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Triggerwarnung!
Wem Selbstverletzendes Verhalten unter die Haut geht, oder wer selbst betroffen ist, liest hier nicht weiter!
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„Dawson, ich gehe arbeiten", rief meine Mum die Treppe rauf.

„Okay", krächzte ich. Mir fehlte gerade die Energie, um lauter zu schreien. Entsetzt starrte ich auf die Sauerei im Waschbecken, dann schloss ich die Augen, sah Rileys wunderschöne Augen mit diesen dreihunderttausend winzigen Sprenkeln vor mir.

Drei Tage waren vergangen seit der Party und dem Kuss. Inzwischen war ich nicht mal mehr sicher, ob ihre Lippen meine überhaupt berührt hatten, oder ob ich mir nur wünschte, es wäre so gewesen. Ich hatte keine Ahnung mehr, was ich gefühlt hatte. Fühlen wollte. Fühlen sollte. Fühlen durfte.

Was ich wusste war, dass das Brennen, das ich jetzt spürte real war. Real war auch der Schwindel. Die Übelkeit. Das leichte Zittern. Und das ich abgerutscht war. Buchstäblich und im übertragenen Sinne. Ich griff nach meinem Handy.

„Lio, bitte, kannst du rüberkommen?", fragte ich matt, enttäuscht von mir und der Tatsache, dass ich es nicht geschafft hatte, stark zu bleiben, dem Druck in meinem Inneren Stand zu halten.

„Ich bin grad beim Essen. Gib mir zehn Minuten, okay?", antwortete er schmatzend.

„Okay. Nimm den Schlüssel, ja? Ich kann nicht an die Tür kommen."

„Ist gut", gab er von sich. Dann: „Wieso eigentlich? Was ist los?"

„Komm einfach her, ja?", bat ich ihn eindringlich.

„Dawson? Hast du... fuck, bin gleich da. Riley, aus dem Weg! Mann Stacey, müsst ihr das mitten im Wohnzimmer machen? Wozu hast du ein Zimmer?" Irgendwas klapperte, Lio fluchte erneut, jammerte was von seinem Schienbein.

Stacey schimpfte, Riley lachte im Hintergrund und ich lauschte dem melodischen Klang. Dann war die Leitung tot. Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten, in denen ich auf dem Klo saß und wartete, einen Lappen auf meinen schmerzenden Unterarm presste. Das viereckige Metall am Waschbeckenrand verhöhnte mich. Lockte mich gleichzeitig noch immer.

„Dawson?" Die Badtür flog auf und die dunklen Augen meines Freundes huschten durch das Bad, nahmen das Schlachtfeld in sich auf, dann blies er die Backen auf.

„Hattest du das nicht hinter dir?", fragte er und sah mich besorgt an.

„Mensch, Dawson! Warum rufst du nicht einfach an, wenn es dir Scheiße geht? Du weißt doch, dass ich für dich da bin. Die meisten Dinge sind nicht halb so schlimm wie in deiner Phantasie." Klar, wusste ich es. Ich hatte es auch drei Tage lang geregelt bekommen und war stolz auf mich gewesen. Heute eben nicht mehr.

Nachdenklich griff er nach dem Verbandskasten im Badschrank. „Wobei ich gestehen muss, das hier sah in meiner Phantasie nur halb so dramatisch aus. Dir ist klar, dass es „ritzen" heißt und nicht „amputieren"?"
Nur die unverwüstliche Frohnatur, die vor mir stand konnte über den Dreck noch Scherze machen. Wobei er unter seiner dunklen Haut heute auch ein wenig blasser wirkte als üblich.

Er band sich seine Rastazöpfe mit einem von Mums Stirnbändern aus dem Gesicht und schlüpfte in ein Paar der schwarzen Latexhandschuhe, die in unserem Verbandskasten lagen. „Lass mal sehen."

Behutsam entwand er mir den Waschlappen, den ich mir auf den Unterarm drückte und legte ihn am Waschbeckenrand ab, dann drehte er das Wasser auf. Unnachgiebig hielt er mein Handgelenk unter den lauwarmen, weichen Strahl und ich sah zu, wie das Wasser in den Abfluss strudelte und mein Blut mit sich fortspülte. Leider nur das Blut. Nicht meine Gefühle. Meine Ängste oder Sorgen.

„Alles halb so wild", faselte er und ich fragte mich, wen er gerade beruhigen wollte. Ich hatte die Unmengen Blut ja selbst gesehen.

„Was hattest du vor, Mann? Wolltest du dich umbringen?" Lio ging vor mir in die Hocke und drückte ein steriles Tuch auf den Schnitt, aus dem noch immer Blut sickerte. Die Besorgnis in seinem Ton entging mir nicht.

„Dawson, rede mit mir. Ich dachte, dir geht es ganz gut im Moment. Was ist passiert?"

