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Ich tappte barfuß durchs Haus, stieß aber weder auf meine Mum noch auf Miles. Vielleicht waren die beiden zusammen einkaufen. Von irgendwas musste der Mensch schließlich leben und unser Kühlschrank zeichnete sich durch eine gewisse Leere aus.

Bewaffnet mit einem Löffel und einem großen Eimer Joghurt machte ich es mir auf der Terrasse bequem. Wo Dawson wohl gerade war? Ob er mir Fotos aus dem Nationalpark schicken würde? Ob er wirklich anrief? Unablässig kreisten meine Gedanken um ihn. Merkwürdig. Eine Weile hatte ich mir selbst geglaubt, über ihn hinweg zu sein. Doch meine Grandma hatte recht mit ihrer Bemerkung. Dawson war immer das Maß gewesen, mit dem ich jeden Jungen, den ich kennenlernte, beurteilte. Es hatte immer nur ihn gegeben.

Mit einem leichten Frühstück im Bauch sprang ich in Shorts und ein ärmelloses Top. Brustgurt und Pulsuhr rundeten mein Outfit ab, bevor ich in die Laufschuhe stieg. Trimm-Dich-Pfad, ich komme!

In der Mittagshitze war Sport keine angenehme Beschäftigung. Dennoch zog ich mein Training knallhart bis zur letzten Wiederholung durch. Nur noch vier Wochen bis zu den ersten Wettkämpfen des neuen Schuljahres. Noch drei Jahre bis Olympia. Ich grinste in mich hinein. Das wäre der absolute Wahnsinn, aber momentan nicht realistisch. Trotzdem musste man ein Ziel haben, auf das es sich lohnte hinzuarbeiten und die USA bei einem internationalen Wettkampf zu vertreten, war wie ein Traum, in dem Einhörner Zuckerwatte pupsten: einfach Wahnsinn.

Mit feuerroten Wangen kam ich zurück und erntete einen tadelnden Blick meiner Mum. „Übertreib nicht immer, Riley!", ermahnte sie mich kopfschüttelnd. Das von einer Frau zu hören, deren Sportprogramm daraus bestand, die Kellertreppe zum Waschkeller hinunter zu laufen, grenzte an Comedy. Kommentarlos rannte ich, -ja aus Protest rannte ich!- die Treppe hoch zum Bad.

Enthaaren. Haarkur. Lotion. Gesichtsmaske. Ich hatte heute einiges vor. Lächelnd blickte ich in den Spiegel und auf das Herz um meinen Hals, dann schlüpfte ich aus dem Top und meinem unnötigen Sport-BH. Die beiden Knutschflecke stachen noch immer deutlich hervor. Zähneknirschend machte ich mir klar, das dies zu den Sachen gehörte, die wir nach Grannys Ansicht vermeiden sollten. Normalerweise kam niemand herein, wenn ich im Bad war. Heute verriegelte ich vorsorglich die Tür, als ich unter die Dusche stieg.

Unaufhaltsam rückten die Zeiger auf der Uhr voran, während ich an meinem Schreibtisch saß und mein heutiges Training und das eher sparsame Workout in der Pension dokumentierte und nebenbei meinen Lieblingssong von Shawn Mendez in der Endlosschleife hörte.

Ein analoges Trainingstagebuch war altmodisch. Coach Henderson verlangte von allen Teammitgliedern seit drei Jahren bereits ein digitales. Jeder aus dem Schwimmteam hatte einen Trainingscomputer und der Coach konnte unsere Trainingseinheiten auf einer Plattform einsehen, wann immer er Lust hatte.

Mein Tagebuch führte aber zurück bis in die Zeit der Vorschule. Damals hatte ich im Verein angefangen Schwimmen zu lernen und nach ein paar Wochen kritzelte ich die Zeiten, die ich für die Bahnen benötige, in ein kleines Notizbuch.

Je älter ich wurde, und je besser, desto ausführlicher wurden meine Notizen. Und weil ich so viel Freude daran hatte, schenkte meine Mum mir zu meinem zehnten Geburtstag mein erstes Moleskin-Notizbuch. Parallel zum Schwimmen entwickelte ich nach und nach meine eigene Art der Selbstreflexion. Ich notierte, was ich aß, was mir guttat und was nicht.

