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„Seid ihr völlig übergeschnappt?", zischte Lio am Rande eines Tobsuchtsanfalles.

„Mum und Dad töten mich." Seine Verzweiflung war beinahe lustig. Ich legte Riley, die leicht schwankte, einen Arm um die Taille und folgte Lio und seiner Schwester zum Sofa.

Ich reichte Riley eine Flasche, beobachtete dann, wie sie sich abmühte, diese zu öffnen. Das konnte man ja nicht mit ansehen. „Hier und jetzt trink das", sagte ich sanft, und gab ihr die Flasche geöffnet zurück. Lio ging mit Stacey härter ins Gericht. Sie war aber auch seine Schwester, vermutlich wäre ich da auch ausgeflippt. Stumm saß Riley neben mir und nippte ihr Wasser. Immer mal wieder blickte die Kleine mich unter ihren gesenkten Augenlidern von der Seite an. Aus der Nähe waren ihre Augen noch schöner. Nicht blau-grau. Da waren noch grüne Streifen und kleine braune Sprenkel, als hätten sich winzige Sommersprossen von ihrer Nase in die Augen verirrt.

Jetzt, wo sie mir direkt ins Gesicht sah, konnte ich erkennen, dass die Sprenkel in ihren Augen ganz unterschiedlich verteilt waren. Ich blickte zwischen ihren Augen hin und her, verlor mich zwischen den kleinen Punkten, die eine ganze Galaxie in ihren Augen bildeten. Der sanfte Hauch ihres Atems, der mein Gesicht streifte, roch intensiv nach Whiskey und ihre rosa Lippen schmeckten süßer als Jackie Cola und die Hitze, die sie auslösten, war die des Fegefeuers, in dem ich schmoren würde. Das Johlen um mich herum war dagegen wie ein Kübel Eiswasser.

„Verdammt Riley! Was soll der Scheiß? Sieh dich an! Du bist noch ein Kind!", fluchte ich und schob sie von mir. Sie sah mich mindestens so schockiert an wie ich sie. Ungläubig lachte ich. Das war doch nicht ihr Ernst? Sie hatte wirklich versucht mich zu küssen.

„Du hast sie doch nicht mehr alle!", schimpfte ich weiter und stand auf. „Ich, glaub es nicht! Seh ich für dich wie ein Kinderficker aus, oder was?" Verhaltenes Lachen erklang um uns, aber ich fand schon, seit ich Riley betrunken auf der Tanzfläche entdeckt hatte, gar nichts mehr lustig. Ohne Riley einen weiteren Blick zu gönnen ging ich in die Küche. Auf den Schreck brauchte ich einen Schnaps. Hallo? Das hier war Tennessee und Riley verdammte sechs Jahre jünger als ich. Ich füllte mir Whiskey in ein Küchenglas, schüttete es runter, füllte noch mal nach. Ratlos stützte ich mich mit den Händen auf der Küchentheke ab. Automatisch fiel mein Blick auf das breite Lederarmband, dass ich trug. „Nicht dran denken", ermahnte ich mich und blickte auf die drei dunklen Druckknöpfe, die das Armband zusammenhielten. Nervös strich ich mir durch die Haare. Leerte das nächste Glas. So ein Dreck.

Marcus kam in die Küche.

„Komm, jetzt reg dich mal ab. Ist doch alles halb so wild. Jeder hat gesehen, dass das von der Kleinen ausging und nicht von dir."

„Und wenn mich jemand anzeigt? Ich kann mir grad keinen Anwalt leisten!"

„Quatsch, Alter. Wir sind ja nicht in Kalifornien, wo sie dich nach einem heißen Zungenkuss in Handschellen und mit Blaulicht abholen. Ihr habt euch kurz geküsst. So what? Du hast sie nicht gefickt, Mann! Chill mal!" Er klopfte mir auf die Schulter. „Mach dich einfach locker. Alles ist gut!"

Das sagte er so einfach dahin. Für mich war gerade nichts gut. Ich stand kurz vor einer Panikattacke. Meine Sorgen schwammen wie Haifische um mich herum, zerrten an meinen Armen und Beinen und zogen mich unter Wasser. Das Atmen fiel mir schwer und mein Herz raste. Ich rieb mir mit der Hand über das Gesicht, versuchte ruhig zu bleiben.

Wenn wirklich alles gut war, hätte ich ihr dann nicht ausweichen müssen? Warum hatte ich es überhaupt so weit kommen lassen? Vielleicht, weil eben doch nicht alles gut war!

„Ich fahr nach Hause", informierte ich Marcus.

„Du kannst nicht mehr fahren", intervenierte Lionel, der zu uns trat. „Unter Einfluss zu fahren ist kein Kavaliersdelikt."

„Mach einfach weiter, wo du vorher aufgehört hast", schlug Marcus vor. „Nicht mit Riley, sondern mit Clarice", präzisierte er und Lio schnaubte belustigt.

„Witzbold, war mir schon klar", antwortete ich genervt.