Ich schluckte gegen meine Tränen an. Tränen! Echt jetzt? „Die von der Garage haben angerufen. Ich bekomme keine Teile mehr, bevor ich die Rechnungen nicht bezahlt habe." Und ich träumte von dem Kuss einer Vierzehnjährigen, von dem ich nicht einmal mehr wusste, wieviel Wunschdenken war.

„Warum hast du nichts gesagt? Ich kann dir doch Geld leihen."

„Es ist zu viel, Lio. Wir reden über mehrere tausend Dollar", erklärte ich verzagt. Wie zu erwarten war, weiteten sich seine Augen überrascht. Ich war auch erschrocken, als die Buchhalterin mir die Gesamtaufstellung gemailt hatte.

„Und jetzt?"

„Ist Schluss mit Schrauben, es sei denn ein Einhorn fliegt vorbei und scheißt Goldtaler."

„Die können fliegen? Wusste ich gar nicht. Dachte das ist dieses Pferd, das Flügel hat." Vorsichtig hob er die sterile Kompresse an. „Hat aufgehört zu bluten. Ich bin aber nicht sicher, ob das genäht werden muss."

Ratlos starrte ich auf den Schnitt. „Ich will nicht ins Krankenhaus. Die stecken mich gleich wieder in eine Scheiß Therapie. Dafür hab ich jetzt keine Zeit. Ich muss die Kohle zusammenkriegen."

Verständnis stand in den dunklen Augen meines Gegenübers. „Okay", stimmte er zu. „Das verstehe ich natürlich. Versuchen wir es mit Klammerpflastern."

Dankbar nickte ich und er holte die weißen, festen Streifen aus der Verbandstasche. Mit diesen zog er den viel zu tiefen Schnitt zusammen. Dann umwickelte er meinen Unterarm mit einer Mullbinde.

„Wirst du es deiner Mum sagen?"

„Nein, ich sag ihr einfach, ich bin beim Schrauben an irgendwas hängen geblieben."

„Und noch mehr Lügen. Mensch, Dawson. Davon wird es nicht besser."

Ich wusste, dass er recht hatte. Trotzdem wollte ich nicht, dass sie es wusste. Sie machte sich schon genug Gedanken wegen der Hypothek, wegen meines Studiums. Wegen der Mädchen, die ich verschliss und wegen der Raucherei. Zu meiner Verteidigung konnte ich wenigstens anbringen, dass ich nichts Kriminelles machte, keine Drogen nahm und auch nur mäßig trank. Meistens zumindest.

„Wenn es noch mal vorkommt, dann rede ich mit ihr und dann hol ich mir auch Hilfe. Es war ein Ausrutscher. Das Motorrad ist mir einfach verdammt wichtig. Dass nun wieder nichts voran geht, nervt mich unglaublich."

Und dann war da noch dieses Mädchen, das mir den Verstand raubte.

„Und es wird dich weiter stressen. Dawson, mir gefällt das nicht. Aber wenn du keine Hilfe willst, dann kann ich mir jetzt den Mund fusselig reden und es kommt nichts raus. Du könntest dir zumindest vorsichtshalber diese Salbe holen, die du vor einiger Zeit hattest. Das ist besser, als wenn du dir ausversehen die Hand abtrennst und dann im Bad verblutest." Er klang kühl und distanziert. Ich verstand, dass er Abstand brauchte. Meine Probleme nicht zu nahe an sich selbst heranlassen wollte. Trotzdem tat seine Reaktion weh. Er stand auf, säuberte das Waschbecken, wusch den Waschlappen aus.

Nachdem er alles gereinigt hatte, ließ sich von mir einen der kleinen Müllbeutel für den Badmülleimer geben und stopfte das blutige Verbandszeug und auch seine Handschuhe mit rein.

„Willst du mitkommen? Mir wär es lieber, wenn du jetzt nicht allein wärst."

„Riley ist bei euch, oder?"

„Hm, vorher war sie es."

„Ich möchte sie nicht in Verlegenheit bringen." Und nicht in ihre verflucht hübschen Augen sehen. Oder an ihre Lippen erinnert werden. Außerdem musste ich noch dringend eine wichtige Sache klären. Letzteres war das, was ich ihm auch sagte. Er bezog es auf die Sache mit dem Motorrad und das war gut so. Wenn ich ihm gesagt hätte, was ich plante, dann hätte er mir wohlmöglich einen Vogel gezeigt. Die Idee war auch bescheuert, eine Bessere hatte ich aber nicht. Das was ich rausfinden wollte, war nichts, was man mal eben googelte.

„Dann sehen wir uns morgen zum Training?"

Halbherzig nickte ich, da mir schon klar war, dass ich nicht kommen würde. Unbeholfen umarmte ich Lio zum Abschied und sah ihm hinterher, wie er zum Auto ging.

Die Schnitte an meinem Arm brannten. Trotzdem packte ich meine Tasche in Rekordgeschwindigkeit. Nein, nicht trotzdem, gerade deshalb.

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