Stimmung weiter. Mission abbrechen, war das einzig Vernünftige. Ich trat an Mum heran und umarmte sie. In meinen Armen fühlte sie sich zerbrechlich an wie ein zarter Vogel, ihre lockigen von grauen Strähnen durchzogenen Haare kitzelten an meinem Hals.

„Bis dann, Mum. Ich ruf diesmal an, wenn ich angekommen bin", versprach ich.

„Fährst du mit Lio?" Sorge stand in ihren Augen. Ich kannte sie. Diese Angst. Die nagte. Die stach. Die einen auffraß, bis man wusste, der andere war angekommen.

„Nein. Ich fahr mit dem Bus. Lio bleibt bis morgen. Aber ich muss meine Hausarbeit fertig schreiben. Ich hab bei der Recherche Schwierigkeiten gehabt."

Komisch, dass wir jetzt mehr redeten als die vergangenen Tage zusammen.

„Dann viel Erfolg damit. Es tut mir sehr leid, dass das Wochenende so verkorkst war. Ich hoffe, wir bekommen es beim nächsten Mal besser hin." Hoffnungsvoll sah sie mich an.

„Ich denke. Schlimmer geht fast nicht", feixte ich und etwas zögerlich nickte Mum.

„Soll ich dich zum Busbahnhof fahren?", bot sie mir dann an.

„Danke, Mum, aber ich laufe das kurze Stück gerne. Ich hab noch genug Zeit, bis der Bus geht."

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