„Lio? Du musst kommen!" Panisch zerrte Stacey am Arm ihres Bruders und unterbrach so unser Gespräch. „Bitte! Riley weint so schrecklich und sie will nicht vom Geländer runter. Sie sagt es würde eh niemanden kümmern, ob sie sitzen bleibt oder runterfällt. Ich hab Angst, Lio!"

Leicht schwankend drängte ich mich an Stacey und ihrem Bruder vorbei. Die beiden letzten Drinks hätte ich mir mal besser gespart. Die Worte von Stacey hatten aber eine definitiv ernüchternde Wirkung und zwei Stufen auf einmal nehmend sprintete ich die Treppe hoch. Auf der Hälfte hatte das Adrenalin den Kampf gegen den Alkohol in meinem Blut gewonnen. Mit rasendem Herzen blieb ich schlitternd vor Staceys Zimmertür stehen.

Behutsam schob ich die Tür auf, vergaß die anderen Partygäste, die mir teils besorgt, teils neugierig oder gehässig tuschelnd folgten, erstarrte bei Rileys Anblick.

Riley war das Schönste, was ich je zu Gesicht bekommen hatte. Nicht mehr in flüssiges Feuer getaucht wie am Pool, sondern in Eis, das das Mondlicht über ihren Körper schüttete und die Tränen auf ihren Wangen in silbrige Perlen verwandelte. Ihre Augen spiegelten den ganzen Schmerz ihrer jugendlichen Seele.

Langsam ging ich zwei Schritte auf sie zu. Dann noch zwei. Eine Strähne ihres langen braunen Haares wehte ihr ins Gesicht. Mit Grauen beobachtete ich, wie sie ihre Augen von mir abwandte und dann ruckartig eine Hand vom Geländer löste. Erleichterung durchflutete mich, als ich beobachtete, wie sie lediglich ihre Haare aus dem Gesicht strich die Hand danach in den Schoß legte.

„Riley", flüsterte ich überfordert von der ganzen Situation. Ich hielt die Luft an, als sie mich wieder anblickte und versuchte so meine Anspannung unter Kontrolle zu bekommen. Ihr verletzter Blick brannte auf meiner Haut und meine Schuldgefühle versengten mich von innen.

„Mach keinen Scheiß. Bitte!", flehte ich leise und näherte mich weitere zwei Schritte.

„Geh weg", schluchzte sie verzweifelt und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

„Komm da runter, Riley", bat ich sie sanft und nahm mit Entsetzen zur Kenntnis, wie sie den Kopf schüttelte. Ihr Körper schwankte auf der schmalen Brüstung wie ein Blatt im Wind.

„Du sollst weggehen!", jammerte sie weiter und funkelte mich an.

„Du willst das doch gar nicht", widersprach ich und angestrengt runzelte Riley die Stirn. Auch ich überlegte, was ich eigentlich meinte. Dass sie nicht fallen wollte oder nicht wollte, dass ich ging? Noch zwei Schritte.

„Geh weg", wiederholte sie. Ihre Stimme kippte und sie wischte mit dem Handrücken über ihr Gesicht. Wenn sie doch nur stillsitzen würde! Zwei weitere Schritte zu ihr. Ihre Unterlippe zitterte leicht und lenkte meinen Blick auf ihren Mund. Ihre Lippen waren leicht rosa mit einem frostig-silbrigen Mondschimmer und sahen weich aus wie Rosenblätter. Sie wären definitiv einen weiteren Kuss wert. Nur den Hauch einer sanften Berührung. Aber wer würde mich aufhalten, verhindern, dass ich mir von diesem wunderbaren Wesen mehr nahm, als gut für uns beide war?

Ihre Augen blickten anklagend zu mir hoch, aber ich ignorierte ihren Wunsch, ging nicht, sondern schlang meinen Arm um ihren Körper.

Ich pflückte die kleine Mondblume von der Brüstung, setzte mich überwältigt von der Erleichterung, dass sie in Sicherheit war, auf den kühlen Steinboden des Balkons und zog sie auf meinen Schoß. Riley verströmte einen feinen Hauch von Chlor und den Duft von Sonnenschein. Und ihre Schultern bebten, während sie schluchzend auf meinem Schoß saß.

„Hey", flüsterte ich leise und strich über ihre seidig schimmernden Haare. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Geschweige denn sagen könnte. Das Begehren, das ich verspürte, jetzt, wo ich sie in den Armen hielt, vernebelte jeden klaren Gedanken und ich wollte Riley einfach nur festhalten. Sie nie mehr loslassen.

So saßen wir einfach da, ich hielt ihren zarten Körper, bis sie schließlich einschlief. Vorsichtig stand ich mit ihr auf und trug sie zum Bett, auf dem Stacey saß und mich anklagend ansah. Sie schlug die Decke zurück, und ich wagte einen letzten Blick in das Gesicht der Schlafenden in meinem Arm. Auf ihren friedlichen Gesichtsausdruck und legte sie ins Bett.

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