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Am nächsten Morgen war ich todmüde. Das Brennen auf meinem Unterarm hatte mich lange wachgehalten. Das Zeug war stärker, als das, was ich sonst benutzt hatte. Noch jetzt war die Haut deutlich gerötet. Ich schlüpfte leise in ein langärmliges Hemd und eine Jeans, um Chad nicht zu wecken, dann schlich ich nach draußen und stieg dort in die Schuhe, die ich in der Hand hielt.

Ich suchte mir ein Café, von dem aus ich den Eingang der Einkaufsmeile im Blick hatte und bestellte mir ein Frühstück. Später Wasser. Cola. Ein Mittagessen. Kuchen. Und gegen Abend Rührei. Dann brach ich mein soziales Experiment ergebnislos ab. Ich hatte keine Frau gefunden die mich irgendwie ansprach. Das war schlecht. Gut war: keine der Teenagerinnen, die in Gruppen zwischen zwei und sechs Mädchen unterwegs waren, hatten etwas ausgelöst. Selbst die Mädchen und Frauen nicht, die sich in der Nähe niederließen und versuchten, mit mir zu flirten.

Auch die nächsten Nachmittage, die ich nach der Uni in der Öffentlichkeit verbrachte, halfen mir nicht weiter. Sie trugen lediglich zu der Erkenntnis bei, dass Geld schnell weniger wurde, wenn man ständig in Cafés rumhing oder in Malls. Oder an anderen beliebten Frauentreffpunkten wie zum Beispiel vor dem „Mrs. Perfect", einem Fitnessstudio nur für Frauen, und dabei den Imbissstand leer fraß.

Am folgenden Wochenende setzte ich das Experiment auf einer Party fort. Und landete schließlich mit einer vollbusigen Blondine im Bett. Die hatte mich mal richtig angeturnt. Und sie war zwei Jahre älter als ich. Wenn da mit jemandem was nicht stimmte, dann mit ihr, oder?

Alles in allem trug der Sex deutlich zu meiner Entspannung bei und danach schaffte ich es endlich, mich wieder auf die wichtigen Dinge im Leben zu konzentrieren: Alkohol, Training, Ärsche, Titten. Oh, und natürlich aufs Lernen.

Das mit der Konzentration nahm ich so ernst, dass ich völlig überrumpelt war, wie schnell Thanksgiving vor der Tür stand und ich mit Lio nach Hause fuhr. Chad hingegen wollte nach Cincinnati zu seiner pillenschluckenden Grandma. Erst nach dem verlängerten Wochenende würden wir uns wiedersehen.

„Ach, sieh an, da ist ja mein verschollener Sohn zurück", begrüßte meine Mum mich, als sie mir die Tür öffnete. Den Scheiß hörte ich mir jetzt seit Wochen an.

„Ich kann auch wieder gehen, Mum", bot ich ihr an.

Sie trat zur Seite. „Komm einfach rein", antwortete sie in versöhnlichem Ton, legte mir einen Arm um die Schultern und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Ich freu mich, dich zu sehen. Du hast nicht gesagt, dass du nach Hause kommen würdest. Das ist jetzt etwas überraschend."

Klar, voll überraschend, dass ich zu Thanksgiving nach Hause kam. Jeder, den ich kannte, verbrachte den Feiertag mit seinen Verwandten und seinen Freunden. Doch sie vermittelte mir gerade das Gefühl eine Kuriosität aus dem Gruselkabinett zu sein. Mum ging in die Küche, wo sie gerade einen Salat vorbereitete und ich folgte ihr.

„Wer kommt zu Thanksgiving nicht nach Hause?", fragte ich sie spitz und sie sah von der Gurke auf, die sie gerade in Scheiben hobelte.

„Wer fährt einfach von jetzt auf gleich zurück an die Uni, ohne ein Wort zu sagen?", konterte meine Mum.

Das war eine Logik, die ich nicht widerlegen konnte. Sie atmete tief durch. Kreuzte die Arme vor der Brust. Was jetzt kam, war unangenehm. Das erkannte ich bereits an ihrer ganzen Körpersprache. Daran, wie sie die Lippen kurz spitzte, als müsste sich überlegen, wie man Worte formte.

„Lydia hat mich gefragt, ob ich Thanksgiving mit ihr und ihrer Familie verbringen will. Ich habe zugesagt. Du kannst aber sicher mitkommen."

Wäre ein pinkes Kaninchen durch unsere Küche gelaufen und hätte „Wicked Games" auf Koreanisch gesungen, wäre ich nicht erstaunter gewesen. Sicher entgleisten meine Gesichtszüge gerade. „Lydia? Willst du mich verarschen? Wenn die Idee ist, sie zu vergiften, ich bin sofort dabei. Bei ihr essen? Nein. Ohne Scheiß, Mum. Im Leben nicht. Nicht in diesem und nicht im nächsten."

Mum lehnte sich gegen die Kücheninsel, presste die Lippen zusammen. Was sie dann sagte war noch irritierender als pinke Felltiere.

„Sei nicht so hart zu deiner Schwester." Ich war in einem Paralleluniversum gelandet, in dem meine Mutter meine Schwester in Schutz nahm. Das war wirklich sehr bedenklich.