Ich schrieb nieder, was mich motivierte. Was mich bremste. Mehr und mehr bemühte ich mich, um eine saubere Schrift, wenn ich aufschrieb, wieviel ich getrunken hatte oder mein Gewicht in die Monatsübersicht einzeichnete.

So entstand mein zweites Hobby. Das Handlettering. Und inzwischen war aus dem Trainingstagebuch eine Art sportliches Bulletjournal geworden.

Gegen sieben packte mich der Hunger. Der böse, der von der Sorte, der meine Knie zittern und meine Hände flattern ließ.

Mum war zum Essen auswärts mit Freunden. Miles hatte ich den ganzen Tag noch nicht gesehen.

„Hunger. Wo steckst du?", textete ich an meinen Bruder.

„Heimweg vom See. Mehr Hunger. Chinesisch? Rind mit Zwiebeln?"

„Biiittee, jaaaaaa!" schrieb ich zurück.

Nachdem das geklärt war, schloss ich das Popup Fenster. Keine Nachricht von Dawson. Den ganzen Tag noch nicht. Ich ging in die Ansicht der Chats. Mal sehen, ob er genauso ein Blindgänger war, wie Justin, der ständig online war, aber nicht schrieb oder anrief.

Ich scrollte durch die Liste bis zum D für Dawson und mal wieder entlockte mir sein Profilbild, pure Bewunderung. Wie konnte er so unfassbar süß sein? Wie konnten Augen so strahlen? Er hatte seit bestimmt sechs Monaten dasselbe Bild, bei dem er, die Arme vor der Brust gekreuzt, lässig an einem Gartenzaun lehnte. Neben dem Bild in dieser kleinen Statuszeile hatte sich allerdings etwas verändert. Dort war nun ein Herz zu sehen und dahinter die halb ausgepackte Schokolade. Eine Botschaft an mich? Es sah beinahe so aus und ich strahlte über das ganze Gesicht, als ich den Kontakt öffnete. Wenn möglich vertiefte sich mein Lächeln noch mal. Dawson war zum letzten Mal heute am frühen Morgen online gewesen. 7:12 stand dort. Vor über zwölf Stunden.

„Was gibt es zu Grinsen, Riley?", erkundigte sich Miles. Er brachte den Duft von frischem heißem Essen mit und ich schloss den Chat mit Dawson.

„Ich freu mich auf Essen, Miles?"

„Oh und ich dachte, mich zu sehen." Er mimte Enttäuschung und hielt mir dann die Tüte mit dem Essen hin. „Dreiundsiebzig ist deins. Den Reis hab ich wie üblich gleich drunter mischen lassen."

Er war der Beste. Er wusste, wie ich es liebte, wenn der Reis die Soße aufsog.

„Und, wie lief es so mit Stacey?", fragte ich neugierig, nachdem Miles sich neben mir auf dem Bett platziert hatte.

„Gut", grinste er. „Sehr gut sogar." Er stopfte sich eine Gabel mit Essen in den Mund.

„Was ist mit dir und Dawson?"

Ich verschluckte mich und begann zu husten. Dann zuckte ich mit den Achseln.

„Nichts. Was soll sein?"

Miles verdrehte die Augen. „Ich bin nicht blöd, Riley", antwortete er lediglich und das hinterließ ein ungutes Gefühl bei mir. War ich, waren wir, so leicht durchschaubar?

Stumm stopfte ich das Essen in mich hinein und langsam fiel meine Anspannung von mir ab. Ich hatte definitiv zu lange nicht gegessen. Mir fehlten Kalorien. In Rekordgeschwindigkeit leerte ich meinen Take-away-Karton. Miles beendete seine Mahlzeit nur kurz nach mir.

„Netflix?", fragte er und ich nickte.

„Ja, vielleicht schaffen wir es noch durch die Serie, bevor du weg bist, wenn wir heute Abend zwei oder drei Folgen anschauen", schlug ich vor. „Ich hol Chips und Cola?"

Miles grinste, dann umarmte er mich. „Ich hab dich lieb, Schwesterherz!"

„Echt? Einfach so? Ohne Anlass?", stichelte ich.

„Bitte!", bettelte er.