„Ich bin nicht hart. Der ganze Scheiß wär nicht passiert, wenn sie angerufen hätte, dass sie Streit hatten. Dad hätte bei dem Wetter niemals fahren dürfen." Warum redeten wir darüber? Hatte Mum vielleicht Frühdemenz und vergessen, wie ich die Dinge sah? Ich sollte sie besser schnellstens zum MRT anmelden, damit jemand ihren Kopf durchcheckte.

„Das hat aber nicht sie entschieden, sondern euer Dad. Und zwar ganz alleine! Sie trifft keine Schuld, Dawson. Wann willst du das begreifen? Schuld war Dad, weil er auf diesem Teufelsstuhl durch die Gegend fahren musste. Er hätte auch mit dem Auto zu Lydia fahren können."

Tränen standen in Mums Augen.

„Seh ich ganz anders. Lydia hätte anrufen können. Sie wollte nicht."

„Dawson, bitte. Dad hätte das nicht gewollt. Sei doch nicht so ungerecht!", begann sie wieder die alte Leier. Immer wenn ihr was nicht passte, sie mich zu etwas zwingen wollte, dann kam „Dad hätte dies.", „Dad hätte das." Oder jetzt hätte er eben nicht.

„Dad hätte es nicht gewollt? Was weißt du denn, was er gewollt hätte? Ist er nachts in dein Schlafzimmer geschwebt und hat es dir gesagt? Verdammt, Mum! Mach die Augen auf. Dad ist zu ihr gefahren, weil er wollte, dass sie endlich Verantwortung übernimmt. Er hätte gewollt das sie anruft, Mum. Dass sie einmal in ihrem verdammten Leben nicht egoistisch ist und das Richtige tut!"

Mum fuhr sich über das Gesicht. „Weißt du was ich mir wünsche? Dass mein Sohn auch einmal das Richtige tut. Komm einfach morgen mit. Gib ihr eine Chance. Sie hat sich verändert."

Toll! Sie hatte sich verändert. Ich auch. Alles hatte sich verändert. Nichts würde je so werden wie vor sechs Jahren. Ich starrte Mum an. Sie starrte zurück.

„Nein. Niemals, Mum. Verstehst du? Nie", sagte ich so ruhig ich konnte. „Fahr morgen hin, wenn du willst. Ich bleib hier."

„Du zwingst mich also schon wieder, zwischen meinen Kindern zu entscheiden?" Ihre Stimme klang dünn und angestrengt.

„Ich zwing dich zu nichts, Mum." Meine Stimme klang hart und unnachgiebig.
„Doch, natürlich. Ich werde mich die ganze Zeit fragen, was du tust. Ob du klarkommst. Selbst wenn ich zu ihr fahre, werde ich im Kopf dauernd bei dir sein. Mir Sorgen machen, ob alles okay ist."

„Das ist dein Problem, Mum, nicht meins. Ich geh rauf. Außer du möchtest lieber, dass ich wieder gehe."

„Natürlich kannst du bleiben. Das hier ist doch auch dein zu Hause?" Mum sah mich unsicher an.

Ich nickte. Wenn ich jetzt etwas gesagt hätte, dann wäre die Sache eskaliert. Das wollte ich nicht. Ich hatte heute schon mehr als genug Dinge gesagt, die zu besprechen ich nicht geplant hatte.

„Ich bin zum Essen heute nicht da. Lio hat mich gefragt, ob ich vorbeikomme. Kann ich mir dein Rad leihen?"
„Was ist mit deinem Auto?", erkundigte sie sich besorgt.

„Verkauft", antwortete ich schlicht und ging nach oben.

Zu Hause. Was war zu Hause? Ein leeres Wort. Zu Hause, das war vor langer Zeit einmal gewesen. Und niemals hier.

„Kann ich schon früher kommen? Ist ungemütlich hier", schrieb ich Lio und packte in der Zeit in der ich auf seine Antwort wartete, meine Tasche aus. Die Zutaten für den Apple Pie, den ich morgen hatte für Mum backen wollen, stapelte ich auf den Schreibtisch.

„Logo! Immer!", schrieb Lio nach Kurzem und nach einem Umweg über die Küche, wo ich die Zutaten verstaute, verließ ich grußlos das Haus. Ich konnte Mum jetzt nicht ansehen.

Dankbarkeit gegenüber Lio keimte in meinem Herzen auf, während ich die Straße hinunter radelte. Den Abend hätte ich zu Hause sicher nicht ohne mentale Schäden überstanden.

Lio öffnete mir die Tür. Seine Wangen waren gerötet und er war leicht außer Atem. Aus dem Wohnzimmer war fröhliches Gejohle und Gelächter zu hören.

„Was ist dir denn passiert?", erkundigte ich mich.

„Riley ist passiert", lachte er und bei dem Namen sackte mein Herz in die Hose. Ich hatte sie die letzten Wochen über so vollständig verdrängt, dass mich die Erkenntnis, dass sie hier war, nun mit der Wucht eines Güterzuges traf. Dass mein Kumpel ihretwegen außer Atem und erhitzt war, störte mich gewaltig und zerrte an meinen ohnehin blank liegenden Nerven.

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