„Kleiderschrank, oberstes Fach. Hinten links", stöhnte ich und verriet damit meinen Geheimvorrat, bevor ich in die Küche runter trabte und unseren Müll aufräumte.

Als ich ins Zimmer zurückkam, grinste mir mein Bruder, eine Flasche Jack Daniels auf dem Schoß, zufrieden entgegen.

„Weißt du, was merkwürdig ist, Riley?"

Abwartend sah ich ihn an. „Nein?"

Er reichte mir mein Handy. Die Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. „Dawson hat gerade versucht dich zu erreichen. Warum nur?"

Mein Herz begann hektisch zu klopfen und es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, das Telefon unbeteiligt neben mir auf das Bett zu legen.

„Willst du ihn denn gar nicht zurückrufen?", erkundigte sich Miles hinterhältig grienend.

„Natürlich ruf ich zurück. Aber jedes Ding hat seine Zeit, Miles", antwortete ich, während ich versuchte eine funktionierende Strategie zu entwickeln.

„Jetzt ist erstmal unser bester Freund Jack dran." Ich öffnete meine Cola, trank wie immer einige Schlucke und füllte dann den Whiskey in die Flasche. Miles tat es mir gleich.

„Auf unseren Abend!" Ich hob die Flasche und stieß mit ihm an. Dann trank ich die halbe Flasche auf Ex. Sofort spürte ich die entspannende Wärme des Alkohols im Magen.

Ich schnappte mir das Telefon und ging zum Fenster. Während ich wartete, dass Dawson den Anruf beantwortete, beobachtete ich meine Spiegelung in der Scheibe, konnte aber über meine Schulter hinweg auch den besorgten Blick meines Bruders sehen, der auf mir ruhte.

„Hey, Dawson. Miles sagt, du hast versucht mich zu erreichen. Gibt es was Besonderes?", begrüßte ich ihn und gab ihm damit den Hinweis, dass Miles seinen Anruf bemerkt hatte. Einen Moment war es still in der Leitung, bevor Dawson, ein Lächeln in der Stimme, antwortete.

„Ja, tatsächlich gibt es etwas Besonderes. Ich träume heute schon den ganzen Tag von Schokolade. Seltsam, oder?"

„Ja, wirklich, sehr merkwürdig. Vielleicht solltet ihr einen Supermarkt aufsuchen?", riet ich ihm ebenfalls lächelnd.

„Die Schokolade, von der ich träume, die gibt es da sicher nicht. Meine Sorte ist besonders süß, Riley."

„Dann musst du mit diesem Zustand wohl irgendwie klarkommen."

„Sieht so aus. War schön, wenigstens kurz deine Stimme zu hören. Ich ruf dich morgen wieder an, okay?" Seine Stimme klang bedauernd und ungewohnt zärtlich. Mein Gott, ich konnte mein Glück gerade gar nicht fassen. Am liebsten hätte ich mal wieder gequietscht vor Freude, weil ich mit Dawson telefonierte. Meinem Dawson.

„Ist gut. Bye!", beendete ich das Gespräch möglichst neutral und setzte mich dann wieder auf das Bett.

Miles Neugier schwebte greifbar durch die Luft, fragen wollte er mich sicher auch etwas, doch ich drückte einfach auf „play". Auf diese Weise würgte ich sehr effektiv jede Unterhaltung schon im Keim ab. Kurz vor Ende der dritten Folge stellte ich mich schlafend und Miles huschte, nachdem er den PC runtergefahren hatte, leise in sein Zimmer.

Kaum, dass Miles die Tür geschlossen hatte, griff ich nach meinem Handy und schaltete als erstes meinen Zeitstempel ab. Das hatte den Nachteil, dass ich nicht mehr sehen konnte, wer wann online war. Aber auch Miles konnte so nicht sehen, wann ich schrieb. Das war vielleicht paranoid, aber Schlafende chatteten nun mal nicht...

„Hey", schrieb ich an Dawson. „Tut mir leid, dass mein Bruder das mit dem Telefonat mitbekommen hat."

Kurz darauf bekam ich seine Antwort: „Mach dir keine Gedanken. Bei mir hört auch jeder alles mit. Vielleicht klappt es morgen besser. Vermisse Dich. Würde gerne mit dir gemeinsam einschlafen."

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